«Bei den Institutionen istsehr viel Fachwissen vorhanden»

(Curaviva / deutsche Ausgabe)

Der Aktionsplan zur Umsetzung der Uno-BRK im Urteil der Behindertenorganisationen

Julien Neruda*, Geschäftsleiter des Dachverbandsder Behindertenorganisationen (Inclusion Handicap), nennt den Aktionsplan der Branchenverbände Curaviva, Insos und VAHS einen «wichtigen Schritt» zur Umsetzung der Uno-BRK. Er misst denInstitutionen auch künftig eine zentrale Rolle bei.

Von Elisabeth Seifert

Inclusion Handicap vertritt als Dachverband die Interessen von23 Behindertenorganisationen und deren Mitgliedern. Der Dachverband hat sich dafür eingesetzt, dass die Uno-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz ratifiziert worden ist. Zudem hat er mit einem detaillierten Bericht aufgezeigt, welcher Handlungsbedarf sich daraus ergibt, auch im Bereich der Institutionen. Im Interview mit der Fachzeitschrift kommentiert Geschäftsleiter Julien Neruda den «Aktionsplan UN-BRK 2019-2023» von Insos, Curaviva und VAHS, der Anfang März veröffentlicht worden ist. Damit setzen sich die drei Branchenverbände für die Umsetzung der Konvention im institutionellen Bereich ein.

Der nationale Aktionsplan von Curaviva, Insos und VAHS will Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Ist das aus Sicht der Behindertenorganisationen gelungen?

*Julien Neruda,46, ist Verbandsmanager und seit 2014 Geschäftsleiter von Inclusion Handicap. Zuvor war er in der Jugend- und Bildungspolitik, bei Amnesty International und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe tätig.

Julien Neruda: Der Aktionsplan der Verbände ist ein wichtiger und nötiger Schritt zur Umsetzung der Uno-Behindertenrechts-konvention in der Schweiz. Selbstbestimmtes Leben ist ein absoluter Grundsatz der Uno-BRK. Es geht dabei um den menschenrechtlichen Ansatz. Menschen mit einer Behinderung haben wie alle Menschen das Recht, über ihr Leben zu bestimmen, wo und wie sie wohnen wollen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen oder wie sie ihre Freizeit verbringen.

Vor fünf Jahren wurde die Uno-BRK von der Schweiz ratifiziert. In den Köpfen der involvierten Akteure, bei Verbänden, Organisationen und Behörden, sowie auf der Ebene der Konzeptarbeit ist seither einiges in Gang gesetzt worden. Bei den konkreten Massnahmen hingegen, bei den Strukturen und Instrumenten und selbst bei den gesetzlichen Grundlagen gibt es noch sehr viel zu tun. Ein grosses Fragezeichen setze ich auch beim Bewusstsein in der breiten Öffentlichkeit.

Der Aktionsplan der Verbände ist in erster Linie also einschönes Konzept…

Der Aktionsplan zeigt auf, was es alles zu tun gibt im institutionellen Bereich. Und er macht sichtbar, dass wir bei der Umsetzung der Uno-BRK erst ganz am Anfang stehen, nicht nur im Bereich der Institutionen, sondern ganz generell in unserer Gesellschaft. Wir unterstützen die Initiative der Branchenverbände sehr. Wir würden uns aber von ihrer Seite und auch vonseiten der Leistungsbesteller, also den Kantonen, noch mehr Verbindlichkeit wünschen. Es braucht mehr als Empfehlungen gegenüber den Mitgliedern: Es braucht einen klar definierten Zeitplan, wo man in fünf oder zehn Jahren sein will. Positiv hervorheben möchte ich, dass die drei Verbände mit gutem Beispiel vorangegangen sind und Betroffene in die Erarbeitung des Aktionsplans mit einbezogen haben.

Wir stehen am Anfang, sagen Sie – wo liegt das Problem?

Die Umsetzung der BRK erfordert ein radikales Umdenken, alle müssen über die Bücher, die Kantone, die Dienstleistungsanbieter und auch wir, die Behindertenorganisationen. Wir müssen wegkommen vom karitativen Ansatz. Menschen mit Behinderung sind Bürgerinnen und Bürger, über die man nicht einfach befinden kann. Der Uno-Behindertenrechtsausschuss hat vor einigen Monaten in klarer und radikaler Weise formuliert, was von den Vertragsstaaten der Behindertenrechtskonvention erwartet wird: Vom Zeitpunkt der Ratifizierung an sollte keine neue Institution gegründet werden, und jedes Mal, wenn eine Einrichtung ihr Angebot anpasst oder umbaut, sollte dies nicht zu mehr Betreuungsplätzen führen. Statt stationäre Plätze sollten vielmehr zusätzliche ambulante Angebotege geschaffen werden. Zurzeit gibt es in der Schweiz einige gute Beispiele von Institutionen, die ihr Angebot flexibilisieren und der Uno-BRK entsprechend ausgestalten. Bei diesen guten Beispielen handelt es sich aber um die Spitze des Eisbergs.


Julien Neruda, Geschäftsleiter von Inclusion Handicap: «Wirunterstützen die Initiative der Branchenverbände sehr.

 

Wo sehen Sie die Zukunft der Institutionen?

Die De-Institutionalisierung ist nicht das Ziel. Es braucht aber eine Angebotsvielfalt, damit die Betroffenen eine echte Wahlfreiheit haben, wo, wie und in welcher Intensität sie unterstützt werden wollen. Bei den Institutionen ist sehr viel Fachwissen vorhanden. Aufgrund ihrer lokalen Verankerung könnten sie künftig verstärkt eine vermittelnde Funktion zwischen stationären und ambulanten Angeboten wahrnehmen, dafür müssen sie ihr eigenes Angebot auch durchlässig gestalten. Bei der Uno-BRK geht es ja eigentlich um die Sozialraumidee, die gerade auch von Curaviva Schweiz gezielt gefördert wird. Die Einrichtungen haben aus meiner Sicht künftig eine wichtige Rolle dabei, mit Blick auf das Wohl der Betroffenen immer wieder zu evaluieren, wo diese stehen. Und mit ihnen herauszufinden,welche Art von Unterstützung in einer bestimmten Lebensphase ihre Autonomie fördert. In diesen Aufgaben sehe ich gleichzeitig die Bedeutung und die Verantwortung der Institutionen.

Was ist zu tun, damit der Aktionsplan nicht zu einem Papiertiger verkommt?

Neben den fachlichen Bemühungen der Institutionen wird ganzentscheidend sein, wie stark sich die Kantone als Leistungsbe-steller zur Uno-BRK bekennen. Hier stehen wir vonseiten derBehindertenorganisationen genauso wie Curaviva und Insos in Kontakt mit den zuständigen Ämtern. Auch hier gibt es einige Initiativen. Verschiedene Kantone verfolgen den Ansatz,auf der Ebene von Konzepten und Massnahmen das Angebot so zu steuern, dass es Uno-BRK-konform wird. Zum Beispiel mit Einführung der Subjektfinanzierung.Damit werden nicht mehr die Heime finanziert, sondern der indiduell erhobene Bedarf. Dadurch kann ein nachfrageorientiertes Angebot entstehen.

Erst wenige Kantone hingegen gehen grundsätzlich über die Bücher und erarbeiten für sämtliche Politikfelder ein Rahmengesetz, um Barrieren aller Art abzubauen. Die Flexibilisierungder Wohn- und Betreuungsangebote allein ist mit Blick auf eine inklusive Gesellschaft zu wenig. Es muss darum gehen, Menschen mit Behinderung die Teilnahme am ersten Arbeitsmarkt,den Zugang zur Bildung, zu Freizeitangeboten und Dienstleistungen unterschiedlicher Art zu ermöglichen. Vor allem die beiden Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft leisten ak-tuell auf gesetzlicher Ebene Pionierarbeit.

