Die Sozialdetektive kommen

(Luzerner Zeitung)

Bald dürfen Versicherte wieder observiert werden.
Beim Bund sind die ersten Gesuche eingetroffen.

Tobias Bär
In der Schweiz sind demnächst wieder Sozialdetektive im Einsatz. Nachdem das Stimmvolk im vergangenen Jahr grünes Licht gegeben hat, dürfen mutmassliche Versicherungsbetrüger ab Anfang September überwacht werden. In der Vergangenheit hatten insbesondere die Invaliden- und die Unfallversicherung Observationen angeordnet – bis der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im Herbst 2016 die fehlende gesetzliche Grundlage monierte und das Parlament ein Gesetz ausarbeiten musste.

Die kantonalen IV-Stellen werden für die Durchführung von Observationen sowohl auf eigene Angestellte als auch auf externe Dienstleister zurückgreifen, wie der nationale Verband festhält. Es sei nicht zu erwarten, dass die IV-Stellen ihren Stellenetat in der Missbrauchsbekämpfung aufstockten, sagt Sprecherin Ursula Gasser. «Observationen machen lediglich einen kleinen Teil der Bekämpfung von Versicherungsmissbrauch aus.» 2016, als noch Detektive eingesetzt werden konnten, griffen die IV-Stellen bei jeder siebten abgeschlossenen Ermittlung auf dieses Mittel zurück. Der grösste Unfallversicherer, die Suva, setzte in 10 bis 15 Fällen pro Jahr Detektive auf Versicherte an. Gemäss einer Sprecherin wird die Suva einzig externe Spezialisten mit dieser Aufgabe betrauen.

Behindertenorganisation misstraut Bundesamt

Ob intern oder externall jene,die im Auftrag einer Sozialversicherung Überwachungen durchführen wollen, brauchen dafür eine Bewilligung des Bundes. Beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) sind bislang 18 Gesuche eingegangen. Für den Dachverband der Behindertenorganisationen, Inclusion Handicap, ist das BSV keine geeignete Bewilligungsbehörde. «Für die Erteilung einer Bewilligung zweifeln wir an dessen Unabhängigkeit»,sagt ein Sprecher. Der Verband hatte vergeblich gefordert, die Bewilligungen müssten von einer unabhängigen Instanz oder einem anderen Bundesamt ausgestellt werden.

Ausbildungslehrgang wird erst geplant

Eine Bewilligung gibt es nur,wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind: Unter anderem muss der Gesuchsteller nachweisen, dass er die Gesetzesbestimmungen kennt, die für Observationen relevant sind.Ausserdem werden Erfahrungen in der Personenüberwachung sowie eine polizeiliche oder «gleichwertige» Observationsausbildung vorausgesetzt.Derzeit gibt es in der Schweiz aber noch kein Ausbildungsangebot ausserhalb der Polizeischule. Der Bund erarbeitet nun deshalb in Zusammenarbeit mit den Versicherern einen Lehrgang. Gemäss dem Bundesamt für Sozialversicherungen soll der erste Kurs im ersten Halbjahr 2020 angeboten werden.

Anfänglich wollte der Bundesrat die Namen und Arbeitgeber der Detektive in einem öffentlich einsehbaren Register auflisten. Der Verband der IV-Stellen warnte, dass dadurch Sozialdetektive bei der Arbeit auffliegen könnten.Schliesslich strich die Landesregierung den Passus aus der Verordnung, welche die Details zur Überwachung regelt.

Selbst die einstigen Gegner sind zufrieden

Die Verordnung enthält auch Bestimmungen, wo Überwachungen zulässig sind und wonicht. Und diese Bestimmungen bewertet Inclusion Handicap positiv: «Es ist klar definiert, dass die Observierenden nicht in Wohnungen hinein spionieren dürfen.» Auf diesem Szenario hatte die Bürgerbewegung gegen die «Versicherungsspione» aber ihre Abstimmungskampagne aufgebaut.Mit dem neuen Gesetz könnten die Detektive «in unsere Wohnung fotografieren und selbst das Schlafzimmer filmen»,hiess es damals. In der Verordnung wird dies klar ausgeschlossen. Demnach ist das Innere eines Wohnhauses tabu.«Fassade und Fenster bilden die Schranken», schreibt der Bundesrat. «Diese Schranke bleibt auch bestehen, wenn dasFenster geöffnet ist.»

Ausserdem stellt der Bundesrat klar, dass der Einsatz von Drohnen untersagt ist.Die Basler SP-Nationalrätin Silvia Schenker, die an vorderster Front für ein Nein gekämpft hat,ist zufrieden: «Der Bundesrathat unsere Bedenken ernst genommen.» Die Sozialdetektive lassen die Wogen nicht mehr hochgehen.


Eine Privatdetektivin observiert in Zürich.Bild: Gaötan Bally/Keystone (Zürich, 28. Mai 2018)

 

EL-Bezüger müssen in teurere Wohnung ziehen

(Basler Zeitung)

Rentner erhalten mehr Geld, wenn sie alleine wohnen


Wenn 25 Prozent der EL-Bezüger aus einer Wohngemeinschaft in eine Einzelwohnung ziehen, entstehen bereits Mehrkosten. Foto: Keystone

 

Die Ergänzungsleistungen werden für Bezüger in Wohngemeinschaften massiv gekürzt. Für viele bleibt nur ein Ausweg: eine teurere Einzelwohnung.

Markus Brotschi

Lange hat das Parlament bei der Reform der Ergänzungsleistungen (EL) über die Erhöhung der Mietbeiträge für bedürftige Rentnerinnen und Rentner gestritten.Am Schluss setzte sich die Einsicht durch, dass die Mietzinsmaxima deutlich erhöht werden müssen. Denn Zehntausende von AHV- und IV-Rentnern können mit den geltenden Ansätzen ihre Wohnkosten nicht mehr decken.Jedoch dürfen sich nicht alle EL-Bezüger freuen, wenn die Reform 2021 in Kraft tritt. Wer nämlichin einer Wohngemeinschaft oder mit einem Konkubinatspartner zusammenlebt, wird künftig Ehepaaren gleichgestellt und damit deutlich weniger Wohngeld bekommen als bisher.

