Erste Massnahmen zur IV-Revision

(Walliser Bote/sda)

Nationalrat dürfte einer Kürzung der Kinderrenten zustimmen


Invalidenversicherung. Kommissionssprecher Christian Lohr,CVP/TG, rechts, eröffnet neben dem Walliser Philippe Nantermoddie Debatte.FOTO KEYSTON

 

Der Nationalrat begrüsst die Stossrichtung derneusten IV-Revision, die auf Jugendliche und psychisch Kranke ausgerichtet ist. Er hat am Mittwoch erste Entscheide gefällt. Noch nicht entschieden hat er, ob die Kinderrenten gesenkt werden sollen.

Nach der Debatte zeichnet sichein Ja zur umstrittenen Kür-zung ab: Neben der SVP undder FDP befürworten auch dieMehrheit der CVP sowie Teileder GLP und der BDP die Massnahme, wie die Fraktionssprecher sagten.Vorgeschlagen hat die Kürzung nicht der Bundesrat, sondern die Sozialkommission des Nationalrates. Dabei geht esum das Geld für Kinder von IV-Rentnern, das heute «Kinderrente» genannt wird und künftig «Zulage für Eltern» heissensoll. Nach dem Willen der Kommission soll die Zulage von 40 auf 30 Prozent der Rente gesenkt werden.

Falsche Anreize

Die Befürworterinnen und Befürworter argumentierten, es brauche weiterhin Sparmassnahmen bei der IV. Ausserdemführten die heutigen Rentenbei kinderreichen Familien zu Fehlanreizen.

Es dürfe nicht sein, dass Familien mit IV-Rente bessergestellt seien als Familien, dieihren Unterhalt selber verdienten, erklärte Ruth Hum-bel (CVP/AG). Bei einer voll IV-Rente von 2370 Franken be-9Atrage die Kinderrente heute 948 Franken pro Kind. UnterUmständen kämen noch Familienzulagen von einem erwerbstätigen Elternteil hinzu.

Unverantwortlich und beschämend

Gegen die Kürzung stellte sichdie Ratslinke. Es gehe um über70 000 Kinder von IV-Bezügernund über 26 000 Kinder von AHV-Bezügern, gab Maya Graf(GrüneIBL) zu bedenken. Eine Kürzung wäre unverantwortlich und beschämend.Sie könnte Familien in Not bringen. Die Betroffenen müsstenErgänzungsleistungen beantragen, womit die Kosten lediglichverlagert würden.

Silvia Schenker (SP/BS) bezeichnete die geplante Rentenkürzungals«unnötige Macht demonstration gegenüber den Schwächsten». Bereits heute sorge eine Regelung dafür, dass es nicht zueiner Überversicherung komme. Über die Kürzung der Kinderrenten sowie ein neues stufenloses Rentensystem wird der Rat am Donnerstag-morgen entscheiden.

Bereits entschieden hat erüber Massnahmen zur Eingliederung von Jugendlichen und psychisch Kranken. Dass es hier noch Verbesserungspotenzial gibt, war unbestritten. Zum ersten Mal stehe eine Reform zur Debatte, bei der es nicht ums Sparen, sondern um Optimierungen gehe,sagte Kommissionssprecher Christian Lohr (CVP/TG). Jede gelungene Integration eines jungen Menschen in den Arbeitsmarktspare der IV nicht nur eine Rente, sondern gebe dieser Person eine Lebens- und Arbeitsperspektive.

Frühzeitige Erfassung

Künftig sollen Jugendliche schon ab dem 13. Altersjahrder IV gemeldet werden können, damit diese Unterstützungsmassnahmen ergreifenkann. Die SVP stellte sich ver-geblich dagegen. Verena Her-zog (SVP/TG) warnte, bald wer-de jeder in die IV abgeschoben,der eine intensive Pubertät durchmache.

Die Befürworter der Früherfassungargumentierten,heute bestehe eine Lücke beiden heiklen Übergängen vonder Schule in die Lehre und von der Lehre in den Arbeitsmarkt.Mit frühzeitiger Unterstützung könnten längerfristig Kosten gespart werden.

Drohende Arbeitsunfähigkeit

Der IV gemeldet werden können nach dem Willen das Nationalrates künftig nicht nurarbeitsunfähige,sondern auch von einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit bedrohte Personen.

Eine weitere Neuerung betrifft medizinische Eingliede-rungsmassnahmen. Jugendliche sollen künftig bis zum vollendeten 25.Altersjahr und nicht nur bis zum 20. Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen haben, die unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben gerichtet sind. Ja sagte der Nationalrat ferner zu Änderungen bei den Taggeldern für junge Erwachsene. Das Ziel ist es, Fehlanreize zu beseitigen. Im heutigen System kann das Taggeld fürjunge Versicherte deutlich höher sein als der Lohn, den Gleichaltrige ohne gesundheitliche Beeinträchtigung in der Ausbildung erhalten.

Um den Anreiz zur Erwerbstätigkeit zu erhöhen,soll nun das Taggeld der Höhe eines Lohns für Lernende angeglichen werden, abgestuft nach Alter.

Weitere Gesetzesänderungen betreffen Geburtsgebrechen. Der Nationalrat ist einverstanden damit, dass fürdiese klare Kriterien im Gesetz verankert werden.