Inclusion Handicap hat als Dachverband der Behindertenorganisationen den Anspruch, in diesem umfassenden, gleichstellungsrechtlichen Sinn auf Behörden, Politik und Wirtschafteinzuwirken. Wo stehen Sie mit Ihren Bemühungen?

Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass die Uno-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz überhaupt ratifiziert worden ist. Im Jahr 2017 haben wir vonseiten der Zivilgesellschaftmit dem Schattenbericht dann detailliert aufgezeigt, welcher Handlungsbedarf sich in der Schweiz daraus ergibt. Darüber hinaus waren wir wesentlich an der Erarbeitung eines Berichts des Bundesrates zur Stärkung der Behindertenpolitik beteiligt,der im letzten Mai verabschiedet worden ist. Dabei geht es insbesondere um die Gleichstellung in der Arbeitswelt, die Förderung eines selbstbestimmten Lebens sowie die barrierefreie digitale Kommunikation. Zudem soll die Zusammenarbeit von Bund und Kantonen verstärkt werden. In all unseren Bemühungen geht es immer um eine ganzheitliche Sicht, ausgehendvon den Anliegen der Menschen mit Behinderung.

Können Sie diese «ganzheitliche Sicht» etwas konkretisieren?

Die BRK stellt den Menschen ins Zentrum. Wenn man dasmacht, dann muss man gerade auch im Bereich der Sozialversicherungen die sektoriell definierten Strukturen und gesetz-lichen Vorgaben hinterfragen. Die heutigen Finanzierungsmechanismen erschweren den Aufbau von durchlässigen, amBedarf der Betroffenen ausgerichteten Angeboten. So ist zumBeispiel der Bund respektive die IV für die Finanzierung desAssistenzmodells und des begleiteten Wohnens zuständig,die stationären Betreuungsangebote hingegen werden vonden Kantonen finanziert. Bei alternativen Wohnformen fühlen sich dann schnell einmal weder der Bund noch die Kanto-ne zuständig.

Planen Sie vonseiten der Behindertenorgani-sationen auch so etwas wie einen nationalenAktionsplan zur Umsetzung der Uno-BRK?

Sagen wir es so: Wir setzen uns dafür ein, dassauf der Ebene des Bundes und der Kantonekonkrete Aktionspläne erarbeitet werden.Zurzeit sind wir stark involviert in die Weiter-entwicklung und Umsetzung der Behindertenpolitik. DieseLeitlinien für eine Behindertenpolitik des Bundes und der Kantone gibt es, wie ich bereits erwähnt habe, erst seit letztem Mai.Neben diesen Bemühungen ist Inclusion Handicap eingebun-den in die Überprüfung der Schweiz durch den Uno-Behindertenrechtsausschuss. Im Herbst werden die Kernthemen festgelegt, bei denen der Ausschuss die Schweiz konkret überprüfen will. Wir versuchen auf die Auswahl der Themeneinzuwirken. Der Bericht des Uno-Behindertenrechtsausschuses über den Stand der Umsetzung der Uno-BRK in der Schweizwird im Herbst 2020 vorliegen.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf
Die Förderung des selbstbestimmten Lebens und die Gleichstellung in der Arbeitswelt sind zwei sehr wichtige Themen,die auch in der Behindertenpolitik des Bundes Priorität haben.

Das Potenzial von Menschen mit Behinderung, die im ersten Arbeitsmarkt arbeiten könnten,ist längst nicht ausgeschöpft. Der Handlungs-bedarf besteht vor allem bei der Wirtschaft.Die Bereitschaft, eine Person mit Behinderungzu beschäftigen, ist nur selten vorhanden.Auch die IV ist nach wie vor defizitorientiert.Man müsste vielmehr feststellen, über wel-ches Potenzial eine Person trotz gewissen Ein schränkungen verfügt und wie sie im Arbeitsprozess eingesetztwerden kann. Ein weiterer grosser Handlungsbedarf bestehtim Bereich Zugang zu privaten Dienstleistungen wie etwa von Banken, Versicherungen oder auch des Gastgewerbes. Auchhier bestehen nach wie vor grosse Benachteiligunge.

Ganz besonders stark benachteiligt werden Menschen mitpsychischen und geistigen Behinderungen…

Im Unterschied zu Personen mit körperlichen Einschränkungen haben Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen «unsichtbare» Behinderungen», und sie sind, dasie mehrheitlich in stationären Einrichtungen leben, in der Öffentlichkeit kaum präsent. Das fördert Berührungsängste.Exemplarisch zeigt dies der Fall des privaten Heilbads Unterrechstein in Grub im Kanton Appenzell Ausserrhoden, das 2017 einer Gruppe von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung den Zugan verweigert hat. Gemeinsam mit den Behindertenorganisationen Procap, Pro Infirmis und Insieme haben wir auf der Grundlage des Diskriminierungsverbots im Behindertengleichstellungsgesetz ein Urteil erwirkt. Weil es sich um einen privaten Anbieter handelt, hatte das Urteil aber keine konkreten Konsequenzen. Das ist eine Schwäche des Gesetzes.

Müssten die Branchenverbände und die Behindertenorganisa-tionen künftig nicht stärker zusammenarbeiten, um den Anliegen der Uno-BRK auf Seiten der Politik und der Gesellschaft Geltung zu verschaffen?

Der Austausch zwischen uns und den Branchenverbänden, mit Insos und auch mit Curaviva, ist intensiv. Im Rahmen von verschiedenen Arbeitsgruppen tauschen wir uns regelmässig aus,zur Uno-BRK generell, zu den Themen Arbeit und Bildung, auch was die Weiterentwicklung des Assistenzmodells betrifft. Dabei geht es auch immer wieder um politische Forderungen. Als Vertreter der Menschen mit Behinderungen vertreten wir abernicht immer die gleichen Interessen wie Insos und Curaviva,welche die Interessen der Institutionen vertreten.

Das ist kein Gegensatz: Gerade auch der Aktionsplan macht doch deutlich, dass sich die Branchenverbände für die Interessen von Menschen mit Behinderung einsetzen?

Das ist richtig. Wir ergänzen uns auch meistens sehr gut in derpolitischen Arbeit. Wir haben aber trotzdem nicht immer die gleichen Positionen. Umso wichtiger ist deshalb ein offener und trans-parenter Austausch. Wo ich aber durchaus Potenzial sehe: Wir haben auch auf fachlicher Ebene noch viel zu tun, um die Ziele der BRK umzusetzen. Aufgrund ihrer Expertise können und müssendie Branchenverbände hier einen wertvollen Beitrag leisten.

Auf europäischer Ebene haben Behindertenorganisationenund Verbände der Dienstleister eine gemeinsameAbsichtserklärung unterzeichnet, um die Umsetzung derUno-BRK gemeinsam voranzutreiben. Insos-GeschäftsführerPeter Saxenhofer möchte so etwas auch in der Schweizrealisieren. Was halten Sie davon?

Wir haben Anfang September auf der Ebene der Verbandsspitzenein Austauschtreffen von Inclusion Handicap, Insos und Curaviva geplant. Bei diesem Austauschtreffen soll unter anderemauch besprochen werden, ob wir eine solche gemeinsame Erklärung anpeilen möchten. Ich schliesse das nicht aus.