In manchen Fällen wird das Wohngeld so stark gekürzt, dass die Betroffenen aus der WG werden ausziehen müssen, so wie die IV-Rentnerin M.K. Sielebt in einer mittelgrossen Stadt am Zürichsee in einer 8er-Wohngemeinschaft und bezahlt monatlich 740 Franken Miete. Zurzeit deckt die EL die Wohnkosten, M.K. könnte sogar maximal 1100 Franken Miete in Rechnung stellen. Mit der EL-Revision er hält sie künftig nur noch 235 Franken. Denn die neuen Wohnbeiträge sind maximal auf einen 4-Personen-Haushalt ausgerichtet, und für einen solchen gibt es in mittelgrossen Städtenhöchstens 1875 Franken. Um den Anspruch von M.K. zu berechnen,wird dieser Betrag durch 8 geteilt, die Anzahl der Bewohner.

Umzug wäre einschneidend

Den Fehlbetrag von 500 Franken könne sie unmöglich ausgleichen, sagt M.K., die an starkem ADHS leidet. Deshalb sucht sie nun eine Einzelwohnung. Dafür werden ihr monatlich bei den ELmaximal 1325 Franken zustehen,über 1000 Franken mehr als in ihrer WG. Der Umzug in eine Einzelwohnung wäre für M.K. allerdings einschneidend. Die Wohngemeinschaft biete ihr ein familiäres Umfeld und Stabilität, sagt sie. «Wir tauschen uns aus, teilen und helfen einander – ganz praktisch wie auch emotional.»Dank dieser Unterstützung habe sie die Klinikaufenthalte minimieren können und benötige im Alltag keine Begleitung.

Betroffen von der Neuregelung sind auch Menschen wieB.G.* Der IV-Rentner mit Asperger- Syndrom lebt mit seiner Mutter in der Ostschweiz ineiner 4,5-Zimmer-Wohnung, die 1890 Franken im Monat kostet.Sowohl er wie seine Mutter, die AHV-Rentnerin ist, beziehen EL. Künftig werden sie zusammen noch 1575 Franken Mietbeitrag erhalten, den Maximalbetrag für einen Zweipersonenhaushalt in einer mittelgrossen Stadt. Damit fehlen ihnen gut 300 Franken.Der Umzug in eine kleinere Wohnung wäre schwierig, weil B.G.praktisch die ganze Zeit zu Hause verbringt. Er brauche neben seinem Schlafzimmer einen Raumfür sein Hobby Fotografieren, das ihm sehr viel bedeute.

Falls er und seine Mutter sich die Wohnung nicht mehr leisten könnten, müssten sich beide eine eigene Wohnung suchen, was fürdie EL teurer werden könnte: Der Mann geht davon aus, dass er an seinem Wohnort den Maximalbetrag von 1325 Franken ausschöpfen muss. Zudem rechneter damit, dass er in einem Einzelhaushalt aufgrund seiner Unterstützungsbedürftigkeit Anspruch auf eine mittlere Hilflosenentschädigung hat statt wie heute auf eine leichte.

Für ihn und seine Mutter wäre die räumliche Trennung auch ein grosser Verlust an familiärem Halt. Seine Mutter sei sein einziger sozialer Kontakt, sagt B.G.,der zusätzlich an mittelschwerer Depression leidet. Dank der Mutter sei sein Leben einigermassen erträglich. Lebten sie beide je in einer eigenen Wohnung, würden sie sich kaum mehr sehen. Die Mutter wäre zu Besuchen altersbedingt nicht mehr in der Lage,und er gehe kaum aus dem Haus.

Geständnis des Bundesrats

Bei der Behindertenorganisation Procap gehen wegen der EL-Reform laufend Anfragen von IV-Bezügern ein, die eine Verschlechterung ihrer Wohnsituation befürchten. Die Kürzung der Wohngelder für Wohngemeinschaften sei ein «Riesenthema»,sagt Procap-Sprecherin Sara Schmid.

Der Bundesrat rechnete aufgrund der Neuregelung mit Einsparungen bei den EL von 7 Millionen Franken im Jahr. Falls allerdings ein Teil der 14 000 EL-Bezüger, die in WG leben, in eine Einzelwohnung zieht, resultieren statt Einsparungen Mehrkosten. Dies räumt der Bundesratin der Antwort auf eine Interpellation von Nationalrätin Rosmarie Quadranti (BDP) ein. Quadranti traf die Annahme, dass 40 Prozent der WG-Bewohner in eine Einzelwohnung wechseln und 10 Prozent gezwungen sind,in ein Pflegeheim zu ziehen.Treffe dieses Szenario ein, entstünden bei den EL jährliche Mehrkosten von 50 Millionen Franken, schreibt der Bundesrat.Die Zahlen in der Antwort zeigen, dass die Änderung bereits zu Mehrkosten führt, wenn 25 Prozent aus der WG in eine Einzelwohnung ziehen.

Der Bundesrat räumt denn auch ein, dass die neuen Mietzinsmaxima für EL-Bezüger in grossen WG «tatsächlich sehr tief» seien. Um dies zu ändern,bräuchte es jedoch eine erneute Gesetzesänderung. Nur bei den ganz grossen WG könne er allenfalls noch in der Verordnung korrigierend eingreifen.Namen der Redaktion bekannt

Zivilstand wird irrelevant

Die EL-Reform wurde im März vom Parlament verabschiedet. Dabei werden die Mietbeiträge erhöht,etwa für Einzelpersonen von 1100 auf 1370 Franken in grossen Städten, auf 1325 Franken in mittelgrossen Städten und auf 1210 Franken auf dem Land. Weniger erhalten künftig Konkubinatspaare und Wohngemeinschaften. Begründet wird dies damit,dass heute Ehepaare gegenüber unverheirateten Paaren benachteiligt seien und dass WG-Partner unverhältnismässig teure Wohnungen mieten könnten, weil jede Person 1100 Franken erhalte.