EL-Reform auf der Zielgeraden

(parlament.ch)

Medienmitteilung 07. März 2019

Die Einigungskonferenz hat die in der EL-Reform (16.065) verbleibenden Differenzen bereinigt und den Einigungsantrag ohne Gegenstimme angenommen.

Der Antrag der Einigungskonferenz zur Reform der Ergänzungsleistungen (EL) beinhaltet folgende Punkte:

Verankerung einer Eintrittsschwelle: Alleinstehende Personen mit mehr als 100‘000 Franken Vermögen oder Ehepaare mit mehr als 200’000 Franken Vermögen sollen keine Ergänzungsleistungen beanspruchen können (Art. 9a ELG; mit 18 zu 6 Stimmen bei 2 Enthaltungen). In Abweichung von dem bisher vom Nationalrat unterstützen Modell soll dabei das Vermögen in Form von selbstbewohnten Wohneigentum aber in keinem Fall berücksichtigt werden. Entsprechend wird das hypothekarisch gesicherte Darlehen überflüssig (Art. 11a0 ELG). Das Wohneigentum fällt aber unter die gewöhnlichen Regeln der EL-Berechnung und wird dort abzüglich des Freibetrages als Vermögen angerechnet.

Rückerstattung der EL aus dem Nachlass: Nach dem Tode eines EL-Bezügers oder einer EL-Bezügerin sollen die erhaltenen EL aus jenem Teil des Erbes, der 40‘000 Franken übersteigt, an den Staat zurückerstattet werden (Art. 16a Abs. 1; gemäss Ständerat).

Vermögensfreibeträge: Die Freibeträge sollen auf den Stand vor der Neuordnung der Pflegefinanzierung gesenkt werden, dabei soll aber die Teuerung berücksichtigt werden (Art. 11 Abs. 1 Bst. c; gemäss Ständerat; einstimmig)

Möglichkeit der Abtretung und Ausbezahlung der EL-Beträge für Tagestaxen direkt an Heime und Spitäler (Art. 21a Abs. 1; gemäss Nationalrat; mit 25 zu 1 Stimme).

Der Einigungsantrag führt zu Einsparungen bei den EL von 453 Mio. Franken (gegenüber 427 Mio. gemäss Beschluss des Ständerates resp. 463 Mio. gemäss Beschluss des Nationalrates, vgl. Beilage). Er wird am Montag, 18. März im Ständerat und am Dienstag, 19. März im Nationalrat behandelt.

Die Einigungskonferenz tagte am 7. März 2019 in Bern unter dem Vorsitz von Joachim Eder (FDP, ZG) und in Anwesenheit von Bundesrat Alain Berset.

Ausbildung von behinderten Jugendlichen in Gefahr?

(Luzerner Zeitung)

Gleichstellung Der Bundesrat will die Dauer der beruflichen Grundbildung für Jugendliche mit Beeinträchtigungenkünftig selber festlegen. Der Verband Insos, der solche Ausbildungen anbietet, befürchtet eine Verkürzung.

Tobias BärVor bald fünf Jahren ist die Schweiz der Behindertenrechtskonvention der UNO beigetreten.Seither steht sie in der Pflicht,Menschen mit Behinderung Hin-dernisse aus dem Weg zu räumen, sie vor Diskriminierung zu schützen und ihre Gleichstellung zu fördern. Gestern haben der Branchenverband Insos,der Heimverband Curaviva sowie der Fachverband VAHS dargelegt,welchen Beitrag sie zur Umsetzung der Konvention leisten wollen. Die Verbände wollen sich inden kommenden fünf Jahren unter anderem dafür einsetzen,dass Jugendliche mit Beeinträchtigungen einen guten Zugang zur beruflichen Grundbildung haben. Genau diesen Zugang sieht Insos durch die laufende Revision der Invalidenversicherung(IV), die heute im Nationalrat debattiert wird, in Gefahr.

Es geht um die zweijährige praktische Ausbildung, die von der IV finanziert wird und die junge Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung auf eine berufliche Grundbildung oder auf das Arbeitsleben vorbereitet. Heute finanziert die IV diese Ausbildungen grundsätzlich für zwei Jahre.Zwischen 2011 und 2016 wurden lediglich die Kosten für ein Jahr übernommen. Das zweite Ausbildungsjahr wurde nur bezahlt,wenn gute Aussichten auf eine künftige Erwerbsfähigkeit im regulären Arbeitsmarkt bestanden.Das Bundesgericht schob dieser Praxis mit Verweis auf die fehlende gesetzliche Grundlage dannr einen Riegel vor.

Bundesrat will Dauerder Ausbildung festlegen

Bei der aktuellen IV-Revision will der Bundesrat nun eine gesetzliche Grundlage schaffen, mit derer die Dauer und den Umfang der Kostenzusprache selber festlegen könnte. Insos wehrt sich gegen diese Änderung, wie Sprecherin Barbara Lauber sagt: «Damit erhält der Bund die Möglichkeit,die Berufsbildung für junge Menschen mit Lernbeeinträchtigung erneut auf ein Jahr zu reduzie-

Barbara Lauber
Insos Schweizren.» Eine einjährige Ausbildung sei aber schlicht zu kurz. Lauber verweist auf die Erfahrungen von vor dem Bundesgerichtsurteil:«Die IV sparte zwar Geld. Gleichzeitig waren aber jedes Jahr über200 Jugendliche gezwungen,ihre Ausbildung vorzeitig abzubrechen.»