«Der Aktionsplan der Branchenverbände hat eine hohe Relevanz»

«Wir sind zuversichtlich, dass der Aktionsplan entscheidendzur Inklusion der Klientinnen und Klienten von Institutionenbeitragen wird», sagt Matthias Leicht, stellvertretender Leiterdes eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Men-schen mit Behinderungen (EBGB). Für die Umsetzung der Uno-BRK seien nicht nur Bund und Kantone gefordert, es handlesich dabei vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.«Deshalb begrüssen wir sehr, dass die drei Verbände von sichaus die Initiative übernommen und diesen Aktionsplan erarbeitet haben.» Insos Schweiz, Curaviva Schweiz und der VAHS konnten dabei auf die finanzielle Unterstützung des EBGB zählen. Der Aktionsplan habe mit den entwickelten Massnahmen und Empfehlungen zu den drei Handlungsfeldern Arbeit,Lebensgestaltung sowie Bildung von Fach- und Leitpersonendie gesteckten Ziele erreicht.

Neben der «hohen Relevanz» des Aktionsplans hebt Matthias Leicht insbesondere den Einbezug von Klientinnen und Klien-ten mit Behinderung positiv hervor. Während mehrerer Worshops wurden diese über den Stand des Plans informiert undkonnten ihre Forderungen stellen.

Nächste Schritte der Politik auf nationaler Ebene

Das Hauptinstrument der Schweizer Regierung, um die Uno-BRK umzusetzen, ist der Bericht zur Behindertenpolitik. Indiesem Dokument werde, so Leicht, eine kohärente Behindertenpolitik für Bund und Kantone formuliert sowie Schwerpunk-te für die Jahre 2018-2021 gesetzt. Die Schwerpunkte sindselbstbestimmtes Leben, Gleichstellung in der Arbeitsweltsowie Barrierefreiheit und Digitalisierung. Da die Umsetzungnicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Kantons- und Gemeindeebene sowie in der Privat- und Zivilgesellschaft erfolge, koordiniere das EBGB verschiedene Arbeitsgruppen mit Vertreterinnen und Vertretern aus den entsprechenden Ämtern, Institutionen und Verbänden. Eine der Vorgaben der Behindertenpolitik ist, über die Fortschritte der Umsetzung derBehindertenpolitik zu kommunizieren.

Rüge an das Bundesamt wegen IV

(AWP – Soziale Sicherheit)

Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) gab 2012 und 2013 Empfehlungen für Verbesserungen bei der Invalidenversicherung(IV) gemacht. Bei einer Überprüfung dieser Empfehlungen stellt sie bei den medizinischen Massnahmen nun sehr geringe Fortschritte fest.

Medizinische Massnahmen sind Leistungen zur Behandlung von Geburtsgebrechen und zur Eingliederung davon betroffener Kinder und Jugendlicher bis zum vollendeten 20. Lebensjahr.

Arbeiten beim BSV blockiert

2013 setzte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eine Arbeitsgruppe ein,die den Auftrag hatte, Vorschläge zur Optimierung der medizinischen Massnahmen zu machen. In diese wurden auch die IV-Stellen beigezogen. Ende 2014 wurde das Optimierungsvorhaben in das allgemeine Massnahmenpaket zur Weiterentwicklung der IV integriert. Dabei kam es zu Verzögerungen wie die EFK ausweist, unter anderem wegen des Weggangs des Ressortleiters für das Dossier beim BSV.

In der Zwischenzeit kam auch der Bundesrat zum Zug. In einer Botschaft von 2017 schlug er unter anderem die Verankerung von Kriterien zur Definition der Geburtsgebrechen im Invalidenversicherungsgesetz (IVG) vor. Zudem sollten die medizinischen Leistungen der IV an die Kriterien der Krankenversicherung angepasst werden. Das BSV hat gemäss EFK eine Strategie ausgearbeitet und Gesetzesänderungen vorgeschlagen. Eine Prüfung der Verbesserungen in den Bereichen Steuerung, Vollzug und Aufsicht ist erst nach derVerabschiedung der Gesetzesrevision vorgesehen. Die Umsetzung plant das BSV somit frühestens ab 2020.

Zu viele Unbekannte

Angedacht ist eine Anpassung der Liste der Geburtsgebrechen. Das BSV schätzt das Sparpotenzial infolge Streichung bestimmter Krankheiten von der heutigen Liste und dank besserer Steuerung auf 160 Millionen Franken. Noch Ungewissheit herrscht allerdings hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen der Übernahme neuer Krankheiten.

Die EFK hält nun fest, dass seit Publikation ihres Berichts vor fünf Jahren, ihre Empfehlungen ungenügend umgesetzt worden sind. Ihrer Auffassung nach muss das BSV unbedingt innerhalb angemessener Fristen Lösungen finden oder zumindest Alternativen vorschlagen, je nach Ausgang der parlamentarischen Beratungen.

Die EFK erkennt auch keinerlei Fortschritt bei der Schaffung von regionalen Kompetenzpools und der Prüfung komplexer und kostspieliger Fälle. Der EFK zufolgezeugt diese Situation von einem Klima der Ungewissheit.Marc Kaufmann


Die Liste der Geburtsgebrechen,welche die Invalidenversicherung deckt, muss angepasst werden. Bild: Pixabay.com

 

Aufruf: Vorsicht «falsche Gehörlose» – geben Sie kein Bargeld!

(SGB-FSS Schweizerischer Gehörlosenbund)

Mit den Temperaturen steigen beim Schweizerischen Gehörlosenbund jedes Jahr auch die Meldungen über skrupellose Personen, die sich in den Strassen als Gehörlose ausgeben und Passanten um Bargeld bitten. Weil sie kaum Strafen fürchten müssen, haben die Betrüger ihr Einsatzgebiet ausgeweitet. Sie sind neu auch im öffentlichen Verkehr und in den Zügen der SBB unterwegs. Der Ablauf ist immer gleich: Die «falschen Gehörlosen» lassen arglose Passanten eine Petition unterschreiben und bitten um eine Geldspende für einen vermeintlich guten Zweck. Dieses Geld ist verloren, es kommt weder dem Schweizerischen Gehörlosenbund noch Projekten für gehörlose Menschen zugute.

Der Gehörlosenbund bittet die Bevölkerung um Wachsamkeit, damit den «falschen Gehörlosen» das Handwerk gelegt wird. Wirklich gehörlose Menschen betteln nicht in den Strassen. Sie setzen sich für Gleichstellung in der Bildung und im Arbeitsmarkt ein, weil sie wie alle anderen Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz an der Gesellschaft teilhaben möchten. Dank der zahlreichen Spenden, die der Gehörlosenbund jedes Jahr aus der Bevölkerung erhält, können wichtige Gleichstellungsprojekte umgesetzt werden, beispielsweise Gebärdensprachkurse für Familien, damit gehörlose Kinder mit ihren hörenden Angehörigen kommunizieren können.

Beim Sammeln von Spenden folgt der Gehörlosenbund als ZEWO-zertifizierte Organisation strikten Regeln. Neue Spenderinnen und Spender suchen wir ausschliesslich an klar gekennzeichneten Informationsständen, die Mitarbeitenden tragen Kleidung mit unserem Logo und können sich ausweisen. Und am wichtigsten: Aus Sicherheitsgründen nehmen wir bei den Spendenkampagnen niemals Bargeld an!

Damit Ihre Spende wirklich gehörlosen Menschen zugutekommt, bittet der Gehörlosenbund die Bevölkerung um Mithilfe: Wenn Sie «falsche Gehörlose» bei ihrem Treiben beobachten, melden Sie dies bitte umgehend der Polizei unter der Telefonnummer 117! Um noch mehr Menschen zu erreichen, verbreitet der Gehörlosenbund seit heute einen Sensibilisierungsfilm zu diesem Thema in den Sozialen Medien.

Vidéo

Achtung Spendenbetrung: Falsche Gehörlose

Attention, aux récoltes frauduleuses de dons par de „faux sourds“!

Attenzione:“falsi sordi“in azione.

Kinderwunsch bei kognitiver Beeinträchtigung

(Sozial Aktuell)

Junge Eltern mit Einschränkungen brauchen verlässliche, langfristige Begleitung im Alltag


Bilder: Ruben Hollinger

 

Text: Charlotte Spindler
Die Zahl junger Frauen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, die ein Kind bekommen,ist zwar gering, aber sie nimmt zu. Werberät bei einem mit Kinderwunsch? WelcheUnterstützungsangebote sind hilfreich?