Ehepaare bekommen heute maximal 1250 Franken für die Wohnung, ein Konkubinatspaar dagegen für jede Person maximal 1100 Franken, also insgesamt 2200 Franken. Neu wird nicht mehr der Zivilstand oder der Beziehungs grad berücksichtigt, sondern die Zahl der Personen in einem Haushalt. Heute können zwei IV- Bezüger zusammen eine Wohnung für maximal 2200 Franken mieten. Künftig erhalten sie inder Region 1 (grosse Städte)höchstens 1620 Franken, in der Region 2 (mittlere Städte) 1575 und auf dem Land 1460 Franken. (br)

Reservations-Ärger für Rollstuhlfahrer

(Schaffhauser Nachrichten)

Der Fall ist kurios. Vor Kurzem reisteUrs F. (Name der Redaktion bekannt) mit zwei gehbehinderten Begleiterin-nen von Zürich via Lausanne auf die Rochers de Naye. Die Fahrt began nmorgens um 7.32 Uhr im IC1. Da die Zugwagen um diese Zeit in der Regel stark belegt sind, hatte der Reiseleiter im Reisezentrum drei Plätze für je fünf Franken in der 1. Klasse reserviert. Dann die Überraschung. «Am Schalter teilte mir der Beamte mit:Platzreservationen sind nur im oberen Stock möglich, dies wegen dem Buchungsprogramm der SBB-Software», berichtet Urs F. in der «SEV-Zeitung», der Fachpublikation der Gewerkschaft des Verkehrspersonals, welche den Fall in ihrer jüngsten Nummer publik machte.

SBB räumen Fehler ein

Die reservierten Plätze im Oberdeck liessen sich nur mit viel Müheerreichen. Denn eine der Begleiterin-nen, 71-jährig,ist Hemiplegikerin,also einseitig am ganzen Körper gelähmt, und kann nur mit Stöcken gehen. Nur unter Schmerzen gelang es ihr, über die Treppe nach oben zu steigen, um im voll besetzten Zug auf die reservierten Plätze zu gelangen.Der Begleiter fragte sich: «Warum ist das SBB-Buchungsprogramm nicht imstande, Plätze im unteren Wagenteil zu reservieren? Alle reden vom Behindertengesetz, aber das ist daneben.» Die SBB räumten in einer Stellungnahme ein, einen Fehler begangen zu haben. Offenbar habe es ein Missverständnis bei der Reservation gegeben, denn Urs. F und seine Begleiterinnen hätten gar keine Plätzereservieren müssen. «Sie hätten einfach die reservierten Plätze für mobilitätseingeschränkte Personen nutzen können – diese gibt es in jedem Wagen im Unterdeck», teilt SBB-Sprecher Martin Meier auf Anfrage mit.Die entsprechenden Plätze seien mit einem Kleber markiert, der Reisende auffordert, die Plätze falls nötig freizugeben. Die SBB entschuldigten sich im Übrigen im konkreten Fall und erstatteten den Kunden die Reservationsgebühr.Gleichwohl ist der Fall nicht ausgestanden. Denn der Eisenbahner-Ver-band wirft in seiner Zeitschrift dieFrage auf, warum eigentlich im Unterdeck keine Reservationen möglich sind, wenn es gewünscht wird. Die Fragestellung ist berechtigt: Denn in einem voll besetzten Zug können die reservierten Plätze für mobilitätseingeschränkte Personen möglicherweise bereits besetzt sein. Und fraglich bleibt auch, ob ein Sitz wirklich freigegeben wird, wenn eine gehbehinderte Person,deren Handicap nicht sofort erkennbar ist, dies verlangt.

Die SBB begründen ihre Praxis wie folgt: «Platzreservationen sind tatsächlich nur im Oberdeck möglich, weil dort deutlich mehr Sitzplätze vorhanden sind. So ist sichergestellt,dass auch bei mehreren Reservatio-nen Sitzplätze für Reisende ohne Reservation frei bleiben.»

«Diese Praxis der SBB ist nicht haltbar», sagt Marc Moser, Mediensprecher des Verbandes Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz. Für Manuela Leemann, Co-Vizepräsidentinvon Pro Infirmis Schweiz, ist daskeine Neuigkeit. Sie hat schon mehrfach von Problemen bei der Reservation gehört. Es stört sie auch, dass Gehbehinderte für Platzreservationen stets den Schalter aufsuchen müssten, während andere Personen ihre Sitze online reservieren könn-ten. «Und dort muss man jedes Malhoffen, dass jemand arbeitet, der Erfahrung mit gehbehinderten Personen hat.» Ihr selber sei unlängst für eine Reise nach Paris ein nicht rollstuhlgängiger Platz reserviert worden. «Das war sehr ärgerlich», sagt sie. Sie empfindet es auch als «frustrierend», dass für andere Gruppenreisende oft ein zusätzlicher Wagen angehängt werde,für gehbehinderte Passagiere dies aber nicht denkbar sei. «Allgemein ist bekannt,dass die Barrierefreiheit bei den SBB nicht an oberster Stelle steht», sagt sie. Es treffe zwar zu, dass es für gehbehinderte Passagiere reservierte Plätze im Unterdeck gibt. «Allerdings ist es nicht immer einfach,jemanden aufzufordern, Platz zu machen. Manchmal sieht man ja die Behinderung nicht auf den ersten Blick», so Leemann, die für die Zuger CVP für den Nationalrat kandidiert.

Die SBB betonen, dass man mit einem zusätzlichen Fünfliber einen Sitzplatz reservieren kann. Eine Auswahl des Platzes über eine visualisierte Sitzplatzansicht im Wagen, wie sie bei ausländischen Bahnen oder bei einer Reservation im Flugzeug inzwischen gängig ist, ist aber nicht möglich. Bei Platzwünschen unterscheiden die SBB zwischen Fenster/Mitte/Gang und Einzelplatz (nur 1. Klasse)bei zwei Abteilarten (Mittelgang/Seitengang). Diese Auswahl hat ihren Ursprung in einem offenen Bahnsystem, wie es in der Schweiz üblichist -im Unterschied zu ausländischen Bahnen, wo die Reservation im Fernverkehr häufig obligatorisch ist.(Gerhard Lob und Roman Schenkel)

«Waren die Dinos grösser als der Himmel?»

(Schaffhauser Nachrichten)

In den Sommerferien stellt sich in vielen Familien die Frage nach der Kinderbetreuung. Der Ferienhort Schaffhausenversucht dieses Problem zu lösen und bietet Platz und Betreuung für jeden – egal ob mit oder ohne Beeinträchtigung.


Im Ferienhortrd gebastelt, gerätselt und mit Wasser gespielt. Die Kinder können dabei frei zwischen verschiedenen Angeboten von Betreuern auswähle

 

Text Marielle Heeb
Bilder Michael KesslerSCHAFFHAUSEN.