CVP-Nationalrat Lohrwill IV-Vorlage anpassen

Der CVP-Nationalrat ChristianLohr (TG) ist gleicher Meinung.«Wenn man von den Jugendlichen mit Beeinträchtigung verlangt, dass sie sich um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemühen, dann muss man ihnen auch die dafür nötigen Rahmenbedingungen bieten.» Lohr hat einen Antrag eingereicht mit der Forderung, dass die niederschwellige Ausbildung zwei bis vier Jahre dauern soll – gleich lange wie die reguläre berufliche Grundbildung. Auch der Dachverband der Behindertenorganisationen, Inclusion Handicap,setzt sich für eine mindestens zweijährige Ausbildung im geschützten Rahmen ein. Eine kür-zere Ausbildung erfülle die Vor-gaben der UNO -Behindertenrechtskonvention.

Die Hauptziele der IV-Revision unterstützt Inclusion Handicap aber. Eine positive Wirkung verspricht sich der Dachverband unter anderem von den Massnahmen für Jugendliche mit einer psychischen Beeinträchtigung:Die Vorlage des Bundesrates sieht vor, dass künftig auch Jugendliche und junge Erwachsene ein Anrecht auf Integrationsmassnahmen haben. Dabei werden etwa soziale Grundfähigkeiten eingeübt oder die Arbeitsmotivation gefördert. Heute sind solche Massnahmen den Erwachsenen vorbehalten.

Stägeli uf stägeli ab

(Zeitlupe)

Für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sind Treppen undRandsteine oft unüberwindbare Hindernisse. Der RollstuhlScewo Bro- voneinem Schweizer Start-up entwickelt-kannTreppensteigen und vieles mehr. Eine Probefahrt.TEXT: MARC BODMER, FOTOS: GERRY EBNER


Im Giraffen-Modus fährtder Scewo Brodie Sitzflächehoch underlaubtKonversationenauf Augen-höhe. Auchwenn hieretwas über-trieben wurde.

 

Nun stehe ich vor der Treppe. Wasfür mich sonst ein Klacks und inSekunden erledigt ist, scheint nununüberwindbar. Denn ich sitze ineinem Rollstuhl. Der ist zwar sehrbequem und motorisiert. Wenn ich Gas gebe, spü-re ich sogar etwas den Fahrtwind an meinen Ohren. Doch nun stehe ich da vor der Treppe.

Zum Glück sitze ich nicht in einem gewöhn-lichen Rollstuhl, sondern im Scewo Bro, einemPrototyp des Zürcher Start-ups Scewo. Vor derSteuerung auf der rechten Armlehne ist ein Smart-phone angebracht. Auf dem Display sind über-sichtlich verschiedene Symbole zu sehen. Ichdrehe mich mit dem Bro um die eigene Achse, wasbei dem zweirädrigen Modell, das elegant balan-ciert, kein Problem ist. Einmal mit dem Rückenzur Treppe, drücke ich auf das Piktogramm, dasden Scewo Bro auf einer Treppe zeigt. Danachziehe ich den Joystick gerade nach hinten, undmit einem leichten Ruckeln geht es die einst hin-derlichen Stufen hoch. Unter meinem Allerwer-testen fährt der Rollstuhl Raupen aus, die auswiderstandsfähigem Gummi gefertigt sind. Soweich, dass sie gut an den Kanten fassen, so hart,dass sie monatelang halten.

Wenige Sekunden später habe ich den erstenAbschnitt der eindrücklichen Treppe im Landes-museum in Zürich hinter mir. Eine Gruppe chinesischer Touristen staunt und filmt mit ihrenHandys den Treppenaufstieg dieses technischenWunderwerks, hinter dem ein junges Team ehe-maliger ETH- und ZHdK-Studenten (ZürcherHochschule der Künste) steckt. Vor gut vier Jahren haben sich acht MaschineningenieurStudenten und zwei Designer zusammengetan und ihreLego-Kisten ausgepackt. Lego? Mithilfe der Plastikklötzchen haben sie Modelle gebaut und ka-men so zum Schluss, dass zwei grosse Räder undzwei Raupen die beste Lösung sind für einen trep-pengängigen Rollstuhl. Danach wurde währendneun Monaten getüftelt und gebaut, bis der erstePrototyp Scalevo stand oder besser rollte.

«Der Scalevo schaffte es die Treppe hoch, dochder Übergang am Ende war kritisch», erinnertsich Bernhard Winter, Chef von Scewo. Die Telefone liefen beim Start-up Sturm. Alle wollten eineProbefahrt. Angespornt vom Erfolg meldete dasTeam sich für den Cybathlon 2016 an, eine Meisterschaft für Mensch und Maschinen. Der Scalevo kam genau einen Meter weit…Danach warSchluss. Trotz dieses herben Rückschlags mach-ten die jungen Ingenieure weiter und gründetenschliesslich 2017 die Firma Scewo. Ihre Vision:Der Rollstuhl muss funktionieren, und wenn manihn betrachtet, müssen die Augen funkeln. Essollte ein Rollstuhl werden mit dem Coolness-Faktor eines Teslas.