Im Dok-Film «Ja, ich will!» porträtiert die TV-Reporterin Andrea Pfalzgraf die junge Schauspielerin Julia Häusermann, ihre Familie und ihren Ehemann. Julia hat das Down-Syndrom; bekannt geworden ist sie durch ihre Auftritte im Theater Hora. Im Film wird die Mittzwanzigerin auf der Bühne, mit ihren Eltern und bei der Hochzeit mit ihrem Remo gezeigt. Als sie beimAuszug von daheim ihre Sachen packt, gerät sie in einen heftigen Disput mit ihrer Mutter. Julia wirft den Eltern vor, ihr stän-dig Vorschriften zu machen und ihr auchdreinzureden, wenn es um die Familienplanung geht. Sie will Selbstverantwortung, und das sagt sie mit Nachdruck.

Die selbstbewusste Julia stellt uns vor Fragen, wie sie mit der 2014 in Kraft getretenen UNO-Behindertenrechtskonventionan Deutlichkeit gewonnen haben. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben das Recht auf Selbstbestimmung, auf Sexualität und auf eigene Kinder – auch wenn sie in ihrer Handlungs- und Urteilsfähigkeit eingeschränkt sind. Die Rechte des Kindes auf Pflege, Gesundheit, Erziehung, Bildung müssen gewährleistet sein. Die Frage ist: Können die jungen Eltern fürihr Kind sorgen, erkennen sie seine Bedürfnisse? Können sie es später gebührend unterstützen und fördern? Welche Rahmenbedingungen sind nötig für ein gutes Heranwachsen des Kindes?

Was steckt hinter dem Kinderwunsch?

Wie Fachleute raten, sollte in einem ersten Schritt geklärt werden, welche Bedürfnisseund Vorstellungen hinter dem Wunsch, ein Kind zu bekommen, stehen können. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, die Fähigkeiten der künftigen Eltern zu klären, und schliesslich brauchen die Mütter oder Väter eine Begleitung beim Entscheid, ob sie nun für eine Elternschaft optieren oder sich – ein schmerzlicher Prozess – von dem Wunsch nach einem Kind verabschieden. Das Bildungsprogramm SToRCH+ kann als Entscheidungshilfe nützliche Dienste leisten: Es gewährt jungen Menschen Einblick in ein Leben mit dem Säugling, anhand einer Puppe, die gewickelt und gefüttert werden muss und auch nachts vielleicht weint(siehe auch Box SEPIA).

Eine Tagesstruktur schaffen

MuKiWo, das Mutter-Kind-Wohnen imaargauischen Küngoldingen, liegt mitten im Grünen: Auf der Rückseite des alten Bauernhauses gibt’s einen grossen Gartenmit Sitzplatz, Gemüse- und Blumenbeeten,ein Gehege für die Kaninchen und daneben den Stall für drei Ziegen. Eine freundliche Katze streicht dem Besuch um die Beine. Die Sozialpädagogische Wohnbegleitung wurde im Herbst 2017 als private Einrichtung eröffnet und bietet einen Rahmen für jeweils zwei Frauen, die hier einige Wochen oder Monate leben. Hier erhalten sie Trainingsfelder für den Alltag mit enger oder weniger enger Anleitung und Begleitung. Zugewiesen werden die Mütter über Sozialdienste, eine KESB bzw.Familiengerichte. Eine 24-Stunden-Betreu-ung gibt es nicht, aber einen Pikettdienst und ein Notfallzimmer.
Im Moment leben im MuKiWo, der Sozialpädagogischen Wohnbegleitung für Mütter mit einer kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung,zwei Frauen:Dies chwangere Jana mit ihrer halbwüchsigen Tochter und Priska (beide Namen geändert), die kurz vor dem Austritt aus der Wohngruppe steht. Ihr Zimmer wird bald neu bezogen werden. Priska ist kurz nachd er Geburt, vor rund drei Monaten, mit ihrem kleinen Buben hierhergekommen; In der betreuten Wohngemeinschaft konnte sie Sicherheit im Umgang mit dem Kleinen gewinnen. Die 33-Jährige ist IV-Bezügerin und hat eine Beistandschaft. Sie weiss um die kognitiven Einschränkungen, die sie mitbringt, und sie betont, dass sie ihrem Sohn möglichst gute Startbedingungen bieten möchte.

Abtreibung empfohlen

«Ich habe mir immer gedacht, ich würde Kinder haben und sie gemeinsam mit meiner Freundin, die ebenfalls Mutter ist,grossziehen», erzählt sie. Vom Sozialdienst habe sie keine Unterstützung erhalten,sondern nur Stress erlebt, wie sie erklärt:«Ich war schon einmal schwanger und habe mein Kind verloren, das hatte sichermit dem ganzen Druck zu tun. Auch beimeiner zweiten Schwangerschaft war es von Anfang an stressig. Immer wieder hatman darauf gedrängt, ich solle mein Kind abtreiben, sogar noch, als die Schwangerschaft recht weit vorangeschritten war.Und jetzt, wo mein Sohn auf der Welt ist,geht das weiter – jetzt sagt man mir, ichsolle dafür sorgen, dass ich kein zweites Kind kriege.» Fürs Erste kehrt die junge Mutter jetzt dann in die Wohnung zurück,wo sie vorher schon lebte. Die Sozialpädagogische Familienbegleitung sorgt für die Nachbetreuung; der kleine Sohn kann zweimal in der Woche in eine Kita gehen.Mit dem Vater des Kindes hat Priska guten Kontakt – «aber er arbeitet viel, kann sich nicht um unseren Sohn kümmern», sagt sie. Mit ihren Eltern verkehrt sie nicht mehr.

Spannungsfeld zwischen Elternschaft und Kindeswohl

In den drei Monaten im MuKiWo hat Priska viel gelernt, sowohl über Kinderpflege wie auch über die Planung des Alltags für sich und das Baby. Das ist das Rüstzeug, das Andrea Müller als Sozialpädagogin den Bewohnerinnen mit gibt.Die Geschäftsführerin und Initiantin von MuKiWo sagt: «Meine Vision einer Lebensgemeinschaft auf dem Bauernhof für Mütter mit einer kognitiven oder psychischen Behinderung hat den Anstoss zur Gründung der Sozialpädagogischen Wohnbegleitung gegeben.»

Dass sie diese Vision umsetzen konnte,erfüllt sie mit Befriedigung. Sie hat 2011 an der Höheren Fachschule Sozialpädagogik hsl Luzern eine Diplomarbeit über Elternschaft bei einer kognitiven Beeinträchtigung geschrieben.Nach einem theoretischen Teil lässt die Autorin auch eine Mutter mit kognitiver Behinderungund ihren Sohn zu Wort kommen: Zwei Interviews, welche die ganze Bandbreite von Nähe, Zuneigung und Schmerz zeigen.Einer dauerhaften und verlässlichen Begleitung der jungen Eltern kommt nach Andrea Müllers Erfahrung eine zentraleBedeutung zu: Es braucht Wohnformen,wo sich Eltern und Kinder wohlfühlen, wo sie unterstützt werden und ein Selbstwertgefühl entwickeln können, indem sie das Gedeihen ihrer Kinder erleben und im Zusammenleben mit den Kindern selber Entwicklungsschritte machen.

