Krankenkassen verlieren an Einfluss

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Gesundheitspolitik
Wichtige Interessenvertreter von Pharma, Krankenkassen, Behindertenorganisationenund Spitälern sitzen nicht mehr im Parlament. Am meisten Macht haben aber Kantone und Ärzte.

Dominik Feusi


Die Krankenkassen haben von neun Vertretern im Parlament fünf verloren – dürften sich aber neue suchen. Foto: Peter Klaunzer (Keystone)

 

Der Wahltag hat tiefe Spuren inder Gesundheitslobby hinterlassen: Die Spitäler und die Behindertenorganisationen haben zahlreiche Vertreter im Nationalrat verloren. Sie bleiben aber zusammen mit den Ärzten und den Patientenorganisationen die stärksten Lobbygruppen in der Gesundheitspolitik. Die Vertretungen der Pharma und der Krankenkassen wurden am Wahltag sogar halbiert. Dies ergibt eine aktualisierte Auswertung einer Studie vom vergangenen Sommer über die Kräfteverhältnisse in der schweizerischen Gesundheitspolitik.

Die Studie analysierte die Interessenverbindungen aller Parlamentarier der letzten Legislatur. Die Lobbygruppe mit den meisten Vertretern vor den Wahlen waren die Behindertenorganisationen mit 19 Nationalräten,gefolgt von den Spitälern und den Patientenorganisationen,den Alters- und Pflegeheimen und den Ärzten. Die Pharma und die Krankenkassen waren mit je 9 Delegierten im Nationalrat ebenfalls gut vertreten. Ihre Stärke war gar grösser als ihre Zahl vermuten lässt, weil ihre Vertreter mehrheitlich in der Sozial-und Gesundheitskommission sitzen. Dort werden die gesundheitspolitischen Geschäfte vorbereitet. Die Krankenkassen waren mit 7 Vertretern unter 25 Kommissionsmitgliedern die stärkste Lobby, gefolgt von den Spitälern und der Pharma mit je 6 Nationalräten.

Pharma verliert Vertreter

Die Wahlen haben aber auch bei Pharma und Krankenkassen zu gewichtigen Abgängen geführt.Der Bündner SVP-Nationalrat Heinz Brand, Präsident des Krankenkassenverbandes Santésuisse, wurde abgewählt. Ob er ersetzt wird, ist derzeit unklar. Er sei bis zur nächsten Generalversammlung gewählt, sagt sein Verband.

Ebenso abgewählt wurde der Basler SVP-Nationalrat Sebastian Frehner. Er sass im Beirat des Krankenversicherers Groupe Mutuel und in der «Interessengemeinschaft biomedizinische Forschung und Innovation» der Pharmaindustrie.Der Zuger FDP-Nationalrat Bruno Pezzatti sass ebenfalls in diesen beiden Gremien und trat nicht mehr an.Ebenso nicht mehr zur Wahl stand die Basler SP-Gesundheitspolitikerin Silvia Schenker, die Mitglied des Verwaltungsrats des Universitätsspitals Basel ist.

Bei den jetzigen Verlusten an Interessenvertretern dürfte es allerdings nicht bleiben. Die Interessengruppen werden in den nächsten Monaten versuchen, die ausgeschiedenen oder abgewählten Personen zu ersetzen.

Die Studie hat zudem untersucht, wieso es Reformen in der Schweizer Gesundheitspolitik besonders schwer haben. Sie untersuchte dafür drei Reformvorhaben, die seit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes 1996 immer wieder eingebracht wurden: die Einführung der Vertragsfreiheit, die Reform des Risikoausgleichs und die einheitliche Finanzierung.Durchgeführt wurde sie vom Beratungsbüro Polynomics im Auftrag der Bonny-Stiftung für die Freiheit.

Kantone haben viel Einfluss

Aus den Beispielen der letzten 20 Jahre schliesst die Studie, dass den Kantonen eine besondere Machtstellung in der Gesundheitspolitik zukommt. Sie sind in der Lage, ein Reformprojekt schon sehr früh zum Scheitern zu bringen. Die zweite besonders einflussreiche Gruppe sind gemäss Studie die Ärzte – vor allem dann, wenn ihre Interessen mit jenen der Patienten übereinstimmen oder zumindest dieser Eindruck besteht. Wer also Reformen im Gesundheitswesen umsetzen will, muss Kantone und Ärzte auf seiner Seite haben oder zumindest davon überzeugen können, dass ihnen eine Reform nicht schadet.

Die Autoren fordern eine unabhängige Stelle, welche die Folgen von Reformvorhaben für die Betroffenen aufzeigt. National-und Ständerat haben einer solchen Behörde vor drei Jahren zugestimmt, doch bisher hat der Bundesrat dies nicht umgesetzt.

Die Autoren sehen zudem weitere Möglichkeiten, um Reformen politisch mehrheitsfähig zu machen: einerseits ein politisches Gegengeschäft für die am stärksten betroffene Interessengruppe, andererseits die teilweise Einführung einer Reform mittels auf ein Gebiet beschränkte Pilotprojekte oder einer Light-Version des Vorhabens.