Wie das innovative US-Elektroauto hat derschicke Scewo extrem viel zu bieten und sieht erstnoch besser aus. Die Raupen helfen nicht nur dieTreppen hoch – selbst in alte Eisenbahnwaggonssoll er es schaffen -, sondern auch auf rutschigemUntergrund. Gerade in Museen, aber auch in an-deren Alltagssituationen fühlt man sich als Roll-stuhlfahrer nicht auf der Höhe. Wer das Giraffen-Piktogramm im Ruhemodus des Scewo drückt,wird auf eine Sitzhöhe von 90 cm gehoben. So fm-det manche Konversation auf Augenhöhe stattund Exponate müssen nicht länger von unten be-gutachtet werden. Handkehrum lässt sich derSitzplatz auf 47 cm absenken, so dass man gut ineinem Restaurant «unter den Tisch» fahren kann.

Nebst diesen mechanischen Vorteilen lässtsich der Sitz auch individuell anpassen. Rücken-lehne und Fussstützen sind elektrisch verstellbar.Die Sitztiefe kann mechanisch angepasst werden.All diese praktischen Funktionen hat DesignerThomas Gemperle in eine schicke Schale gepackt,die mit leuchtenden Akzenten und LED-Schein-werfern ausgerüstet ist. Seine durchdachte Arbeitwurde 2018 mit einem Beazley-Design-Preis aus-gezeichnet.Zurzeit besteht die Möglichkeit, den Prototypin Zürich und in Winterthur Probe zu fahren. Da-für braucht man sich nur auf der Website scewo.ch anzumelden.

Auch wenn der Rollstuhl schonsehr ausgereift ist und durch viele Details wie eineWertsachentasche unter dem Sitz besticht, nochsteht die Serienproduktion vor der Mir. Damit solles Ende 2019 losgehen. Erste Bestellungen sindbereits eingetroffen, obschon der Kaufpreis mit CHF 35500.- nicht ohne ist. Wie weit dieser vonder W übernommen wird, ist noch offen. Dochdie eifrigen Tüftler von Scewo sind mit der Inva-lidenversicherung in Verhandlung, und die Aussichten für eine Vollübernahme des Kaufpreisessehen nicht schlecht aus. Voraussetzung ist natürlich, dass man einen Anspruch auf eine Treppen-steighilfe hat.Nach meiner Testfahrt bin ich froh, wiederauf meinen beiden Füssen zu stehen. Doch einenbesseren Wegbegleiter als diesen schnittigenRollstuhl kann ich mir nicht vorstellen, und diestaunenden Blicke der Besucherinnen und Be-sucher im Landesmuseum, als es rückwärts dieTreppe hoch ging, werde ich auch nicht so schnellvergessen.


Rückwärts undsicher geht esmit dem Proto-typ die Treppehoch.

 


DieSteuerung istübersichtlichund einfach zubedienen

 

Erleichterter Zugang zur Beamtensprache

(Freiburger Nachrichten)

Der Kanton Freiburg heisst neue Bewohner mit einer Broschüre in zehn Sprachen willkommen. Nun gibtes eine vereinfachte Version für Personen mit Lese schwierigkeiten.

FREIBURG «Sie erhalten jedes Jahr ein Formular. Es ist eine Steuererklärung.Auf dieses Formular müssen Sie schreiben, wie viel Geld Sie verdienen (Ihr Einkommen) und wieviel Geld Sie auf der Bank haben (Ihr Vermögen).»

So werden, frei aus dem Französischen übersetzt, in einer Broschüre neue Einwohner im Kanton Freiburg begrüsst, die Mühe haben, Standardtexte zu lesen und zu verstehen.

Die neue Broschüre«DerKanton Freiburg heisst Sie willkommen» gibt es in zehn Sprachen, nun ist noch eine Versionin «Leichter Sprache» hinzuge-kommen. Die Justiz- und Sicherheits direktion hat diese gesternaneiner Medien-konferenz vorgestellt.

«Das Projekt hat einen sym-bolischen Wert», sagte Staats-rat Maurice Ropraz (FDP). «Es ist ein Zeichen des Kantons,dass er um eine gute Integration bemüht ist.» Die Fachstelle für Integration will mitder Broschüre neue Einwohner über den Kanton Freiburg,seine Bräuche und seine Funktionsweise informieren. «Wirerweitern nun den Kreis der Personen auf solche,deren Sprachkenntnisse nicht so gut sind oder die eine Behinderungaufweisen», sagte Ropraz.

Die Broschüre entstand in Zusammen arbeit mit Pro Infirmis Freiburg. Die Organisationverfügt über eine Fachstelle für Übersetzungenin «LeichteSprache».Deren Merkmale sind: einfache Wörter, kurze Aktivsätze, keine Abkürzungen und Stilmittel, Beispielefür komplizierte Wörter undauch eine lesbare Schriftart sowie Farben und Piktogramme.

Noch gibt es die Broschürein «Leichter Sprache» erst aufFranzösisch, es besteht aberdie Absicht, auch eine deutscheVersion herauszugeben.uh

IV-Bezüger müssensich wieder einglieder

(Neue Zürcher Zeitung)

Leiturteil zur Integration in die Arbeitswelt
KATHRIN ALDER

Das Gesetz ist klar: Bezüger einer IV-Rente haben laut Artikel 8 des Invali-denversicherungsgesetzes (IVG) einenAnspruch auf Massnahmen zur Wieder-eingliederung in die Arbeitswelt, sofernbestimmte Bedingungen erfüllt sind.Doch sind sie auch dazu verpflichtet, ansolchen Massnahmen teilzunehmen? Zum ersten Mal seit Inkrafttreten der 6. IV-Revision befasste sich nun dasBundesgericht mit dieser Frage. In seinem am Freitag publizierten Leiturteilkam es zum Schluss: IV-Rentenbezügerhaben nicht nur einen Anspruch aufMassnahmen zur Wiedereingliederung,sondern auch die Pflicht, sich an solchenMassnahmen zu beteiligen.