«Piu-peng-peng-peng!»,tönt es durch die Zimmer im Kinderhort Grubenstrasse. Ein Blick durch die Tür versprüht Wohnzimmer-Atmosphäre: Auf dem grünen Boden liegen Kreisel, Plüschtiere und eine Holzeisenbahn, auf dem Sofa liegen Sebastian und Jeremy. «Achtung, alle in Deckung!», ruft Sebastian übermütig. Ein Lego-Geschoss aus einerkleinen Steinschleuder fliegt durch dieLuft und landet genau am langen Hals des Tyrannosaurus Rex – seinem Lieblings-dino. «Du bist jetzt tot», ruft Jeremy. Dinosaurier seien sowieso schon ausgestorben,kontert Sebastian frech und blickt dann nachdenklich im Zimmer umher. Wie gross die Dinos wohl gewesen seien? Wohl noch grösser als der Himmel, sagt er mit glänzenden Augen. Dann widmet er sich wieder seinem Gegner – dem Plastik-Haifisch.

Während andere Kinder ihre Sommerferien im Tessin, in Frankreich oder in der Türkei verbringen, sind Sebastian und sein Bruder Florian, Jeremy und 21 weitere Kinder hier im Ferienhort. Dieser gehört zuden Schaffhauser Sonderschulen und wird während des Schul jahres auch nur von deren Schülern genutzt. In den Sommerferien aber ist er seit vier Jahren für alle Kinder zwischen 6 und 12 Jahren geöffnet. Der Kontakt von Schulkindern mit und ohne Beeinträchtigung steht dabei im Zentrum des Angebots.

Betreuungsproblem in den Ferien

Doch warum braucht es einen solchen Ferien hort überhaupt? «Vor diesem Angebotgab es in Schaffhausen ein Ferienproblem für Kinder mit Beeinträchtigung», sagt Jürg Sauter. Er ist Projektverantwortlicher des Schaffhauser Sonderschulrats – die Schaffhauser Sonderschulen bilden neben Pro Infirmis und Insieme den dritten Träger desProjekts. Für alle anderen Kinder gebe es tolle Angebote, wie zum Beispiel der Schaffhauser Ferienpass. Schüler mit Beeinträchtigung aber verbringen ihre Ferien oft 24 Stunden am Tag zu Hause: Eine Belastung für Kind und Eltern, die während der Schulferien vielleicht sogar arbeiten müssen.

Auch Gabriella Vestner, eine der Co-Leiterinnen des Ferienhorts, ist überzeugt,dass ein Bedarf an Betreuungsmöglichkeiten vorhanden ist. Besonders wichtig sei ihr dabei die Idee der Inklusion von Kindern mit Beeinträchtigung. «Wir wollenhier Schwellen und Angst abbauen», sagt sie. Langsam, jetzt nach vier Tagen, würden die Kinder auftauen, miteinander das Gespräch suchen. Fragen wie: «Warum spricht er eigentlich nicht?» oder «Warum schreit sie?» würden halt einfach dazugehören.

Optimale Betreuung dank Ferienjobs

Sobald alle Kinder da sind, geht es an die frische Luft. «Kennt ihr ein gutes Lied?»,ruft Vestner. Von alleine stimmt die Gruppe ein Lied über die Welle «La Ola» an. Dazu machen alle passende Wellenbewegungen.

Dann ist es so weit: Die Kinder dürfen auswählen, was sie heute Morgen machen möchten. Zur Auswahl stehen zwei Angebote – eine selbst gebastelte Seerose auf dem Wasser schwimmen lassen oder eine Dankeskarte gestalten. Für kurze Zeit wird es lauter – schliesslich will jeder zur besten Gruppe gehören -, doch dann vertiefen sie sich in ihre Arbeit.

Dank zehn engagierten Betreuern, die für dieses Angebot teilweise ihre Ferien einsetzen, erhalten die Kinder an diesem Halbtag eine optimale Betreuung. Einigeder Leiter sind normalerweise an den Sonderschulen tätig, für andere ist es ein Ferienjob oder Praktikum.

«Wir wollen hier Schwellen und Angst abbauen.»
Gabriella Vestner
Co-Leiterin des Ferienhorts

So auch für Morgane Küng, die an der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen studiert. Dieser Semesterferien-Job sei eine willkommene Abwechslung: «Für mich ist es extrem spannend, neben der Volksschule mal etwas anderes zu sehen»,sagt sie. Natürlich müsse man bei Vorbereitungen anderes beachten. Hat jeder alles dabei? Sind wir genügend Betreuungspersonen? Wer braucht welche Medikamente? Das Arbeiten mit beeinträchtigten Kindern brauche Geduld, gebe einem aber noch viel mehr zurück.

Der Drittklässler Quinn sitzt mit grossen Augen neben Küng und hört aufmerksamzu. Für ihn ist es der erste und letzte Tag im Ferienhort. Er musste heute früh aufstehen, erzählt er, fast so früh wie wenn er einen Ausflug in den Europa-Park mache.«Meine Mama hat gesagt, ich würde hier jemanden kennen – jemanden mit Krüselihaaren», sagter nachdenklich.Doch ein Tag sei halt kurz, um alle Kinderkennenzulernen. Dann nimmt er seinen grossen Stein, der neben ihm liegt, wieder in die Hand und beginnt, in den Kiesplatz eine Mulde zu hauen. Er grabe hier eineMine, erklärt er. Schnell wird er aber unterbrochen, denn nun ist im Ferienhort Znünizeit.


Ist gerne hier, wäre aber noch lieber in der Badi: Zweitklässlerin Sofia.

 


Dion verbringt den Morgen am liebsten draussen – gemeinsam mit Denise.

 


Leiterin Gabriella Vestner bastelt mit Jamay eine Seerose.