Grafik: niz / Quelle: Ökonomie der schweizerischen Gesundheitspolitik, Polynomics, 2019

 

Vor allem Kriterienverschärfung senkte Rentenzahlen

(Schweizer Personalvorsorge / Vorsorge Aktuell)

Die Revisionen der Invalidenversicherung (IV), vor allem die vierte, fünfte und sechste Revision, haben laut einer Studie in mehrfacher Hinsicht zu paradoxen Entwicklungen geführt. Durchgeführt wurde die Längsschnittstudie durch den Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) «Lives ». Seit2005 ist die Zahl der IV-Renten um 20 Prozent zurückgegangen. Grund ist vor allem die Verschärfung der Anspruchskriterien. Der Zugang zu Massnahmen zur beruflichen Reintegration habe sich zwar verbessert, ihr Erfolg hält sich aber in Grenzen. Die Analyse ergab auch, dass der Anteil der aus psychologischen Gründen gewährten IV-Renten weiter steigt, wobei fast jeder zweite Antragssteller den Zuspruch erhält. Die durch die jüngsten Reformen vorgenommene Stärkung der Massnahmen zur beruflichen Rehabilitation hatte wenig Wirkung. (sda)

Die Zitrone ist ausgepresst

(Vorwärts / Die sozialistische Zeitung)

Marc Moser. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationairates (SGK-N)beharrt auf der Kürzung der IV-Kinderrente. Eltern mit einer hohen Arbeitsunfähigkeit werden doppelt bestraft Für inclusion Handicap sind diese Entscheide nicht zu verantworten.

Die SGK-N sprach sich erneut, trotz des gegenteiligen Antrags von CVP-Nationalrat Christian Lohr, für eine Kürzung der Kinderrente von 40 auf 30 Prozent der Hauptrente aus. Der Ständerat hatte sich noch einstimmig dagegen ausgesprochen,und das mit gutem Grund: Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hatte das Hauptargument der Kürzungs- Befürworter widerlegt.

Ein Bericht hat klar aufgezeigt, dass selbst eine Familie mit einem tiefen Erwerbseinkommen am Schluss des Monates mehr Geld zur Verfügung hat als eine Familie mit IV-Rente (inklusive Kinderrente)und Ergänzungsleistungen zusammen. Ein konkretes Beispiel: Ein im Aargau wohnhaftes Ehepaar mit einem 5-jährigen Kind,wobei beide Elternteile eine ganze IV-Rente erhalten, kommt mit Ergänzungsleistungen auf ein Einkommen von 66 000 Franken.

Arbeitet ein Elternteil zu 100 Prozent im Gartenbau und der andere zu 50 Prozent im Detailhandel, beläuft sich das Familieneinkommen durchschnittlich auf 78 780Franken.

Sparmassnahmen durchboxen

Die äusserst knappe Mehrheit der SGK-N aber blieb uneinsichtig und zeigte sich resistent gegen die neuen Fakten. Sie will um jeden Preis Sparmassnahmen in dreistelliger Millionenhöhe durchboxen.Leidtragende sind Kinder von IV-Eltern, die schon heute schlechtere Startchancen ins Leben haben und nachweislich stärker von Armut gefährdet sind.

Besonders heftig trifft diese Kürzung Mütter und Väter mit einer schweren Behinderung. Wer einen IV-Grad zwischen 60 und 69 Prozent aufweist, erhält mit dem bereits beschlossenen stufenlosen Rentensystem eine massiv tiefere Rente (anstatt der bisher ausgerichteten Dreiviertelrente entspricht die Rente neu dem IV-Grad). Durch die Kürzung der Kinderrente wird von der ohnehin schon tieferen Hauptrente nun auch noch ein tieferer Prozentsatz pro Kind zur Verfügung stehen.

Diese Doppelbestrafung wiegt schwer und ist sozial nicht zu verantworten.Kommt hinzu, dass es die Betroffenenmit einer hohen Arbeitsunfähigkeit sehr schwer auf dem Arbeitsmarkt haben und ihre Chancen gering sind, eine Stelle zu finden.

Am Rand der Gesellschaft

Sparmassnahmen wie jene bei der Kinderrente sind gar nicht nötig. Durch massive Zugangsbeschränkungen und Leistungsabbau in vorangegangen Reformen sowie einer Verschärfung der Praxis sind die Weichen zur Sanierung schon längst gestellt. Die Anzahl Renten und die Ausgaben sinken, während die Wohnbevölkerung und somit die Lohnbeiträge steigen.Seit 2013 hat die IV rund einen Drittel ihrer Schuld abgebaut und 2032 soll sie schuldenfrei sein. Nun ist die Zitrone ausgepresst: IV-Beziehende müssen bereits heute mit einem sehr eng geschnallten Gürtel leben.