Konkret hatte die Erste sozialrecht-liche Abteilung des Bundesgerichts in Luzern folgenden Fall zu beurteilen: Die IV-Stelle des Kantons Uri hob bei einerIV-Bezügerin 2017 den Rentenanspruchauf, weil sie im Rahmen einer Eingliede-rungsmassnahme ein Belastbarkeitstrai-ning abgebrochen und es trotz Mahnund Bedenkzeitverfahren nicht wiederaufgenommen hatte. Nachdem dasUrner Obergericht ihre Beschwerde ab-gewiesen hatte, gelangte die Frau an dasBundesgericht. Doch auch die LuzernerRichter weisen ihre Beschwerde ab, wo-bei sie sich intensiv mit der Frage nachder Pflicht zur Teilnahme an solchenMassnahmen auseinandergesetzt haben.

Revisionsgrund nicht nötig

Sie hielten zunächst fest, dass für die An-ordnung einer Massnahme zur Wieder-eingliederung kein Revisionsgrund vor-liegen muss. Ein solcher besteht in derRegel, wenn sich die Umstände geänderthaben, aufgrund deren eine Rente ge-sprochen wurde – etwa, wenn sich derGesundheitszustand des Bezügers verbessert oder verschlechtert hat. DasBundesgericht stützte sich in seinerArgumentation auf Artikel 7 Absatz 2des IVG, der eine klare Antwort liefere.So besagt er, dass eine versicherte Personan allen zumutbaren Massnahmen, diezur Eingliederung ins Erwerbsleben die-nen, aktiv teilnehmen muss. In systema-tischer Hinsicht sei der Artikel damit das Gegenstück zu Artikel 8 des IVG, dereinen Anspruch statuiert. Daraus schlossen die Luzerner Richter, eine Wieder-eingliederungsmassnahme könne auchohne Revisionsgrund gesprochen werden und der Bezüger müsse daran teilnehmen, ob er wolle oder nicht.

Diese Rechtsprechung decke sich mitder Stossrichtung der beiden IV-Revisionen 5 und 6, argumentierten die Luzerner Richter weiter. Demnach sollte sichdie Invalidenversicherung von einer Rentenversicherung zu einer Eingliederungs-versicherung entwickeln. Die 5. Revisionhatte zum Ziel, unnötige neue Renten zuvermeiden. Mit der 6. Revision sollte die Zahl der IV-Bezüger reduziert werden.Durch persönliche Beratung, Begleitungund weitere spezifische Massnahmen sol-len Rentenbezüger mit Eingliederungs-potenzial gezielt auf eine Wiedereingliederung vorbereitet werden.

Alter und Bezugsdauer relevant

Im konkreten Fall besteht für die UrnerIV-Bezügerin gemäss Bundesgericht die Aussicht, dass sie mittels einer Wieder-eingliederungsmassnahme dereinst wieder arbeiten kann. Weder die Renten-dauer (die Frau bezieht seit bald 20 Jah-ren eine ganze Invalidenrente) noch die Tatsache, dass sie bereits 60 Jahre alt sei,sprächen gegen eine erfolgreiche Wie-dereingliederung indie Arbeitswelt.Im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit einer solchen Massnahme würden das Alter und die Rentenbezugs-dauer indes durchaus ins Gewicht fallen, hielt das Bundesgericht fest. Dochattestiere ein medizinisches Gutach-ten aus dem Jahr 2015 der Frau eine 80-prozentige Arbeitsfähigkeit, solangesie einer «körperlich leichten bis mittelschweren, wechselbelastenden» Beschäftigung nachgehe. Mit Blick auf die-sen Befund würden deshalb weder Ren-tendauer noch Alter die Massnahmen für die Frau unzumutbar machen.

Die Frage, ob die Rente allenfalls wieder ausgerichtet werden kann, sobald die Frau sich künftig zur Teilnahme an Massnahmen zur Wiedereingliederung verpflichtet, musste das Bundesgericht imvorliegenden Fall nicht beantworten.

IV-Revision: weiter entwickeln, nicht weiter abbauen

(Schweizerischer Gewerkschaftsbund)

Autor/in: Reto Wyss

 

Mit gewissem Recht bezeichnet der Bundesrat die aktuell laufende Revision der Invalidenversicherung als“Weiterentwicklung der IV“, anstatt sie in eine Reihe mit den vergangenen Kürzungsrevisionen zu stellen und als“Revision 7″ mit einer weiteren Nummer zu versehen. Die Vorlage beinhaltet wichtige qualitative Elemente mit denSchwerpunkten bei Eingliederung, Beratung und Begleitung sowie Koordination. Dass es aber noch ein weiter Wegist, bis diese Elemente gestärkt werden und eine neue Sparrunde auf dem Buckel der Versicherten abgewehrt ist,hat die erste Beratungsrunde in der nationalrätlichen Sozialkommission gezeigt.