 

Klage abgewiesen

(Walliser Bote)

STRASSBURG/GENF

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist auf die Beschwerde eines Paraplegikers aus Genf nicht eingetreten. Das Gericht bleibt bei seiner bisherigen Praxis bei der Beurteilung von Diskriminierung und stützt somit den Entscheid des Bundesgerichts in Lausanne. Der Paraplegiker war bis an den EGMR gelangt, weil ihm 2008 ein nicht rollstuhlgängiges Genfer Kino aus Sicherheitsgründen den Zugang verwehrt hatte. Alle Schweizer Instanzen hatten die Diskriminierungsklage abgewiesen.Der Mann hatte sich beim inländischen Verfahren auf Artikel 6 des Behindertengleichstellungsgesetzes berufen. Dieser besagt, Behinderte dürften aufgrund ihrer Behinderung nicht diskriminiert werden. Der EGMR hat in einem am Donnerstag veröffentlichten Urteil festgehalten, aus dem vom Genfer angerufenen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechts-konvention (EMRK), der ein Recht auf Privatleben vorsehe, könne nicht das Recht auf Zugang zu einem Kino abgeleitet werden.sda

Behinderte haben nicht immer ungehinderten Zugang zu Festivals

(derbund.ch)

Menschen mit Behinderung können nicht überall ungehindert von der Festivalsaison profitieren. Alsbehindertengerechtes Paradebeispiel gilt das Gurtenfestival.


Die Rollstuhlbühe am Gurtenfestival.(Bild: sie)

 

Der Festival- und Open-Air-Sommer ist in vollem Gang. Doch Menschen mit Behinderung können nicht überall ungehindert davon profitieren. Als behindertengerechte Paradebeispiele gelten das Gurtenfestival in Bern und das Paléo in Nyon VD.

Eigentlich wäre der Gesetzesartikel klar: Menschen mit Behinderungen sollen selbstbestimmt und ohne gesellschaftliche Barrieren an allen Lebensbereichen teilnehmen können. Daran halten müssen sich auch private Anbieter von öffentlichen Dienstleistungen wie Festivals oder Open-Air-Konzerte mit ihren provisorischen Anlagen.

Doch am vergangenen Wochenende sorgten in der Westschweiz Bilder von rund 15 Menschen im Rollstuhl vor dem Eingang des Sittener Festivals «Sous les étoiles» für Aufregung. Ihnen wurde der Eintritt trotz gültigem Ticket verwehrt, weil sie keinen Platz auf der Spezial-Tribüne reserviert hatten. Der Veranstalter rechtfertigte das Eintrittsverbot mit Sicherheitsaspekten. Denn im Fall einer Massenpanik könnten die Rollstühle nicht nur für die Behinderten, sondern auch für die anderen Besucherinnen und Besucher gefährlich werden.

Rechtlich schwach geschützt Diese Argumentation habe sie schon oft gehört, sagt Claire-Valérie Ginier von der Fachstelle Hindernisfreie Architektur. Doch rechtlich sei sie nicht begründet. Stattdessen müssten sich die Organisatoren ausdenken, wie sie das Gelände gestalteten, damit Behinderte nicht diskriminiert würden. Beim Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap ging deswegen schon «die ein oder andere Klage» ein, wie Mediensprecher Marc Moser bestätigte. Das Problem sei, dass das Bundesgericht eine sehr enge Interpretation von Diskriminierung anwende und eine böse Absicht zur Bedingung mache. Es stütze deshalb auch die Argumentation aus Sitten mit den Sicherheitsbedenken. Grundsätzlich seien Behinderte in diesen Fällen rechtlich schwach geschützt. Die Betroffenen könnten zwar vor Gericht ziehen. Aber sogar wenn eine Diskriminierung festgestellt werde, gebe es keine Pflicht zum Handeln, sondern lediglich eine Busse.

Gurten und Paléo als Vorbilder Deshalb setzen sich die Behindertenorganisationen seit einigen Jahren für eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Veranstaltern ein. Als «Paradebeispiele» werden immer wieder das Paléo- und das Gurtenfestival bezeichnet. Auf dem Gurten zum Beispiel kümmert sich die Stiftung Cerebral um die Infrastruktur für Menschen mit einer Gehbehinderung. Auf dem Gelände wurden unter anderem zwei rollstuhlgängige Badezimmer mit Duschen aufgebaut, teilte Cerebral auf Anfrage mit. Zwei Rollstuhltribünen erleichtern die Sicht auf die Konzerte. Menschen mit Behinderung können diese aber auch von anderen Standorten verfolgen, sofern es das hügelige Gelände erlaubt. Um die Fortbewegung zu erleichtern, werden vier geländegängige Rollstühle zur Verfügung gestellt; Und eine private Firma bietet während des Festivals die Betreuung der Behinderten an. Auch der Zugang mit der Gurtenbahn sei gewährleistet. Ausserdem fliessen indiesem Jahr Spenden aus den Becher- und Geschirrdepots an die Beschaffung eines geländegängigen Rollstuhls.Neben dem Gurten begleitet Cerebral das Festival in Frauenfeld, das Summerdays-Festival in Arbon TG, das Seaside in Spiez BE oder die Winterthurer Musikfestwochen.

Ein Label für behindertengerechte Anlässe Auch das Paléo-Festival in Nyon VD sorgt sich vorbildhaft um Menschenmit Behinderung. Es stellt ihnen zum einen Plattformen vor den Bühnen zur Verfügung. «Sie können sie benutzen,müssen das aber nicht», sagt Festivalsprecherin Michèle Müller. Aber auch mit anderen Massnahmen erleichtert das Festival den Behinderten das Leben: So gibt es Parkplätze in der Nähe des Haupteinganges, zwei asphaltierte Wege durch das Gelände, behindertengerechte sanitäre Anlagen und eine Ruhezone. Wer eine behinderte Personans Festival begleitet, muss keinen Eintritt bezahlen. Pro Infirmis fördert mit dem Label «Kultur inklusiv» den hindernisfreien Zugang zu Kulturangeboten in der Schweiz. Als Festivals wurden bisher das Zürcher Theater Spektakel und die Thunersee spiele ausgezeichnet. Mit den Veranstaltern der grösseren Schweizer Festivals seienim Herbst Gespräche geplant.
Quelle: zec/sda

Erhöhung des Armut-Risikos bei Menschen mit Behinderung und die politische Welt schweigt

(Faire Face)

Je höher die Leistungsfähigkeit, desto besser ist man in der Schweiz vor Armut geschützt. Leider sind aus diesem und weiteren Gründen Menschen mit Behinderungen allzu oft Opfer von Armut. Silvia Schenker, Nationalrätin (BS) und Sozialarbeiterin bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Basel-Stadt berichtet.