Ein weiterer Leistungsabbau drängt sie finanziell und sozial (noch stärker) an den Rand der Gesellschaft. Immerhin hatdie SGK-N beschlossen, dass IV-Beziehendeab 55 Jahren weiterhin nach dem alten Rentensystem berentet werden. In der ersten Runde wollte der Nationalrat das stufenlose Rentensystem auf IV-Rentenbeziehende biszum 60. Altersjahr anwenden.

Entscheid muss korrigiert werden

Erfreulich sind die Entscheide de rKommission zur Verbesserung der Qualität der medizinischen Gutachten. Die Gutachten sind zentral, da dort die Höhe der Arbeitsfähigkeit eingeschätzt wird und sich die IV bei der Rentenprüfung darauf stützt. Für die Gutachter*innen können die Aufträge der IV sehr lukrativ sein, vor allem wenn sie sich häufen. Wie sich wieder holt gezeigt hat, sind deshalb einige dazu geneigt, im Sinne des Auftraggebers tendenziöse Gutachten zu verfassen und die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen zu hoch einzuschätzen. Nun sollen die Abklärungen aufgezeichnet werden. Dies schützt nicht nur die Versicherten, sondern auch professionell und seriös arbeitende Gutachterinnen und Gutachter.

Die IV-Weiterentwicklung kommt voraussichtlich im Dezember in den Nationalrat Inclusion Handicap wird sich dafür einsetzen, dass die neu gewählte grosse Kammer den unverantwortlichen Entscheid,die Kinderrente zu kürzen, korrigiert.

MARC MOSER IST KOMMUNIKATIONS-VERANTWORTLICHER VON INCLUSIONHANDICAP

Schwierige Voraussetzungen für barrierefreie Fern-und Reisebusanlagen

(Strasse und Verkehr)

Die Barrierefreiheit ist auch bei Fern- und Reisebusanlagen ein intensiv diskutiertes Thema.Doch mit deren Umsetzung steht die Schweiz noch am Anfang – obwohl der Fernbusverkehr grundsätzlich dem öffentlichen Verkehr gleichgesetzt ist und somit die Bestimmungen des Schweizer Behindertengleichstellungsgesetzes(BehiG) erfüllen müsste.

Eigentlich ist kaum eine Reise- oder Fernbusanlage in der Schweiz barrierefrei ausgerüstet. Deshalb müsse die Umsetzung der Barrierefreiheit von Reise- und Fernbusanlagen von allen beteiligten Akteuren vorangetrieben werden, forderten an der VSS-Fachtagung verschiedene Referenten. Das wird eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, zumal der Fernbusverkehr zum konzessionierten öffentlichen Verkehr zählt und deshalb hohe Anforderungen an die Umsetzung der Barrierefreiheit erfüllen muss. Deshalb muss bei der Anlagenplanung zwischen den Marktsegmenten Reisebus- und Fernbusverkehr unterschieden werden, da die rechtlichen Vorgaben unterschiedlich sind. Kommt hinzu, dass im Fernbusverkehr zur Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben des Bundesamts für Verkehr der Einsatz von Niederflurfahrzeugen erforderlich ist. Derzeit werden jedoch mehrheitlich Hochflurfahrzeuge mit Hublift eingesetzt. Zudem ist es aufgrund der örtlichen Platzverhältnisse oft sehr schwierig, jede Haltekante barrierefrei auszurüsten. Für Fahrzeuge mit Hebeplattformen ist beispielsweise eine freie Fläche von 3,4 Meter seitlich des Fahrzeugs erforderlich.

Der Leitfaden VSS 40304 empfiehlt für eine optimale Flexibilität für jede Halteposition sowohl die Voraussetzungen für den autonomen Einstieg in Niederflurfahrzeuge als auch die Manövrierfläche für die Nutzung eines Hublifts zu erfüllen.Ist dies nicht gewährleistet, muss die Anzahl an Haltepositionen für Niederflur- und für Hochflurfahrzeuge festgelegt und mit einem Betriebskonzept aufgezeigt werden, wie die einzelnen Haltepunkte genutzt werden sollen.

Im Reisbusverkehr kann zum heutigen Zeitpunkt davon aus-gegangen werden, dass auch längerfristig Hochflurfahrzeuge eingesetzt werden. Sind die für die Nutzung des Hublifts erforderlichen Manövrierflächen gegeben, werden die gesetzlichen Vorgaben damit erfüllt. Anlagen, welche vom Reise-und Fernbusverkehr gemeinsam genutzt werden, müssen die Anforderungen für den öffentlichen Verkehr erfüllen,soweit die Anlagenbereiche nicht für die beiden Marktse-mente getrennt sind.


Bus-Haltekante für den autonomen Einstieg in einen Niederflurbus. Einstieg per Hublift in einen Eindecker-Bus (Fotos: rbs.ch /bvb.netl.

 

NACHGEFRAGT
bei
Eva Schmidt
Leiterin Fachstelle fur hindernisfreie Architektur


Eva Schmidt

 

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation bezüglich Barrierefreiheit beim Reise- und Fernbusverkehr inder Schweiz?