Verhinderte und drohende Sparmassnahmen

Zwar wurden dort Angriffe wie „Keine IV-Rente unter 30 Jahren!“ vorerst abgewehrt, doch bereits wurde auch eineReihe neuer Sparmassnahmen beschlossen: Taggelder sollen während einer beruflichen Ausbildung nicht mehr fürbehinderungsbedingte Erwerbsausfälle ausbezahlt, Kinderrenten um 25 Prozent gekürzt werden.

Am einschneidendsten ist aber der Grundsatzentscheid zur Einführung eines „stufenlosen“ Rentensystems, denauch bereits der Bundesrat getroffen hat. Dies ist ein System, das neue Fehlanreize setzen würde undausgerechnet jenen Personen schmerzhafte Renteneinbussen brächte, die am wenigsten Aussicht auf eineTeilzeitbeschäftigung haben (Invaliditätsgrad 60-69%). In Kombination mit der Kinderrentenkürzung würde dasneue System für viele Familien zu substanziellen Einkommensausfällen führen (im Extremfall zur Kürzung einesViertels der Leistungen).

Eine entsprechende Kostenverlagerung in die Ergänzungsleistungen wäre die bereits in der Vergangenheit oftbeobachtete unvermeidbare Folge. Der Nationalrat muss daher auf diese beiden Massnahmen verzichten- selbst,wenn er nur die Kosten betrachtet. Definitiv vom Tisch ist zum Glück bereits die vom Arbeitgeberverband erbittert geforderte 80%-Schwelle für den Erhalt einer Vollrente.

Verbindliche Wiedereingliederung

Die IV verbucht seit 2017 Überschüsse und wird ihre verbleibenden Schulden beim AHV-Fonds voraussichtlich bis2030 zurückzahlen können, trotz anhaltendem Bevölkerungswachstum. Grund dafür ist aber weniger eineerfolgreiche Eingliederungspolitik als vielmehr die erwähnten Revisionen 4 bis 6, mit denen der Zugang zur IVimmer stärker eingeschränkt und die Leistungen der Bezugsberechtigten mehrfach gekürzt wurden, wie erwähntnicht zuletzt auf Kosten der EL. Der Druck für eine erfolgreiche Eingliederungspolitik ist also heute gerade wegendieser Revisionen hoch, ebenso der Bedarf an Stellen für Personen mit Teilrenten.

Menschen mit Behinderungen können heute immer noch nur mit grosser Mühe, an den Arbeitsplatzzurückzukehren oder im Arbeitsmarkt Fuss fassen. Den in der Vergangenheit von den Arbeitgebern gemachtenVersprechen hinkt die Realität leider hinterher. Der SGB unterstützt daher die mit der jetzigen IV-Revisionvorgesehenen Zusammenarbeitsvereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zur Eingliederung undWiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt.

Sie reichen aber nicht aus: Um endlich wirklich spürbare und nachhaltige Fortschritte zu erzielen, braucht esverbindliche gesetzliche Vorgaben. Eine Kommissionsminderheit fordert daher, dass Unternehmen mit über 250Arbeitnehmenden mindestens 1 Prozent Arbeitnehmende beschäftigen müssen, die von Invalidität betroffen oderbedroht sind. Eine, einer von hundert, das ist nun wirklich das Minimum.

Finanzsorgenum AHV-Fonds

(Handelszeitung)

Eine neue Formel führt dazu, dass die Schuldender IV jahrelang nicht zurückbezahlt werden.
ANDREAS VALDA

Der Präsident des AHV-Fonds Compen-swiss schlägt Alarm: «Die Rückzahlungder Schuld der Invalidenversicherung (IV)ist für die kommenden Jahre sehr unwahrscheinlich», sagt Manuel Leuthold. Er gehtvon «mindestens vier bis fünf Jahren» aus.Die Schuld beträgt derzeit 10,3 MilliardenFranken. Die Ursache liegtbei weit tieferen Einnahmender IV und einer neuen Formel, welche die Latte fürRückzahlungen hoch legt.Dies schadet dem AHV-Ausgleichsfonds. Er war einstals Puffer zwischen den Ein-nahmen und Ausgaben konzipiert worden. Doch die IV-Schuld blockiert die Mittel und hängt ihm wie ein Klotz am Bein.«Mit dieser Schuld kann man keine Renten finanzieren», kritisiert Leuthold. Zwarbringe sie ein halbes Prozent Zinsertrag,aber dieser sei im Vergleich zu langfristi-gen Anlagen schwach und behindere eingutes Management.

10,3 Mrd.Fr.schdeuldet die IV dem AHV-Fonds.

Die Situation verschärft sich umsomehr, als die AHV nicht saniert ist. «2030 wird der AHV-Fonds voraussichtlich leersein, wenn nichts passiert. Wir müssen unsauf die Landung vorbereiten.» Der Fondsmuss langfristige, gut rentierende Aktien inkurzfriste, minderwertige Wertschriftenumschichten. Dies führt zu Renditeverlus-ten. Wäre die IV-Schuld getilgt, wäre dasnicht der Fall.Der FDP-SozialpolitikerBruno Pezzatti fordert das Parlament auf, den IV-Leis-tungskatalog in der Gesetzes-revision zu reduzieren, damitdie IV die Schulden zurückzahlen kann. Die SP-Vizepräsidentin Barbara Gysi lehnt dies ab. «Wirsind für eine Entschuldung, aber nicht aufdem Buckel der Rentnerinnen und Rent-ner.» Die IV-Schuld sei «politisch gewollt».Wenn, dann müsse eine neue Zusatzfinanzierung her. Derzeit sei die IV auf Kurs.