Kinderwunsch – auch für insieme ein Thema

Seit 2008 koordiniert die Fachstelle Lebensräume von insieme Schweiz das Netzwerk Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung. «Ein Kinderwunsch kann als Thema in jedem Leben auftauchen und ist somit auch seit jeher Thema bei insieme. Wie auch in der Gesellschaft hatbei insieme, der Organisation der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung,die Auseinandersetzung mit Kinderwunsch und Elternschaft in den letzten Jahren zugenommen» erklärt Simone Rychard, auf der Fachstelle tätige Psychologin. Als Thema in den Beratungen an der Fachstelle sei der Kinderwun schzwar präsent, aber mache doch nur einen sehr kleinen Anteil aus.»
Werdende Eltern mit Lern- oder geistiger Beeinträchtigung stehen oft bereits vor und vor allem auch nach der Geburt ihres Kindes unter Beobachtung und werden aus dem Umfeld häufig mit Bedenken, Besorgnis oder auch Ablehnung konfrontiert», konstatiert Simone Rychard. «Bereits während der Schwangerschaft erleben die Mütter und Väter, dass ihre elterlichen Fähigkeiten beurteilt und infrage gestellt werden, und nach der Geburt sollten sie die entsprechenden Kompetenzen quasi sofort beweisen können.» Damit einerseits das Kindeswohl sichergestellt, andererseits aber auch die notwendige Unterstützung angeboten werden könne,werde von Eltern mit geistiger Beeinträchtigung zudem verlangt, dass sie verschiedensten Fach- und Begleitpersonen Zugang zu ihrem ganz privaten familiären Umfeld gewähren. «Somit erleben werdende und junge Eltern mit geistiger Beeinträchtigung besondere Herausforderungen, denen Eltern ohne Beeinträchtigung in der Regel nicht ausgesetzt sind.»

Flexible Unterstützung und mehr Mut

Dass junge Schwangere von den Behördenunter Druck gesetzt werden, einen Abbruch vornehmen zu lassen, wie es Priska im Gespräch erwähnte, hat Simone Rychard in ihren bisherigen Beratungen nicht angetroffen. Sie weiss jedoch von Situationen, in denen Personen aus dem professionellen, behördlichen oder auch familiären Umfeld einen Kinderwunsch nicht unterstützen respektive eine Schwangerschaft möglichst zu verhindern versuchen. Auch bekannt sind ihr frühe und wiederholte Hinweise auf das an erster Stelle stehende Kindeswohl und einen möglichen Obhutsentzug bei Nichterfüllung der elterlichen Pflichten, was den Charakter einer Drohung aufweisen könne.

Simone Rychard verweist auf die Begleitete Elternschaft, wie es sie in Deutschland gibt. «Den Aufbau eines entsprechenden Unterstützungsangebotes in der Schweiz erachte ich als dringend notwendig.Es braucht langfristige Unterstützungs- und Wohnmöglichkeiten, die ganz individuell auf die jeweiligen Familien ausgerichtet werden können. Die Entwicklung des Kindes hat zudem rasche Veränderungen der Ausgangslage zur Folge und verlangt deshalb ein hoch flexibles Unterstützungssystem. Im Weiteren braucht es aus meiner Sicht in Bezug auf Personen,die in einem institutionellen Umfeld leben, deutlich mehr Mut, Bereitschaft und auch Kreativität der Einrichtungen dazu,eine Begleitung auch bei einer anstehenden Elternschaft weiterzuführen.»

Porträtserie
Auf Augenhohe
Der junge Berner Fotograf Ruben Hollinger legt eine Serie von Bildern von Eltern mit einer kognitiven Beeintrachtigung und ihren Kindern vor Behutsam nahert er sich dem Alltag der Menschen, zeigt sie mit ihrem Kind zu Hause,beim Einkaufen oder auf dem Spielplatz Er habe versucht, die Portrats «in einer Atmosphare auf Augenhohe» zu schaffen, sagt er in einem Gesprach Entstanden sind die Fotos in Deutschland, im Raum Berlin-Brandenburg, woes das Netzwerk «Begleitete Elternschaft»(siehe Box «SEPIA-Studie») gibt und wo es moglich war, Mutter, Vater und ihre Kinder in ihrem Wohnumfeld zu fotografieren Ruben Hollinger hat aus seinen Bilder kein fertiges Fotobuch gemacht, vielmehr konnen Interessierte in Workshops das Buch selber binden,zum Beispiel im Rahmen eines Festivals odereiner Fotoausstellung, zwei langere Interviewserganzen die Bilder


Andrea Müller, «Im Spannungsfeld zwischen El-ternschaft und Kindeswohl. Braucht es sozialpäda-gogische Unterstützung, wenn Elternschaft durcheine geistige Behinderung erschwert wird?»Diplomarbeit, hsl, Luzern 2011.

 

Mehr dazu www benni ch undwww rubenhollinger ch
Die nachste Moglichkeit, einen Workshop zu besuchen, bietet sich am Wochenende vom 17 bis19 Mai im UNESCO-Gebaude in Naters (VS)Infos uber www jungfraualetsch ch/de/kontakt-wnf

SEPIA-Studie
Die Entwicklung von Kindern mit kognitiv beeinträchtigten Eltern

Die SEPIA-Studie (Studies an Parents and Parenting with Intellectual Disability), ein Projekt desSchweizerischen Nationalfonds an der Universität Fribourg, untersuchte im Zeitraum 2014 bis 2017 die Entwicklung von Kindern mit intellektuell beeinträchtigten Eltern.Ergänzend dazu wurde in Deutschland eine Studie über die Lebenssituation von Kindern und Eltern erstellt(SEPIA-D). Im Rahmen der SEPIA-Studie entstandzudem das Projekt «StoRCh», das dank einer lebensechten Simulationspuppe ein praxisnahes Übungsfeld für den Umgang mit einem Säugling bietet.

Die Häufigkeit und der Schweregrad von Entwicklungsstörungen bei Kindern von kognitiv beeinträchtigten Eltern sind bis jetzt wenig erforscht.Das gilt auch für die Faktoren, welche die kindliche Entwicklung beeinflussen können. Umso wichtiger ist die Grundlagenforschung, wie siedie SEPIA-Studie unternimmt.

Wie Dagmar Orthmann vom HeilpädagogischenInstitut der Universität Fribourg vergangenes Jahran einer Fachtagung ausführte, sind die Probleme, die intellektuell eingeschränkte Eltern beider Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben haben, eine Folge verschiedener Faktoren. Sind Mütter mit einer Behinderung in der Lage, adäquat auf die Bedürfnisse eines Babys, eines Kleinkinds einzugehen? Können sie pflegerische Leistungen erbringen, sind sie in der Lage, auf die emotionalen Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen? Und können sie ihre Kinder im Schulalter unterstützen? Oftmals bringen Mütter (und Väter)mit einer Beeinträchtigung selbst soziale und familiäre Belastungen mit. Doch könnten Eltern mit Beeinträchtigungen, so die Autorin der Studie,Kompetenzen erwerben. Wichtig ist, dass Mütter,Väter und ihre Kinder eine verlässliche langfristige Begleitung im Alltag erhalten. Gesundheitliche, kognitive, soziale und emotionale Risiken können so minimiert werden. In Deutschland wird seit den 1990er-Jahren unter dem Begriff Begleitete Elternschaft eine spezifische Hilfsstruktur aufgebaut, die das Kindeswohl sichert und dauerhafte Lebensperspektiven für die Familien gewährleistet. In der Schweiz gibt es bis anhin keine solchen Strukturen.
http://fns.unifr.ch/sepiawww.begleiteteelternschaft.de

Fehlende Lobby fürs hindernisfreie Bauen

(Zuger Woche)

Das hindernisfreie Bauen ist heute selbstverständlich. Dies denken die meisten Personen. Doch dem ist leider nicht so. Ein Beispiel ist die kürzlich erfolgte Revision des Bau- und Planungsgesetzes im Kanton Zug.