Eva Schmidt: Fernbusangebote ermöglichen Menschen mit Behinderung,auch mit kleinem Budget zu reisen.Sie sind vor allem interessant, wenn sie Ziele verbinden, die mit de rBahn nur mit mehrmaligem Umsteigen erreichbar sind.Heute muss eine behinderte Person erst umständliche Abklärungen treffen, um eine Reise zu planen. Ein kurzfristiger und spontaner Reise-antritt wird mit der steigenden Anzahl an Niederflurbussen jedoch immer einfacher. Für die Teilnahme an Reisebusangeboten müssen sich in der Regel alle anmelden. Menschen mit Behinderung und ihre Mitreisenden brauchen jedoch bei jedem Zwischenhalt viel Geduld beim Ein- und Aussteigen aus den Hochflurfahrzeugen.

Fernbusse sind Teil des ÖV. Ist esrealistisch, dass diese hohen Anforde-rungen bezüglich Barrierefreiheiterfüllt werden?

Die Anforderungen sind nicht höher als für den Nahverkehr. Dort zeigen die Erfahrungen, dass ein barrierefreier Zugang an den meisten Orten umsetzbar ist, wenn hohe Haltekanten rechtzeitig in die Planung einbezogen werden.

„Der Leitfaden gibt wichtige Informationen, damit die Barrierefreiheit rechtzeitig in der Planung berücksichtigt wird“

Busse mit Niederflureinstieg haben zudem grosse Vorteile beim Fahrgastwechsel, Zeitgewinn, Zugänglichkeit für ältere Menschen und Familien und werden sich auch im Fernbusangebot durchsetzen.

An der Tagung wurde von zahlreichen Anlagenbetreibern darauf hingewiesen, dass es die Platzverhältnisse oft gar nicht erlauben, die Barrierefreiheit zu gewährleisten. Sind auch Kompromisse möglich?

Das Angebot an Haltekanten ist bei Terminals immer durch die verfügbare
Fläche begrenzt. Im Unterschied zu Busbahnhöfen des ÖV-Nahverkehr ist einzig die Nachfrage schwieriger zu steuern, da mehr Anbieter im Spiel sind. Es ist Aufgabe bei der Standortwahl, geeignete Flächen zu finden. Werden Kompromisse eingegangen,z.B. nicht alle Haltekanten für den autonomen Ein- und Ausstieg dimensioniert, reduziert dies die Flexibilität der Anlage,was die Zuweisung der Fahrzeuge an geeignete Kanten erschwert.

Sie haben als Mitglied der Begleitkommission die Erarbeitung des Leitfadens begleitet. Wurde die Barrierefreiheit in genügendem Masse berücksichtigt?

Der Leitfaden legt die Anforderungen an die Hindernisfreiheit detailliert dar und gibt wichtige und gute Informationen damit diese rechtzeitig in der Planung berücksichtigt werden. Schon bei der Auslegung der Flächen und Zufahrten muss die Barrierefreiheit der Anlagen einbezogen werden. (Interview: Rolf Leeb)

Angehörige sollen vermehrt unterstützt werden

(Pro-Infirmis)

Welcher Tag ist heute? Der 30. Oktober, Tag der betreuenden und pflegenden Angehörigen. An diesem Tag wird der Einsatz und die geleistete Arbeit für Familienmitglieder oder Freunde, die auf regelmässige Hilfe und Assistenz angewiesen sind, gewürdigt. Gleichzeitig weist Pro Infirmis darauf hin, dass auch die Langzeitpflege von erwachsenen Personen geregelt werden muss.

Die Betreuung von Menschen mit einer Behinderung ruht oft auf den Schultern von Personen, die daneben auch einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Daher ist es zentral, dass diese wertvolle ehrenamtliche Arbeit grössere Anerkennung findet.

Der Bundesrat hat einen Gesetzesentwurf erarbeitet, mit dem die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege verbessert werden soll. Laut Schätzungen begleiten rund 1,9 Millionen Menschen in der Schweiz täglich ein Kind oder einen Erwachsenen. Im Jahr 2016 entsprach dies 80 Millionen unbezahlten Arbeitsstunden.

Das neue Gesetz sieht folgende Massnahmen vor: Lohnfortzahlung bei kurzen Abwesenheiten für die Betreuung von nahestehenden Personen (Kinder und Erwachsene), Einführung eines bezahlten, maximal 14 Wochen dauernden Betreuungsurlaubs für Eltern von schwer kranken oder verunfallten Kindern, Ausbau der Betreuungsgutschriften für Assistenzaufgaben in der AHV und Anpassung der Hilflosenentschädigung.