Unsichtbare Behinderung

(Schaffhauser Bock)

Im Kanton Schaffhausen leben rund 70 hörbehinderte Menschen.


Zwei gehörlose Frauen, zwei unterschiedliche Lebensgeschichten, ein ähnliches Schicksal: Doris Hermann (l.) und Manuela Tomasevic wollen die Schaffhauser Gesellschaft und Behörden für die Anliegen der Gehörlosen sensibilisieren. Bild: Jurga Wüger

 

Für die Gehörlosen in der Region hat sich trotz der Ratifizierung der Uno-Be­hin­dertenrechtskonvention durch die Schweiz wenig geändert.
Autor: Jurga Wüger

Am 15. April 2014 hat die Schweiz als 144. Staat die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Schon seit 2004 gilt hierzulande zudem das Behindertengleichstellungsgesetz. Manuela Tomasevic, Vizepräsidentin Verein Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen (GGS), und Doris Hermann, GGS-Mitglied, sprechen offen über Erfahrungen von Gehörlosen im Alltag und darüber, wie wenig sich seit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention im Kanton Schaffhausen geändert hat.

Die Schaffhauserin Doris Hermann ist Sozialpädagogin, Manuela Tomasevic gelernte Konditorin-Confiseurin und Mutter von drei Kindern. Doris Hermann ist, wie ihre Familie auch, seit der Geburt gehörlos. Manuela Tomasevic wurde vermutlich durch eine Standardimpfung in Deutschland in ihrem ersten Lebensjahr taub. «Nach der Impfung habe ich viel geweint und mir ständig die Ohren gerieben», erzählte ihr die Mutter später. Ihre Eltern und Geschwister sind alle hörend.

Die Hauptinformationsquelle für Hörbehinderte im Kanton Schaffhausen ist die Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen (GGS). Der Verein entstand 1994 aus dem Zusammenschluss des Schaffhauser Vereins für Gehörlosenhilfe (Fachhilfe) und des Gehörlosenvereins Schaffhausen (Selbsthilfe). Im Kanton Schaffhausen leben rund 70 Hörbehinderte, die GGS zählt derzeit 38 Mitglieder im Alter von 44 bis 97 Jahren. Die Mitglieder kommen aus Schaffhausen und den umliegenden Kantonen.

Seit 2014 sei es im Kanton Schaffhausen «nicht viel besser, aber anders geworden», sagen Manuela Tomasevic und Doris Hermann. Gleichstellungsgesetz mit Informationsfreiheit klinge zwar gut, nur zeige sich im Alltag ein anderes Bild. Doris Hermann nennt ein paar Beispiele, wo Verbesserungen erwünscht sind: «Rollstuhlgängig sind die meisten Neubauten. Auch das neue Polizeigebäude in Beringen. Nur an die unsichtbare Behinderung wurde nicht gedacht.» Denn ihnen nütze ein Notfallknopf mit Gegensprechanlage ohne Videokamera wenig. Auch das grosse Schaffhauser Kino in Herblingen verzichte bis heute auf Untertitel. Die GGS-Mitglieder würden daher für einen Kinoabend nach Winterthur oder Zürich fahren. Ebenso habe der lokale Fernsehsender seine Hausaufgaben bei den Untertiteln noch nicht gemacht. Das Schaffhauser Stadttheater sei da schon fortschrittlicher und biete für einzelne Vorstellungen Dolmetschende für Gebärdensprache auf.

Der diskriminierungsfreie Zugang zu den Gesundheitssystemen sei ebenso nicht gewährleistet: Beispielsweise ist die Generation 50 plus oft traumatisiert und bekommt keine Möglichkeit, direkt mit einem Psychologen diese Erlebnisse zu verarbeiten. Mitarbeitende in der Spitex wüssten zum Teil nicht, wie sie mit gehörlosen Patienten umzugehen hätten. Wichtige medizinische Referate würden ohne Verdolmetschung abgehalten. «Vorträge zum Beispiel über Krebs oder Alterswohnen würden aber viele von uns interessieren», sagt Manuela Tomasevic. Die Kosten für eine Verdolmetschung müsste die Gemeinde tragen, dafür sei ein Budget vorgesehen. «Wir zahlen genauso viele Steuern wie die Hörenden, müssen aber bei den Gegenleistungen Abstriche machen», erklärt Doris Hermann.

Sensibilisierung der Behörden

Der Verein GGS wird jetzt erneut aktiv und geht auf eine Sensibilisierungstour durch die Schaffhauser Behörden. Dafür wurde ein Antrag bezüglich Finanzierung an den Schweizerischen Gehörlosenbund gestellt. Betreut und umgesetzt wird das Projekt durch Doris Hermann: «Vielen Staatsangestellten ist es gar nicht bewusst, dass ein gehörloser Mensch das Recht auf einen Dolmetscher hat, den das Amt organisieren und bezahlen muss.» Einige Amtsmitarbeitende würden sogar die Bitte «Könnten Sie es mir aufschreiben?» ablehnen. Aus Überforderung, vermutet Manuela Tomasevic. Auch, dass man mit Gehörlosen besser Hochdeutsch spricht, werde oft vergessen. Dabei könnte jede Behörde die Grundlagen der Gebärdensprache als Weiterbildungsangebot für ihre Angestellten anbieten.