CVP Seit Anfang 2019 ist das revidierte Bau- und Planungsgesetz in Kraft. Mit der Revision wurden baurechtliche Vorgaben im Kanton Zug vereinheitlicht.Die Vereinheitlichung macht Sinn, denn zuvor galten in den verschiedenen Gemeinden zum Teil unterschiedliche Vorgaben, was es für die Bauherrschaften nicht einfach machte.


Manuela Leemann, CVP Kantonsrätin Zug

 

Unbefriedigend und ärgerlich ist aber die Umsetzung der Vereinheitlichung im Bereich des hindernisfreien Bauens. Neu gelten nur noch die kantonalen Vorgaben zum hindernisfreien Bauen, die Gemeinden dürfen keine weitergehenden Anforderungen mehr verlangen. Dies bedeutet eine Schwächung des hindernisfreien Bauens. Z.B. mussten vor 2019 in neun Gemeinden bei Arealbebauungen sämtliche Wohnungen «anpassbar» ausgestaltet werden, neu muss nur noch die Mehrheit der Wohnungen «anpassbar» sein. Folglich werden künftig weniger Wohnungen so erstellt, dass sie bei Bedarf hindernisfrei angepasst werden können. Wie kann es heutzutage noch zu solchen Verschlechterungen kommen? Einerseits fehlt der Einbezug von Fachorganisationen. Weder Pro Infirmis, noch Pro Senectute oder der Seniorenverband wurden im Vernehmlassungsverfahren eingeladen, zu den Änderungen Stellung zu nehmen.

Andererseits fehlt eine Behinderten- und Alterslobby. Die Klimabewegung zeigt in eindrücklicher Weise den Einsatz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe für ein Anliegen. Dies fehlt im Alters- und Behindertenbereich. Die Direkt-Betroffenen sind vor allem ältere,kranke und behinderte Personen, also Personen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Beschwerden oft nur beschränkt für ihre Anliegen einsetzen können. Es liegt daher an der Gesellschaft und der Politik, die Anliegen von älteren, kranken und behinderten Personen auch ohne Lobby geltend zu machen und zu berücksichtigen.

Wo Behinderte im Alltagauf Hürden stossen

(Südostschweiz am Wochenende / Linth Zeitung)

Wo steht der Kanton St. Gallen in seiner Behindertenpolitik und welche Schwerpunkte sind in den nächstenJahren geplant? Eine Tagung mit Betroffenen gewährt Einblicke und zeigt auf, wo noch viel zu tun ist.


Angeregte Podiumsdiskussion: Vertreter von Behindertenorganisationen erzählen von ihren Erfahrungen.RAMONA NOCK

 

VON RAMONA NOCK

Eine Frau mit einem Blindenhund, unterwegs in der Stadt St. Gallen. Geschickt bahnt sie sich am Bahnhof den Weg zum richtigen Perron, erkennt Hindernisse durch Abtasten und meistert Treppen und Trottoirs gleichermassen.

Was einfach aussieht trügt. Domenica Griesser, die Frau aus dem Video mitschnitt, musste vieles von Grund auf neu lernen. Seit ihrer Jugend ist sie blind, plötzlich sah sie Trottoirränder nicht mehr, stiess in andere Menschen und Gegenstände. «Eine Sehbehinderung stellt das ganze Leben auf den Kopf»,schildert sie. «Man muss sich neu orientieren und sein Leben neu sortieren.»

Mitmachen und mitbestimmen

Heute ist Griesser Vorstandsmitglied des Schweizerischen Blindenverbandes. Als Vertreterin einer Behindertenorganisation hat sie am Donnerstag im Pfalzkeller St. Gallen die Tagung des Kantons zur Zukunft der Behindertenpolitik eröffnet.Vertreter verschiedener Behinderteninstitutionen wollten sich ein Bild darüber machen, welche behindertenpolitische Akzente der Kanton in den nächsten Jahren setzen will. «Mitreden, mitmachen,mitbestimmen» lautete das Motto.

Das Motto sei gleichermassen das Zielder kantonalen Behindertenpolitik, erklärte Regierungsrat Martin Klöti (FDP).Anfang Jahr hat der Kanton einen sogenannten Wirkungsbericht veröffentlicht.Dieser soll aufzeigen, wie die Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderung aussehen und ob sie der Gesetzgebung entsprechen. «Wie wirkt das Gesetz und was ist zu verbessern?», veranschaulichte Klöti. Menschen mit Behinderung sollten etwa keine Nachteile haben und nicht ausgegrenzt werden.

Aus diesem Grund hat das Amt für Soziales die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Kanton untersucht.Mit dem Ergebnis: Es gibt noch Handlungsbedarf. Zum Beispiel würden Betroffene im Alltag oft daran scheitern,dass etwas kompliziert sei, Geld koste,oder dass sie eine Begleitung bräuchten.Auch würden sich Arbeitgeber zu wenig Gedanken darüber machen, wie sie jemanden mit Handicap einstellen könnten.

400 000 Franken vom Kanton

Aufgrund der Ergebnisse des Berichts hatder Kanton Massnahmen bestimmt und macht Empfehlungen für den Zeitraum 2019 bis 2023. Konkret sind drei Pilotprojekte geplant. Mit einem Förderkredit von 400 000 Franken kann der Kanton ab Mai jedes Jahr 80 000 Franken für nachhaltige Projekt sprechen – Projekte,die Menschen mit einer Behinderung stärken und bei denen sie aktiv mit wirken. Zudem will der Kanton zusätzliche Nischenarbeitsplätze in der kantonalen Verwaltung schaffen. Im dritten Pilotprojekt geht es darum, dass Betroffene vermehrt andere Betroffene beraten -zum Beispiel bei einem Wechsel von einer Wohngruppe in eine eigene Wohnung.

Alle mit einbeziehen

Am Bericht haben die Verteter von kantonalen Behindertenorganisationen sowie Angehörige und Fachleute mitgewirkt. Domenica Griesser sagt, sie habe diesen Prozess als sehr fruchtbar erlebt.«Es war ein Novum, dass erstmals verschiedene Behindertengruppen am gleichen Tisch über das gleiche Thema sprachen», schilderte sie. Ihr sowie anderen Betroffenen sei nämlich wichtig, «dass man Entscheidungen nicht über uns Behinderte fällt, sondern mit uns».

In anschliessenden Podiumsgesprä-chen hatten Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung sowie Vertreter von Behindertenorganisationen die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge darzulegen und auf Alltagsschwierigkeiten hinzuweisen. So seien zahlreiche Homepages nicht barrierefrei, sagte Griesser.Auch beim Ausfüllen von Formularen im Internet würden Blinde an ihre Grenzen stossen.

80 000 Franken kann der Kantonab Mai jedes Jahr für nachhaltige Projekte sprechen – Projekte,die Menschen mit einer Behinderung stärken und bei denen sie aktiv mit wirken.

Ein Problem für Menschen mit einer geistigen Behinderung sei das Amtsdeutsch, sagte Hansueli Salzmann, Geschäftsleiter Procap St. Gallen-Appenzell «Sie sind darauf angewiesen, dass etwa Abstimmungsunterlagen in einfacher Sprache abgefasst sind.» Ob dem «Amtsdeutsch» würden Betroffene nämlich teils verzweifeln.

«Wohngruppe» statt «Heim»

Auch das Thema Wohnen gibt in Behinderteninstitutionen zu reden. Wie Therese Wenger von Pro infirmis St. Gallen-Appenzell darlegte, geht es vor allem um das Thema Wahlfreiheit. Menschen mit einer Behinderung müssten genügend darüber informiert werden, was eine Wohnung oder eine Wohngruppe bedeute, wo Möglichkeiten und Grenzen lägen.Klar wurde an diesem Nachmittag auch: Betroffene sind oft unzufrieden mit Begriffen, welche die Gesellschaft für sie bestimmt hat. Wie ein Votum aus dem Publikum zeigte, empfinden Betroffene den Begriff «Wohnheim» als diskriminierend. Dies, weil es den Fokus auf die Behinderung lege. «Lieber wäre uns das Wort Wohngruppe», sagte eine junge Frau. «In einer Wohngruppe zu wohnen,ist cool – man denkt dabei an eine WG,nicht an ein Heim für Behinderte.