Weitere Massnahmen müssen folgen

Am 23. September hat der Nationalrat die Gesetzesvorlage verabschiedet. Das ist ein wichtiger Schritt für die Anerkennung der betreuenden Angehörigen, dem aber weitere folgen müssen. Das verabschiedete Gesetz konzentriert sich nämlich auf die Eltern von Kindern mit einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung, doch bietet es immer noch keine Antwort für die langfristige Betreuung von Erwachsenen.

Als Nächstes werden die möglichen Massnahmen, um die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege zu verbessern, im Ständerat besprochen. Darum ist es wichtig, jetzt nicht zurückzulehnen, damit das Leben der betreuenden und pflegenden Angehörigen auch tatsächlich verbessert wird.

Veranstaltungen am Tag der betreuenden Angehörigen

Seit 2012 beteiligen sich immer mehr Kantone und Organisationen am 30. Oktober, Tag der betreuenden Angehörigen, mit Veranstaltungen und Aktionen rund um das Thema. Dieser Tag steht allen Interessierten offen und bietet eine wichtige Gelegenheit für Information und Erfahrungsaustausch.

Er ist auch eine symbolische Verschnaufpause, um die bemerkenswerte Leistung der betreuenden Angehörigen zu würdigen, von denen die Hälfte selber nie eine Pause hat. Pro Infirmis dankt ihnen zusammen mit anderen Partnerorganisation und wünscht, dass sich alle Dankesäusserungen in konkreten Hilfestellungen niederschlagen werden: bei den Dienstleistungsangeboten sowie auf politischer Ebene. Welcher Tag ist heute? Jeder Tag!

Kontaktperson

Benoît Rey, Bereichsleiter Dienstleistungen Romandie und Tessin
benoit.rey@proinfirmis.ch
058 775 30 88

Kampf für die richtige Prothese

(Luzerner Zeitung)

Amputierte beschweren sich, dass die IV ihnen oft dierichtige Prothese verwehrt. Ein Vorstoss soll Abhilfe schaffen.
Dominic Wirth

Die Amputation eines Körperteils ist ein Schicksalsschlag, der ein Leben prägt. Die Betroffenen sind dann auf Hilfe angewiesen, gerade auch vom Staat.Doch diese Hilfe verwehrten ihnen die Versicherungen immer wieder, kritisiert Promembro,der Interessenverband der Armund Beinprothesenträgerinnen in der Schweiz. «Behinderte, die auf eine Prothese angewiesen sind, werden vom Staat noch weiter behindert», sagt Ursula Hausherr, die im Vorstand von Promembro sitzt und deren Bein aufgrund einer Krebserkrankung oberhalb des Knies amputiert werden musste.

Die Kritik von Promembro ist vielfältig. Es geht um lange Wartezeiten, bis ein Hilfsmittel von den Invalidenversicherungen bewilligt ist. Um Papierkrieg und unnötige Schikanen.Letztlich erhielten viele Behinderte nicht jenes Hilfsmittel,das ihnen am meisten helfen würde. Grund dafür ist für den grünen Nationalrat Balthasar Glättli, Co-Präsident von Promembro, die Rechtslage: Heute werden nur Hilfsmittel übernommen, die «einfach, zweckmässig und wirtschaftlich» sind. Konkret führt das zu Fällen, in denen die modernsten Hilfsmittel verwehrt werden, wenn sie nicht notwendig sind,damit Betroffene ihre Erwerbstätigkeit fortführen können.

Arzt : «Beelendende»Kämpfe mit Versicherung

Glättli hat deshalb, wie auch Promembro-Co-Präsident Roger Golay, der mittlerweile abgewählte Genfer Nationalrat,eine Motion eingereicht, laut der künftig die Kosten für das «optimale» Hilfsmittel übernommen werden müssen. Das soll sicherstellen, dass Betroffene von den technologischen Entwicklungen im Prothesenbereich profitieren können -unabhängig davon, ob sie arbeitstätig sind oder nicht. Der Nationalrat hat dem Anliegen Glättlis bereits zugestimmt. Heute wird die Motion in der zuständigen Ständeratskommission geprüft.

Thomas Böni ist Orthopäde und Teamleiter der technischen Orthopädie an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Die Aufgabe des Arztes ist es, für Betroffene die ideale Prothese zu finden, auf denStumpf anzupassen und richtig einzustellen. Böni sagt, für betroffene Patienten sei es «von grösster Wichtigkeit», mit dem bestmöglichen Hilfsmittel ausgerüstet zu sein. «Betroffene können besser gehen, fühlen sich sicherer – und dadurch wird auch ihr Bewegungsapparat weniger belastet», sagt Prothesen-Spezialist Böni.

Die heutige Rechtslage kritisiert der Arzt. Er erlebt immer wieder, wie Patienten kämpfen müssen mit den Versicherungen. «Teilweise ist das beelendend», sagt Böni. Er schätzt,dass seine Patienten in einem von zehn Fällen nicht das bekommen, was er als Mediziner für richtig hielte. So werden beispielsweise elektronische Kniegelenke, die den Betroffenen eine bessere Trittsicherheit, einfacheres Treppensteigen und harmonischere Schrittbewegungen ermöglichen, nur in gewissen Fällen bezahlt. Die Kosten belaufen sich auf bis zu 50 000 Franken.