Das Armut-Risiko ist bei Menschen mit Behinderungen doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung: 19,1 % gegen-über 11,4 % (Bundesamt für Statistik). Der Schattenbericht von Inclusion Handicap zeigt auf, wie die UNO Behindertenkon-vention in der Schweiz umgesetzt wird. In Bezug auf das Thema Armut sagt der Bericht: Es gibt verschiedene Ursachen für die hohe Armutsgefährdung bei Menschen mit Behinderungen.

1. Es gibt keine obligatorische Kran-kentaggeldversicherung. Es ist eine sozialpolitische Lücke, die sich kaum schliessen lässt. Die Krankentaggeld-versicherungen sind im Privatver- sicherungsbereich sehr unterschiedlich geregelt, weil sie für die Privatversiche-rungen schnell ein Risiko darstellen. Die Leistungen können verweigert werden.

2. Lange IV-Verfahren: Einige Verfahren dauern mehrere Jahre. Die Personen müssen auf dem tiefsten Existenzminimum (Sozialhilfeexis-tenzminimum) leben und sind im Verfahren auf Sozialhilfe angewiesen.

3. Begutachtung in diesem Verfahren: Die Gutachter sind nicht so un-abhängig wie sie sein sollten. Dies ist ein grosses Problem, weil damit ein Risiko besteht, dass die Gutachten eher dem Standpunkt der Ver-sicherungen entgegenkommen. Bis jetzt findet keine systematische Qualitätskontrolle der Gutachten statt.

4. Fehlende 2. Säule: Nicht einmal die Hälfte der Menschen, die eine IV beziehen, haben eine Pensionskassenrente. Die Hürden, um sich über-haupt in der beruflichen Vorsorge versichern lassen zu können, sind sehr hoch. Das trifft vor allem Menschen mit Leistungsbeeinträchti-gungen sehr.

5. Wenn man eine IV-Rente bezieht, gibt es das Problem von langen Bear-beitungszeiten nämlich bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen. Wenn nicht alle Fragen abschliessend geklärt sind, z.B. ob ein Anspruch auf Pensionskassenrente besteht, zahlt die IV nicht. Die Menschen können ihre Existenz mit der IV-Rente nicht sichern.

6. Schliesslich gibt es ein Problem, das vor allem Menschen in Heimen betrifft: die Höhe des Betrags bei persönlichen Auslagen. Wenn jemand Ergänzungsleistungen bezieht, gibt es einen kleinen Betrag für persönliche Auslagen, der wirklich für alles reichen muss. Dieser liegt zwischen 90 und 540 CHF pro Monat. Eine Erhöhung des Betrags bei der Revision ist leider nicht gelungen.

Was läuft in der Politik?

Es gab ein nationales Programm zur Prävention und Bekämpfung von Ar-mut, das bereits abgeschlossen ist: Wenn man den Bericht liest, dann fällt auf, dass Menschen mit Behinderung gar nicht vorkommen. Handlungs-felder werden definiert. Allerdings gibt es keinen Fokus auf Menschen mit Beeinträchtigungen, obwohl die Armutbetroffenheit höher ist als bei der durchschnittlichen Bevölkerung.

Eine wichtige Revision der Ergänzungsleistungen wurde abgeschlossen. Die Inkraftsetzung ist noch vom Bundesrat zu definieren: Endlich wer-den die Mietzinsmaxima bei den Ergänzungsleistungen angehoben für alleinstehende von CHF 1‘100.-/Monat auf CHF 1‘370.- und für Ehepaare von CHF 1‘250.- auf CHF 1‘620.- (in Grosszentren).

Die Weiterentwicklung der IV ist einer Vorlage, die im Nationalrat ein ers-tes Mal beraten wurde und die nun vom Ständerat behandelt wird. Dort ist noch nicht absehbar, ob das Ziel des Bunderats erreicht wird, welcher für einmal keine Sparvorlage verabschieden wollte. Ihm ging es darum, zusätz-liche Massnahmen bei der IV zu beschliessen, die vor allem Jugendliche und psychisch Kranke bei der Integration in die Arbeitswelt unterstützen sollen. Leider hat der Nationalrat eine Kürzung der Kinderrenten bei der IV in die Vorlage gepackt. Silvia Schenker, Nationalrätin

Bloss kein ungeschickter Trost

(Luzerner Zeitung)

Wie gratuliert man Freunden, die gerade Eltern eines Kindes mit Behinderung wurden?


Kann man auf eine Karte «Herzlichen Glückwunsch» schreiben, wenn das Neugeborene behindert ist?Egal, sagen Betroffene – Hauptsache die Freunde ziehen sich nicht zurück.Bild: Alamy

 

Kristina Reiss

«Gratulieren? Auf jeden Fall!»,findet Dominique Schärer, «ein Richtig oder Falsch gibt es dabei nicht. Das Wichtigste ist, sich überhaupt bei der Familie zu melden und seiner Intuition zu vertrauen.» Die Kommunikationsverantwortliche einer NGO muss es wissen. Sie lebt mit Mann und zwei Söhnen, 8 und 6 Jahre alt, in Bern. Der Jüngste kam mit mehrfacher Körperbehinderung zur Welt. Aufgrund eines seltenen Syndroms, das erst nach der Geburt festgestellt wurde, wächst Jules‘ Schädel nurin die Höhe.

«Als unser Sohn geboren wurde, sah man an seinem Kopfgleich, dass er anders ist», so Dominique Schärer. Die Ärzte waren ratlos, erst eine Genetikerin kam der Sache auf den Grund. Welche Konsequenzen das seltene Syndrom für Jules‘ Entwicklung haben würde, war zunächst jedoch völlig unklar. «Am Anfang standen wir vor einem schier unüberwindbaren Berg von medizinischen Herausforderungen und grosser Ungewissheit», sagt seine Mutter.

Die heute 47-Jährige und ihr Mann informierten Eltern und Geschwister sofort, Freunden schrieben sie erst 14 Tage nachder Geburt ein Mail und erklärten die Situation. «Wir waren somit uns und den ganzen Arztterminen beschäftigt, dass wir dafür erst mal keine Zeit hatten.»Dann aber war es dem Paar wichtig, sich bei Freunden und Bekannten zu melden – «auch um zu sagen, dass mit uns in nächster Zeit nicht zu rechnen ist», sagt Dominique Schärer.