Die Gehörlosen fanden durch das Gleichstellungsgesetz zu mehr Selbstbewusstsein und nehmen in der heutigen Zeit nicht mehr alles klaglos hin. Doris Hermann erinnert sich an ihre Kindheit zurück: «Meine Eltern mussten vieles akzeptieren, zu allem Ja und Amen sagen. Das hat mich als Kind sehr wütend gemacht, und ich habe mir geschworen, diese Unverschämtheiten in meinem Leben nicht hinzunehmen.» Doch es kam anders.

Affensprache und Diebessprache

Doris Hermann landete im Jahr 1967 in der berüchtigten Taubstummenschule in St. Gallen. Sobald sie gebärdete, setzte es Schläge. Missbrauch, Gewalt, Erniedrigungen und Psychoterror waren an der Tagesordnung. Musste sie sich übergeben, wurde sie gezwungen, alles zu reinigen und so lange vor dem Bett zu stehen, bis die Erzieherin ihr erlaubte zu schlafen. Oft stand Doris Hermann die ganze Nacht vor ihrem Bettchen, weil die Erzieherin sie vergessen hatte. Die Gebärdensprache wurde damals als Affensprache oder als Diebessprache verhöhnt. In Europa war sie über 100 Jahre lang verboten. Das Verbot basierte auf einem pädagogischen Entscheid, der im Jahr 1880 in Mailand gefällt worden war. Der tiefe Graben zwischen Hörenden und Gehörlosen – die grosse Problematik auch heute noch – ist auf dieses Verbot zurückzuführen. Erst seit 1985 wird in der Schweiz eine Dolmetscherausbildung angeboten (der «Bock» berichtete am 29. Januar über Corinne Leemann).

Fettnäpfchen und Wissenslücken

Bei der Frage, in welche Fettnäpfchen die Hörenden schon getreten seien, müssen die beiden Frauen nicht lange überlegen: Es hagelt Geschichten. Vor knapp zehn Jahren wurde zum Beispiel ein Gehörloser im Kanton verhaftet, weil seine Gehörlosigkeit nicht erkannt wurde. Bis heute ist der unschuldige Mann schwer traumatisiert. «Gehörlos ist nicht gleich dumm, obwohl viele genau dies glauben», so die beiden Frauen. Auch in der Politik hätten Gehörlose von Gesetzes wegen das volle Mitspracherecht, aber der Informations­fluss stocke.

Es sei auch falsch, Hörende und Gehörlose auf zwei verschiedenen Seiten der Barrikaden kämpfen zu lassen. «Für eine gute Lösung braucht es ein Miteinander und Bereitschaft, aufeinander zuzugehen», so Doris Hermann und Manuela Tomasevic. Doch auch hier zeige die Erfahrung, dass wenn die Gehörlosen immer wieder einen Schritt auf die Hörenden zugehen, viele Hörende oft einen Rückzieher machen würden: aus Unsicherheit, Angst, oder gar Missachtung.

«Es braucht einen Abbau von Vorurteilen, denn in erster Linie bin ich ein Mensch und möchte nicht auf meine Behinderung reduziert werden», so Manuela Tomasevic. «Und die Eingliederung von Gehörlosen fängt in den Köpfen an», ergänzt Doris Hermann.

Behindertenpolitik

(PS Zeitung)

Der Aktionskreis Behindertenpolitik Kanton Zürich (AKB Zürich) hat die Regierungsratskandidat-Innen zuihrenbehin-dertenpolitischenÜber-zeugungen befragt. DieKandidierendenzeigtensich alle offen gegenüberden Forderungen der Betroffenen. Begrüsst wirdvon allen die von MarioFehr (SP) neu geschaf-feneKoordinationsstel-lefür Behindertenrech-te sowie die Bestrebun-gen zur Umsetzung derUNO-Behindertenrechts-konvention im Kanton Zü-rich. Bei der Frage, ob derKanton Zürich ein Behin-dertengleichstellungs-gesetzbraucht, gingendie Meinungen auseinan-der, wobei die Mehrheitvon sechs Kandidieren-den sich dafür aussprach:Hans Egli (EDU), MarioFehr (SP), Hanspeter Hugentobler (EVP), Jörg M ä-der (GLP), Martin Neu-korn (Grüne) und Rosma-rie Quadranti (BDP). Zu-mindest als prüfenswerterachtenesJacquelineFehr (SP) und Ernst Sto-cker (SVP). Klar Nein zueinem kantonalen Behin-dertengleichstellungsge-setz sagen vier Kandida-tinnen und Kandidaten:Natalie Rickli (SVP), Sil-via Steiner (CVP), Tho-mas Vogel (FDP) und Carmen Walker Späh (FDP).Bei den Kantonsratswahlen kandidieren laut einer Anfrage an alle Par-teisekretariatefolgende Personen, die selber voneiner Beeinträchtigungbetroffen sind: Urs Löscher (EVP, Uster), Michael Zeugin (GLP, Winterthur), Matthias Engel(FDP, Zürich), Islam Alijaj und Matyas SagiKiss(beide SP, Zürich). mim.