Böni hofft, dass die Motion von Glättli eine Diskussion darüber anstösst, welche Versorgung Behinderte erhalten.«Sollen Leute, die nicht arbeiten, auch nicht richtig gehenkönnen? Und damit das Risiko tragen, dass sie stürzen? Das müssen wir als Gesellschaft diskutieren», sagt Böni. Er weist auch darauf hin, dass Nachbarländer teilweise weit grosszügiger sind. Deutschland etwa bezahle Oberschenkelamputierten das Genium-Kniegelenk, das modernste Produkt auf dem Markt. In der Schweiz werde es nicht finanziert. «Ich habe wenig Verständnis, dass die reiche Schweiz so knausrig ist», sagt Böni.

Bundesrat fürchtet höhere Kosten

Auch Behindertenorganisationen sind der Meinung, dass sich etwas ändern muss. Daniel Schilliger arbeitet in der Rechtsberatung von Procap.Der Rechtsanwalt sagt, die Versicherungen seien heute zu stark auf das berufliche Umfeld fokussiert – und zu wenig darauf, was eine Prothese für die Lebensqualität insgesamt bedeute. Zudem erlebt Schilliger immer wieder, dass die Versicherungen sagen, es brauche nicht das modernste Hilfsmittel, das ältere Modell reiche auch. «Man gibt heute nicht,was am meisten bringt, sondern was ausreicht», sagt Schiliger.

Der Bundesrat spricht sich dagegen aus, dass künftig stattden drei Kriterien «einfach,zweckmässig und wirtschaftlich» nur «optimal» gelten soll.Es handle sich dabei um einen «zentralen Grundsatz» der Sozialversicherungen. Jede Änderung käme «einem Paradigmenwechsel»gleich.Bundesrat Alain Berset bezweifelte in der Debatte im Nationalrat, dass der Begriff «optimal» sinnvoll ist.Der Sozialdemokrat verwies zudem darauf, dass innovative Produkte durchaus bezahlt würden.

Ein Grund für die ablehnende Haltung des Bundes ist die Angst vor einer Kostenexplosion. Dies auch vor dem Hintergrund, dass der Hilfsmittel-Bereich längst nicht nur Prothesen umfasst und der Motionstext sich auf alle Hilfsmittel bezieht. Im Jahr 2018 beliefen sich die Kosten für die Abgabe von Hilfsmitteln auf 208 Millionen Franken. Davon entfielen nur 11,5 Millionen auf Prothesen.


Prothesen machen den Schritt zurück ins Leben möglich. Bild: obs

 

«Zurück zur Kleinklasse?»

(Neue Zürcher Zeitung)

Riccardo Bonfranchi prognostiziert in seinem Gastkommentar (NZZ 10.10.19), «dass die schulische Integration von behinderten Schülern vermutlich so nicht wird weitergeführt werden können». Er unterstellt, dass es nicht die Aufgabe der Regelschule sei, behinderte Kinder zu fördern. Da irrt sich der ehemalige Leiter einer heilpädagogischen Schule: Die Uno-Menschenrechtskonvention, die Unesco-Erklärung von Salamanca, aber auch alle kantonalen Gesetze betonen neben dem Recht auf eine angemessene Schulung und Bildung auch das Recht auf Gleichstellung und Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft. Integration in die Schule ist also keine Ideologie einer Bildungsdirektion, sondern schlicht ein (zugegeben: schwieriger)Auftrag.

Die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung besucht übrigens in den meisten Kantonen nach wie vor eine heilpädagogische Schule. Diese Möglichkeit bleibt auch in Zukunft bestehen. Eine integrierte Schulung wird nur nach sorgfältiger Prüfung aller Gelingensfaktoren geplant und durchgeführt. Berücksichtigt werden die Entwicklungsziele des Kindes, die Eignung des Settings, der Wunsch der Eltern sowie die Bereitschaft des Schulumfeldes.
Andrea Lanfranchi, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, Zürich

Kinderrente soll sinken-und den Namen verlieren

(Tages-Anzeiger)

Bürgerliche verlangen eineUmbenennung in «Zusatzrente für Eltern».
Fabian Renz

Um die Kinderrente in der Invalidenversicherung (IV) wird gleich auf mehreren Ebenen gestritten.Da geht es einmal um konkrete Beträge. Wer Geld von der IV er-hält und ein Kind grosszieht, hat heute Anspruch auf einen Zustupf in Höhe von 40 Prozent der Rente. Der Nationalrat will diesen Anteil nun auf 30 Prozent herunterkürzen. Bei einer vollen IV-Rente entspricht dies einem Rückgang von 948 auf 711 Franken. Den entsprechenden Entscheid traf der Nationalrat im März, der Ständerat lehnte die Kürzung später allerdings ab.Nun geht der Zwist in eine neue Runde: Die Sozial- und Gesundheitskommission (SGK) des Nationalrats hält am Sparkurs fest,wie sie diesen Freitag mitteilte.