«Denn es gab so vieles zu tun: Mutter- und Vaterschaftsurlaube, die komplett umorganisiert werden mussten, Arbeitgeber,die es zu informieren galt.»

Keiner der Freunde wandtesich von der Familie ab

Essenziell war in dieser Zeit das äussere Umfeld. «Ich habe extrem gute Erinnerungen an die Reaktionen von Freunden und Bekannten», sagt Dominique Schärer. «Nicht einer hat sich damals von uns abgewendet, im Gegenteil. Manche schrieben liebe Karten und erwähnten Jules‘ Behinderung mit keinem Wort; manche gingen in langen Briefen detailliert auf alles ein. Gefreut haben wir uns über jede einzelne Reaktion.»

«Ich glaube, niemand will inso einer Situation einfach nur in Ruhe gelassen oder gar gemieden werden – im Gegenteil»,sagt Ingrid Eva Liedtke. Die 54-Jährige ist Mutter von drei erwachsenen Kindern,ihre

«Familien in unserer Situation brauchen plötzlich ganz viel Hilfe -und müssen lernen,Hilfe anzunehmen.»

Dominique Schärer
Mutter eines behinderten Sohnes Tochter kam mit Trisomie 21 auf die Welt. Heute berät die Psychologin Eltern von Kindern mit Down-Syndrom. «Was mir nach der Geburt meiner Tochter am meisten geholfen hat, war positive Bestärkung», erzählt Liedtke. «Etwa wenn jemand sagte:

Doch der positive Zuspruch sollte ehrlich gemeint sein und nicht übertrieben. «Ich fand es mühsam, wenn Leute meine Tochter im Kinderwagen betrachteten und aufmunternd sagten:

«Für betroffene Eltern ist es enorm wichtig, zu merken: Das Umfeld ist da, unterstützt uns und tabuisiert vor allem die Behinderung des Kindes nicht»,sagt Kathrin Kayser, Sozialarbeiterin bei der Pro-Infirmis-Beratungsstelle in Altdorf im Kanton Uri. «Oft melden sich Freunde nach der Geburt nicht, weil sie überfordert sind.» Dabei sei dieses Gefühl durchaus legitim. Gerade am Anfang kann eine Unsicherheit entstehen. Häufig ist das Ausmass der Behinderung noch nicht klar, und es stellen sich womöglich auch Fragen der Lebenserwartung. Kathrin Kayser empfiehlt, die Eltern offen anzusprechen: «Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll.» Das helfe Betroffenen mehr, als keine Reaktion zu zeigen.

Praktische Hilfe hilft denEltern am meisten

Eltern eines neugeborenen Kindes mit Behinderung wüssten ausserdem meist sehr gut, was sie brauchen. Die Sozialarbeiterin rät daher konkret zu fragen:«Wie kann ich euch unterstützen?» Mit dem Geschwisterkind etwas unternehmen, für die Familie kochen, die Eltern für ein Stündchen am Spitalbett des Kindes ablösen, damit diese zwischen all den Arztterminen auch mal an die frische Luft kommen es muss nicht viel sein. «Schonein bisschen Entlastung ist extrem wertvoll», erinnert sich Dominique Schärer. «Familien in unserer Situation brauchen nämlich plötzlich ganz viel Hilfe -und müssen gleichzeitig lernen,Hilfe anzunehmen.»

Der sechsjährige Jules hat heute eine Hör- und Sehbehinderung, er hat eine Atemkanüleund wird künstlich ernährt. Aber er besucht eine Blindenschule,fährt Velo und lernt gerade Lesen. «Wir hatten sehr viel Glück», sagt seine Mutter. «Tolle Ärzte, eine rasche Abklärung und deshalb sofort sämtliche unterstützenden medizinischen Massnahmen. Jules hat sich -entgegen den Befürchtungen -ausgezeichnet entwickelt.»

Im Umgang mit anderen be-troffenen Familien hat Jules‘ Familie auch gelernt: Familien-glück ist keiner Norm unterworfen. «Manche Kinder können weder reden noch laufen und haben trotzdem viel Freude am Leben», sagt Dominique Schärer.«Meine Botschaft ist deshalb:Habt keine Angst und geht auf Eltern zu, die ein Kind mit Behinderung bekommen haben!»


wireltern
Für Mütter und Väter in der Schweiz
Ein Beitrag aus «wir eltern».Die aktuelle Ausgabe ist am Kiosk erhältlich

Gehörlose klären auf

(Schaffhauser Bock)

Die Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen ergreift erneut die Initiative und geht auf eigene Kosten auf Behördensensibilisierungstour.


„Ein Symbolbild an der modernen Hörsäule im Museum zu Allerheiligen: Während Maya Demmerle (r.) der dort verfügbaren Erläuterung gespannt zuhört, kann Doris Hermann, gehörlos, nur mit den Schultern zucken.Bild: Jurga Wüger

 

Autor: Jurga Wüger

Viele öffentliche Institutionen haben vor einiger Zeit einen Brief der Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen (GGS) mit der Bitte um eine Audienz erhalten, um «das dunkle Kapitel der Diskriminierung der Gehörlosen und Schwerhörigen im Kanton Schaffhausen abzuschliessen». Weiter ist im Schreiben zu lesen: «Das Behindertengleichstellungsgesetz und dessen Ratifizierung sind und bleiben teure Makulatur, wenn die versprochenen Verbesserungen unseren Alltag nicht erreichen.» Auf diese Sensibilisierungstour geht die GGS auf eigene Kosten, wird dabei aber vom Schweizerischen Gehörlosenbund unterstützt – es braucht zum Beispiel immer eine dolmetschende Person für die Gebärdensprache. Das Museum zu Allerheiligen und das Kantonsspital haben einem Gespräch zugestimmt. Bei den anderen Empfängern stiess die Bitte bisher auf taube Ohren.