Drei Fragen an…


HANSUELI SALZMANN Geschäftsleiter Procap St. Gallen-Appenzel

 

1 Welche der angekündigten Akzente der kantonalen Behindertenpolitik stehen für Sieim Zentrum?

Für Menschen mit einer Behinderung ist der Zugang zu finanziellen Mitteln, die für sie existenzsichernd sind, oft mit vielen Hürden verbunden. Beispiele sind Ergänzungsleis tungen oder IV-Gelder. Deswegen begrüsse ich den Förderkredit von 400 000 Franken, den der Kantondie nächsten fünf Jahre für entsprechende Projekte bereitstellt. Es wird sich zeigen, wie niederschwellig dieses Angebot für Menschen mit einer Behinderung ist – ob sie solche Gelder selber beantragen können oder dafür eine Organisation im Rücken brauchen. Wünschenswert wäre, dass es für sie einen einfachen Zugang zu diesen Mitteln gäbe.

2 Wo besteht aus Ihrer Sichtaktuell der grösste Hand-lungsbedarf für Menschen miteiner Behinderung?

Was oft fehlt, ist der hindernisfreie Zugang zu öffentlichen Gebäuden.Museen oder Konzerte sollen auch Personen mit Handicap autonom besuchen können. Dies sollte bei Neubauten unbedingt bedacht werden. Aktuell sind nämlich die meisten Betroffenen auf Unterstützung aus ihrem Umfeld angewiesen.Auch beim öffentlichen Verkehr sind wir noch nicht dort, wo wir gern wären. Ohne Fremde um Hilfe zufragen oder jemanden als Begleitperson dabei zu haben, ist es für viele Menschen mit einer Behinderung schwierig, den ÖV zu nutzen.

3 Der Kanton will Begegnun-gengen zwischen Menschenmit einem Handicap und derBevölkerung fördern. Wo stehenwir diesbezüglich heute?

Ich denke, für viele ist es nach wie vor eine grosse Hemmschwelle, im Alltag Menschen mit einer Behinderung anzusprechen. Was ich oftmals von Betroffenen höre, ist, dass sie von Fremden einfach geduzt werden. Damit setzt man sie auf ein kindliches Niveau, was verletzend ist. Hier braucht es ein Umdenken: Menschen mit einer Behinderung sollen in erster Linie als Menschen wahrgenommen werden und nicht kategorisiert und auf ihre Defizite reduziert werden.

Kinder mit Down-Syndromund Autismus

(Schweiz am Wochenende / Solothurn-Grenchen)

Die Kita Lommiswil nimmt auch Kinder mit Down-Syndrom (Trisomie 21) und Autismus auf. Dies in enger Zusammenarbeit mit der Pro Infirmis Aargau-Solothurn und dem heilpädagogischen Dienst.

Beim Down-Syndrom handelt es sich um eine unveränderbare genetische Besonderheit. Dadurch wird die körperliche und geistige Entwicklung in nicht vorhersehbarer Weise beeinflusst. Der Autismus ist eine neurologische Besonderheit, verbunden mit Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, Kommunikation und dem sozialen Verständnis.

Grundsätzlich sind Kitas und Horte aufgrund des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes verpflichtet, auch solche Kinder aufzunehmen. Eher seltenist es, dass eine Einrichtung bereits praktische Erfahrungen gesammelthat. Beim autistischen Knaben, den der Hort in Lommiswil bis zum letzten Herbst betreute, hat sich gezeigt, dasses eine 1:1-Betreuung braucht. Der Knabe habe zwar viel mit den andern Kindern gespielt, aber auch seine Rückzugsmöglichkeiten ausgenutzt.Aktuell wird in der Kita ein Kleinkind mit dem Down-Syndrom betreut. Die Betreuerinnen haben dazu eine Weiterbildung durch den Heilpädagogischen Dienst Solothurn erhalten. Der Dienst besucht die Kita regelmässig und gibt Tipps. Der grösste Teil der Betreuungskosten wird von der Pro Infirmis übernommen. (ucL)

Laut Kassensturz erlaubt Luzerner KKL im Konzertsaal keine Krücken

(Nau.ch)

Beitrag von Michael Bolzli

Gemäss eines Berichts des Kassensturz erlaubt das KKL keine Krücken im Konzertsaal. Grund seien Sicherheitsgründe. Pro Infirmis hat dafür kein Verständnis.


Laut dem Kassensturz sind im Konzertsaal des KKL keine Krücken erlaubt. – Keystone

 


Das Wichtigste in Kürze

– Krücken und Blindenhunde sind im Konzertsaal des KKL nicht erlaubt.
– Dies aus Sicherheitsgründen, heisst es bei KKL.
– Pro Infirmis kann die Argumentation nicht nachvollziehen.


Das Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) steht in der Kritik. Grund: Im Konzertsaal sind keine Krücken erlaubt. Dies berichtet der «Kassensturz».

Das Konsumentenmagazin erklärt das Vorgehen anhand eines Mannes, der an einem Geburtsgebrechen leidet. Er ist dank Krücken eigentlich völlig selbständig unterwegs.

Doch jedes Mal nehmen ihm im KKL die Angestellten die Gehhilfen ab. «Schliesslich fragte ich nach dem Grund. Der Platzanweiser antwortete, es sei aus Sicherheitsgründen», sagt er dem «Kassensturz».


Menschen mit Gehbehinderung müssen laut Kassensturz im Konzertsaal des KKL die Krücken abgeben. – Keystone

 

Das KKL erklärt sich: «Gäste mit Beeinträchtigungen werden im KKL Luzern von unseren Mitarbeitern vor Ort im Umfang ihrer Möglichkeiten betreut. Pro Türe befände sich permanent ein Mitarbeiter im Konzertsaal. «So dass unsere Konzertgäste hier zu keinem Zeitpunkt auf sich alleine gestellt sind.»

KKL ist laut Kassensturz ein Einzelfall

Mit dieser Praxis ist das KKL allein. Das Verkehrshaus Luzern erlaubt Krücken im Saal, das Theater Luzern ebenso.

Bei Pro Infirmis kann man die Begründung nicht nachvollziehen. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Krücke in einem grossen Konzertsaal stört», sagt Silvan Rüssli dem «Kassensturz». Die Gehhilfen seien ein zentrales Hilfsmittel. «Nimmt man sie weg, werden Betroffene erst recht unsicher.»


Auch Blindenhunde müssen vor der Tür warten. – Keystone

 

Pikant: Auch Blinden- und Assistenzhunde werden beim KKL vor die Tür verbannt. Das sei schlecht für Mensch und Tier.

«Die Betroffenen fühlen sich ohne Hund unsicher. Blindenhunde sind zudem geschult, dass sie ihren Schützling nicht verlassen», so Rüssli. «Kann er nicht an seiner Seite bleiben, ist das für den Hund purer Stress.»

Sozialdetektive bleiben nun doch anonym

(Neue Zürcher Zeitung)

Bundesrat Alain Bersets Vorschläge im Kampf gegen Sozialbetrüger stehen in der Kritik.


Bürgerliche Politiker halten die Sicherheit von Sozialdetektiven für gefährdet, wenn deren Namen bekannt sind KARIN HOFER / NZZ

 

FABIAN SCHÄFER, BERN

Vor der Abstimmung über Sozialdetektive stellte der Bundesrat ein öffentliches Register mit allen Ermittlern in Aussicht. Nun krebst er zurück. Die bürgerlichen Sozialpolitiker verlangen noch weitere Korrekturen.