Gestritten wird aber auch darüber, ob die Kinderrente weiterhin Kinderrente heissen soll. Die bürgerliche Mehrheit wünscht sich nämlich eine Umbenennung:«Zusatzrente für Eltern» soll der neue Name sein, wie es in der SGK-Mitteilung heisst. Hinter der vorgeblichen Formalie versteckt sich ein durchaus politischer Disput. Denn sollte irgendwann einmal das Volk über die Rentenkürzung entscheiden müssen, könnte der Name abstimmungstaktisch bedeutsam werden. «Kinder stossen in der Bevölkerung immer auf besonders viel Verständnis»,sagt Alex Fischer von der Behindertenorganisation Procap. «Die Vermutung liegt deshalb nahe,dass mit der Begriffsänderung der Boden für eine Kürzung dieser Renten gelegt werden soll.»

Weg mit Emotionen?
Die Basler SP-Nationalrätin Sil-via Schenker vermutet dasselbe.Sie führt die linke Minderheit inder SGK an, die sich gegen die Umbenennungwehrt.«Die Massnahme würde einen unglaublichen Aufwand verursachen», sagt Schenker. «Jede Pensionskasse müsste ihr Reglement ändern, jedes Merkblatt, jede Website zu diesem Thema müsste angepasst werden – ohne dass irgendein ausgewiesener Nutzen ersichtlich wäre.» Der Antrag werde ausgerechnet von jenen unterstützt, die sich sonst stets gegen Bürokratie wehrten, kritisiert Schenker. Sie sieht dafür nur ein plausibles Motiv: Die Bürgerlichen wollten die Kinder-rente «ent-emotionalisieren»,indem sie dieser einen technokratischen Namen verpassten.

Thomas de Courten, Baselbieter SVP-Nationalrat und SGK-Präsident, widerspricht dem Vorwurf. «Es geht nicht um Abstimmungstaktik,sondernm um begriffliche Kohärenz.» Der Titel Kinderrente sei irreführend: Es handle sich nicht um eine Rente für behinderte Kinder, sondern für IV-berechtigte Eltern. Überdies komme der Begriff Kinderrente auch in anderen Zusammenhängen vor, etwa im AHV-Gesetz. Die Umbenennung der IV-Kinderrenten mache daher auch Sinn, um ein begriffliches Durcheinander zu vermeiden.

Hoffen auf den Ständerat
Der Nationalrat hatte sich bereits im März für eine Namensänderung ausgesprochen: «Zulagen für Eltern» war damals der neue Vorschlag. Der Ständerat verwarf die Umtitulierung aber ebenso wie die Kürzung der Beträge. Da der Begriff «Zulage» aus verschiedenen Gründen als ungeeignet erachtet wird, rückt nun auch die nationalrätliche SGK davon ab. An einem neuen Namen hält die Kommission aber fest.Ob «Zusatzrente für Eltern» mehrheitsfähig ist, wird sich erst im neu gewählten Parlament zeigen. Bei Procap hofft man, dass zumindest der Ständerat auf Kurs bleibt und sowohl die Sparmassnahmen wie auch die Umbenennung verwirft. «Wenn der Nationalrat eine semantische Diskussion führen will, dann müsste man auch über Begriffe wie Invalidenversicherung und Invalidenrente diskutieren», sagt Procap-Mitarbeiter Fischer.

Regierung in Gebärdensprache

(Luzerner Zeitung)

Kanton Luzern
Beobachtern ist schon aufgefallen, dass der Regierungsrat seine Botschaften öfters auch in Videos überbringt. Neu werden auch Gebärdensprachvideos produziert,wie der Kanton kürzlich mitteilte. Die Massnahme ist Teil des Leitbildes «Leben mit Behinderungen», welches Anfang 2018 vom Regierungsrat verabschiedet worden ist und nun umgesetzt wird.

Das Leitbild zeigt auf, wiedas Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen im Kanton Luzern künftig verbessert werden soll. Es deckt die folgenden sieben Handlungsfelder ab: Bildung,Berufsbildung und Arbeit, Wohnen, Mobilität und persönliche Veränderung, Kommunikation,Gesundheit und Sexualität sowie Freizeit und Politik.