Sozialpädagogin und GGS-Vorstandsmitglied Doris Hermann nimmt sich dieser Behördensensibilisierung an: «Wir möchten uns und unsere Behinderung sichtbar machen, Pilotprojekte vorschlagen, ein Netzwerk aufbauen, Lösungsansätze präsentieren sowie Vorurteile und Ängste abbauen.» Die Initiative ist auf gutem Willen aufgebaut, obwohl die Nerven blank liegen. Am liebsten würden die Mitglieder für ihre Anliegen auf die Strasse gehen.Doris Hermann vermutet, dass den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der staatlichen Behörden der Rechtsanspruch der Gehörlosen nicht bekannt ist. Denn lehnen die Beamten die Bitte einer gehörlosen Person «Könnten Sie es mir aufschreiben?» ab, was oft vorkomme, machen sie sich wegen Benachteiligung einer behinderten Person im öffentlichen Raum strafbar.

Auf Augenhöhe diskutieren

Vor Kurzem traf Doris Hermann auf Maya Demmerle, zuständig für die Kulturvermittlung im Museum zu Allerheiligen. «Ich bin heute nicht als Bittstellerin gekommen», sagte Doris Hermann. «Wir Gehörlose und Schwerhörige möchten einen barrierenfreien Zugang zu allem, was uns interessiert. Wir möchten einfach dazugehören und nicht um das betteln müssen, was uns zusteht. Wie wollen wir diese Problematik im Museum zu Allerheiligen angehen?» Die Museumspädagogin begegnete ihr auf Augenhöhe und hatte grosses Verständnis für ihren Ummut. Spontan diskutierten sie über verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten. «Wenn Sie eine Führung organisieren, bitte ich Sie, automatisch auch an einen Dolmetschenden für Gehörlose zu denken», sagte Doris Hermann und traf damit ins Schwarze. Maya Demmerle notierte sich die Anregungen, stellte Fragen und bot einen Erkundungsrundgang durchs Museum an. Doris Hermann war vor 20 Jahren das letzte Mal im Haus und staunte über die moderne Ausstellungstechnik, die allerdings vor allem auf Hörende ausgerichtet ist. An einer Hörsäule fragte sie lachend: «Was soll ich damit anfangen?»

Ein übergeordnetes Rahmengesetz

Für die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes sind die Kantone zuständig. Dass die Kommunikation zwischen Hörenden und Nicht-Hörenden im Kanton funktionieren kann, zeigt die Erfahrung an den Schaffhauser Volksschulen. Hier wird das Behindertengleichstellungsgesetz mustergültig umgesetzt. Wenn beispielsweise ein Elternteil gehörlos ist, werden zu Elternabenden automatisch Dolmetschende bestellt. Auch manche Schaffhauser Politikerinnen und Politiker lassen ihre Wahlreden verdolmetschen. Im Kanton Schaffhausen leben rund 70 Hörbehinderte, die GGS zählt derzeit 40 Mitglieder im Alter von 44 bis 90 Jahren. Beim 25-Jahr-Jubiläum der GGS im Herbst 2019 werden im Parkcasino Schaffhausen die Ergebnisse der Behördensensibilisierungsaktion öffentlich präsentiert.

Nachgefragt beim Museum zu Allerheiligen

«Bock»: Frau Demmerle, warum haben Sie dem Gespräch mit der Gesellschaft der Gehörlosen (GGS) zugestimmt?
Maya Demmerle *: Weil es Zeit ist, diese Thematik aktiv anzugehen. Ein barrierefreier Zugang umfasst schliesslich auch verdolmetschte Vorträge und Führungen. In Bezug auf gehörlose Besucherinnen und Besucher sehe ich vor allem relativ einfach umzusetzende Möglichkeiten.

Sind die Wünsche der GGS in Bezug auf das Museum zu Allerheiligen realistisch?
Demmerle: Wir müssen die Problematik in mehreren Etappen angehen. Ausgewählte Führungen und Vorträge mit Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetschern sind sicher möglich. Auch der Gedanke, dass Frau Hermann in Gebärdensprache zu gewissen Themen bei uns Führungen machen könnte, ist sehr interessant.

Haben Sie gewusst, dass wenn eine hörbehinderte Person eine Verdolmetschung braucht, um eine öffentliche Dienstleistung zu nutzen, der Kanton verpflichtet ist, die Kosten zu tragen?

Demmerle: Dass bei Verständigungsschwierigkeiten in amtlichen Begegnungen eine Verpflichtung zur Verdolmetschung aller Sprachen besteht, war mir bekannt; dass auch das Museum davon Gebrauch machen kann, war mir bisher nicht bekannt.

Was ist Ihr nächster Schritt?
Demmerle: Ich werde intern meine Vorschläge präsentieren, ein Pilotprojekt ausarbeiten, bei Procom, der Dolmetscherzentrale, die Kosten für einen Dolmetschereinsatz erfragen und beim Kanton und anderen möglichen Trägern die Frage nach der Kostenübernahme klären.* Maya Demmerle ist zuständig für Kulturvermittlung und Museumspädagogik im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen.

Angsstörung : Der Trend zur Anxiety

(Regio.ch / Uster)

Jeder zehnte Mensch entwickelt im Lauf seines Lebens eine Angststörung. Doch warum scheint die psychische Störung so zu boomen?

Wer schon mal eine Panikattacke erlebt hat, weiss wie beängstigend es sich anfühlt. Man hat das Gefühl die Kontrolle komplett zu verlieren, man schwitzt, das Herz rast und man ist sich sicher jede Sekunde zu sterben. Auch die generalisierte Angststörung, spezifisehe Phobien und Zwangsstörungen nehmen zu und scheinen fast schon im Trend zu sein. Zeit- und Leistungsdruck haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt.


Angst und Panik steigt immer mehr an. Foto: PD

 

Das alles macht auch etwas mit den Emotionen, die im Gehirn gesteuert werden. Es fängt schon bei den Jugendlichen an: Ein Viertel der Jungen und 38 Prozent der Mädchen klagen in Amerika über Angststörungen. Auch viele berühmte Leute, wie zum Beispiel Emma Stone, Lady Gaga, Adele, Kendall Kardashian, Rita Ora und noch viele mehr sprechen offen über ihre krankhaften und quälenden Ängste. Laut Pro Infirmis leidet bereits jeder 10. Schweizer an einer Angststörung. Dass man sich heute ständig und überall von der perfekten Seite präsentieren muss und nur das Maximum an Leistung gut genug ist, belaste tviele. Das vegetative Nervensystem des Menschen ist labil geworden. Durch ständige Erreichbarkeit, Termindruck und Reizüberflutung steht man ständig unter Druck.ISA