Die Debatte um verdeckte Observationen durch Sozialversicherungen beginntvon neuem. Letzten November hiess das Volk eine neue gesetzliche Grundlage gut, dank der vor allem die IV und die Suva wieder Detektive einsetzen können, wenn sie den Verdacht haben, dass jemand unrechtmässig Leistungen bezieht. Vor der Abstimmung wurde primär darüber gestritten, an welchen Orten mutmassliche Betrüger gefilmt werden dürfen. Nun geht es vor allem um dieFrage, welche Anforderungen Sozialdetektive erfüllen müssen, um eine Bewilligung des Bundes zu erhalten.

Die Regeln dazu wird der Bundesrat in einer Verordnung festlegen. Deren Entwurf hat Sozialminister Alain Berset (sp.) bereits letzten Herbst veröffentlicht und in eine Vernehmlassung geschickt,damit man sich vor der Abstimmung «ein umfassendes Bild» machen könne.

Kritik von IV-Stellen

Nun dürfte dieses Bild anders ausfallen als geplant. Der Bundesrat hat die Verordnung noch nicht verabschiedet, doch dem Vernehmen nach plant das Departement Berset Änderungen. Das gilt auch für einen der auffälligsten Punkte: Der Entwurf sah vor, dass der Bund «ein öffentlich einsehbares Verzeichnis» führt,in dem alle zugelassenen Sozialdetektivenamentlich aufgelistet sind. Dieser Plan stiess in der Vernehmlassung auf massive Kritik. Vor allem die IV-Stellen, aber auch mehrere Kantonsregierungen sprachen sich dagegen aus. Aus ihrer Sicht würde es Sinn und Zweck verdeckter Observationen fundamental zuwiderlaufen, wenn öffentlich bekannt ist, wer diese durch führen kann. Das Innendepartement hat reagiert und die öffentliche Einsehbarkeit aus dem Entwurf entfernt.

Doch das genügt den bürgerlichen Sozialpolitikern nicht. Sie haben das Thema Anfang April in der Sozialkommission des Nationalrats mit Berset diskutiert und da nach weitergehende Korrekturen verlangt. Auf das Verzeichnis wollen sie gleich ganz verzichten. Andernfalls sei zu befürchten, dass Anwälte oder Journalisten die Herausgabe der Liste mit Verweis auf das Öffentlich-keitsprinzip verlangten und diese publizieren würden, sagt SVP- Nationalrat Thomas Aeschi. «Wenn die Detektive namentlich bekannt sind, sind keine wirkungsvollen Observationen mehr möglich.» Es komme ja auch niemandem inden Sinn, die Namen der verdeckten Ermittler der Polizei im Internet zu veröffentlichen. Aeschi warnt gar davor,dass die Detektive in Gefahr geraten könnten, wenn sie von überführten Betrügern heimgesucht würden.

Die SVP hegt ohnehin den Verdacht,der Bundesrat wolle die Reform im Nachhinein entschärfen. Berset verhätschle Sozialbetrüger, schimpft die Partei in einer Mitteilung. Aeschi argumentiert vorallem mit den hohen Anforderungen, die Sozialdetektive erfüllen müssten. Gemäss dem ursprünglichen Entwurf müssten sie eine Polizeischule oder eine gleichwertige Ausbildung absolviert haben. Zudem sollten sie einschlägige Erfahrungen mitbringen, wobei unklar sei, wie sie diese sammeln könnten.

Regeln für externe Detektive

Noch in einem anderen Punkt schiesst Berset aus Sicht der SVP über das Ziel hinaus: Nicht nur externe, freischaffende Detektive müssten eine Bewilligung beim Bund beantragen, sondern auch jene, die bei einer Versicherung angestellt sind. «Das geht zu weit», findet Aeschi. Es sei un nötig, dass der Bundden Versicherungen hier Vorschriften mache. «Sie müssen selber die Verantwortung übernehmen, dass ihre Angestellten die Regeln einhalten.» Dieser Forderung hat sich auch die Sozialkommission des Nationalrats angeschlossen.

Ganz anders sieht es SP-Nationalrätin Silvia Schenker: Nicht Bundesrat Berset wolle das Gesetz im Nach hinein entschärfen, sondern die Bürgerlichen und die Versicherungen seien nicht mehr bereit, ihre Versprechungen aus dem Abstimmungskampf einzuhalten. «Damals wurde angekündigt, dass nur ausgewiesene Spezialisten observieren dürfen,und nun soll das für angestellte Detektive plötzlich nicht mehr gelten», kritisiert Schenker. Das sei nicht nachvollziehbar, alle Detektive brauchten das-selbe Know-how.

Schenker weist auch das Argumentzurück, die Verordnung bewirke unnötige Bürokratie. Im Abstimmungskampf sei immer argumentiert worden,Überwachungen seien lediglich Ultima Ratio und deshalb relativ selten. «Das ollte es zumutbar sein, dass die Versicherungen für ihre wenigen Detektive Bewilligungen einholen müssen.»

Wie die Verordnung am Ende ausfällt, entscheidet der Bundesrat. Die Forderungen der Sozialkommission sind blosse «Empfehlungen». Ihr Gewicht wäregrösser, wenn sich auch die Kommissiondes Ständerats angeschlossen hätte. Siehat diese Woche aber darauf verzichtet,Empfehlungen abzugeben.

Die Gemeinden sind gefragt!

(Bündner Nachrichten)

Menschen mit einer Mobili-tätseinschränkung müssenden öffentlichen Verkehrselbständig und autonombenützen können. Da fürs ind bis 2023 die Bus- und Postautohaltestellen nachdem Behindertengleichstel-lungsgesetz (BehiG) behindertengerecht um zubauen. Menschen mit Mobilitätsbehin-derungen fordern seit Jahren gemeinsam mit den Behindertenor-ganisationen – allen voran Procap und Pro Infirmis mit der Fachstelle hindernisfreies Bauen – die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben.

Nun zeigen sich die Erfolge dieses Engagements:
Der Kanton stellt den betroffenen Gemeinden Finanzhilfen sowie weitere Unterstützungsleistungen in Form einer Planungshilfe zur Verfügung. Procap und Pro Infirmis erwarten nun von den Gemeinden,dass sie ihre gesetzliche Sanie-rungspflicht wahrnehmen und die Chance auf die erhöhten Förder-beiträge nutzen.

Im Kanton Graubünden sind über 4200 Haltestellen und Bushalte-kanten zu überprüfen. Im KantonGraubünden liegt die Zuständig-keit und Verantwortung für dieUmsetzung der gesetzlichen Anforderungen bei den Bushaltestellen (Strasseninfrastruktur) weitgehend bei den Gemeinden.

Als erster Schritt sind die Gemein-den eingeladen, ihre Umbauprojekte bis Ende Juni beim zustän-digen Amt anzumelden. Bis Ende 2023 können die Anträge auf Mit-finanzierung eingereicht werden.Durch den Umbau von Bushaltestellen werden Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung selbständig und autonom den Zugangzu einem umfassenden Netz desöffentlichen Verkehrs erhalten.Auch Fahrgäste ohne körperlicheBeeinträchtigungen – z. B. beim Mit führen von schwerem Gepäckoder von Kinderwagen – profitieren von hindernisfrei nutzbaren Bushaltestellen.

Procap, vertreten durch Geschäftsleiter Philipp Ruckstuhl und Pro Infirmis Graubünden, vertretendurch die Kant. Geschäftsleiterin Katrin Thuli-Gartmann: «Wir begrüssen die Offensive des Kantons sehr und fordern die Gemeinden auf, die Unterstützung des Kantons anzunehmen. Den zuständigen Gemeinden bleiben nur noch fünf Jahre für diese wichtige Aufgabe!