Wer sich für die konkrete Umsetzung in den Handlungsfeldern interessiert, kann sichauf www.lu.ch/leitbildbehinderung informieren. Und wer ein Gebärdensprachenvideo sehen will, findet auf www.lu.ch ein erstes Beispiel: Gesundheitsdirektor Guido Graf erklärt in einem Video das Leitbild. Das macht er zwar gestenreich, aber mit Unterstützung einer Expertin in Gebärdensprache. (avd)

Meilenstein für Krisengeschüttelte

(Thurgauer Zeitung)

Wie wertvoll der Austausch über Tiefpunkte im Lebenist, zeigt das Thurgauer Projekt «Peer-Begleitung»


Die Peer-Begleitung macht vielen Betroffenen bewusst, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleine sind Bild: Ralph Ribi

 

Judith Schuck
Sarah Nick war die erste Peer-Mitarbeiterin bei der Selbsthilfe Thurgau. Sie selbst litt unter einer Borderline-Störung und war drei Jahre in der Kerngruppe «Trialog Borderline Ostschweiz», bevor sie eine eigene Selbsthilfegruppe gründete. Dort erfuhr sie von der Peer-Ausbildung und trat mit der Selbsthilfe Thurgau in Kontakt. Die Ausbildung machte sievon 2014 bis 2015 bei Pro Mente Sana in Zürich. «Dank meiner Tätigkeit als Peer bin ich nurnoch halbe IV-Rentnerin, vorher waren es 100 Prozent.» Für Sarah Nick ist das ein unglaublich gutes Gefühl.

Seine Erfahrungen im Umgang mit Krisen zu teilen, ist der Grundgedanke der Peer-Begleitung. Vor vier Jahren startete die Selbsthilfe Thurgau dazu ein Projekt, das vom Erfolg geradezu überrannt wurde. Aus ursprünglichgeplanten150Arbeitsstunden wurden bis zumProjektende660.«Unser Peer-Bestand musste bald von 3auf 9 aufgestockt werden», sagt Ingeborg Baumgartner, Leiterin der Selbsthilfe Thurgau mit Sitz in Weinfelden. Es sei eine richtige Freude gewesen, so etwas auf die Beine zu stellen. «Alle waren begeistert, haben ihre Ideen eingebracht und das Projekt weiterentwickelt.»

Die Möglichkeit,gesund zu werden

Neben Selbsthilfegruppen mit Peer-Begleitung führt die Selbsthilfe Thurgau zusammen mit der Ambulanten Erwachsenenpsychiatrie in Münsterlingen Recovery-Seminare durch, die von Peers geleitet werden. Das sei ein Meilenstein in der Betreuung psychisch Erkrankter.Menschen, die eine seelische Erschütterung durchlebt haben und bisher als unheilbar galten,könnten jetzt sagen: «Ich gehe in den Gesundungsprozess», so Baumgartner; denn auch mit Einschränkungen könne man ein aktives und zufriedenes Leben führen. Wer den Recovery-Durchlauf absolviert, hat anschliessend die Möglichkeit, die von Betroffenen gegründete Selbsthilfegruppe Zältli zu besuchen, und so weiter an seiner Krisen- und Alltagstauglichkeit zu arbeiten. Menschen, die keine Hoffnung mehr hatten, würden so wieder in den Alltag integriert und entdeckten ihre Lebensqualität neu. «Viele finden wieder einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt», freut sich die psychologische Beraterin und Erwachsenbildnerin.

Dafür ist Sarah Nick ein gutes Beispiel. «Wir waren erst nur wenige Peers, bis die Institutionen begonnen haben, uns einzubinden.» Heute ist sie bei der Clienia AG Littenheid festangestellt.

Eine wichtige Erkenntnis sei,dass man sich nicht schuldig fühlen dürfe, wenn man am Arbeitsplatz nicht die volle Leistung bringen könne. «Auch mit eingeschränkten Ressourcen lässt sich viel bewirken», weiss Nick aus eigener Erfahrung.

Ein Wandel im Gesundheitssystem

Nicht nur Betroffene profitieren von diesem Angebot. Indem viele wieder im Arbeitsleben Fuss fassten, «ist es auch für das Sozialsystem ein Riesengewinn»,betont Baumgartner.

Seit Januar 2019 unterstützt der Kanton diese und andere Dienstleitungen der Selbsthilfe Thurgau mit neu 60 000 statt wie bisher 50 000 Franken pro Jahr. Die Peer-Begleitung kann dadurch als offizielle Dienstleistung der Selbsthilfe Thurgau angeboten werden. Begeistert ist Ingeborg Baumgartner zudem, wie stark sich Stiftungen mit finanzieller Unterstützung für das Projekt einsetzten: «Von anfänglich 30 000 Franken kamen wir am Schluss auf knapp 87000 Franken.» Für die Zukunft gibt es zahlreiche Ideen.In Chur arbeite schon ein Peer bei der IV, das wäre auch für den Thurgau denkbar. Auch Pro -Infirmis-Betroffene könnten von diesem Angebot profitieren.

Peers nur mit psychischen Erkrankungen in Verbindung zubringen, sei zu kurz gegriffen,findet Baumgartner. «Jede Frau,die an Brustkrebs erkrankte, ist ein Peer. Hier geht es generell um den Austausch von Erfahrungen», dafür sei bisher im Gesundheitswesen noch kein Platz gewesen. «Aber künftig wird da noch sehr viel kommen.»

«Wir lernen,selbst aktiv zuwerden und Verantwortungzu übernehmen.»


Sarah NickPeer-Pioneerin im Thurgau.