Schicksalsschläge beispielhaft gemeistert

(Walliser Bote)


Verdiente Anerkennung. Von links: IV-Direktor Martin Kalbermatten mit den Preisträgerinnen und Preisträgern Nicole Zenhäusern-Camenisch, Geschäftsleiterin Debrunner Acifer AG Wallis, Aurora Tromba, Silvan Marty, Peter Imboden,Staatsratspräsidentin Esther Waeber-Kalbermatten und Maryläne Moix-Pralong vom SRK Wallis.FOTO WB

 

Eine Erkrankung und Unfälle machten eine berufliche Neuausrichtung notwendig:Peter Imboden, Aurora Tromba und Silvan Marty haben diese Herausforderung vorbildlich gemeistert.

Für ihre gelungene Wiedereingliederung in die Arbeitswelt sind sie am Donnerstag von der Kantonalen IV-Stelle ausgezeichnet worden. Die Preisverleihung im Zeughaus Kultur in Brig-Glis wurde von Shania Imhof aus Ried-Mörel musikalisch umrahmt.

Einsatz und Durchhaltewillen

Anlässlich der Feier würdigten Staatsratspräsidentin Esther Waeber-Kalbermatten und Martin Kalbermatten die hervorragenden Leistungen der Preisträger. «Sie haben viel Einsatz und Durchhaltewillen gezeigt», lobte Martin Kalbermatten.

Der IV-Direktor und die Chefin des Departements für Gesundheit, Soziales und Kultur (DGSK) gaben gleichzeitig zu bedenken, dass es für eine berufliche Neuorientierung auch offene Arbeitgeber brauche, die soziale Verantwortung übernähmen. Dabei hoben sie namentlich das Engagement der Firma Debrunner Acifer AG Wallis in Visp hervor, die dafür den diesjährigen Arbeitgeberpreis in Empfang nehmen durfte. Der Spezialpreis ging an den Fahrdienst Kleeblatt des Schweizerischen Roten Kreuzes. Die IV würdigte damit das grosse Engagement der vielen freiwilligen Fahrerinnen und Fahrer, die Menschen befördern, welche aufgrund einer Beeinträchtigung die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr benutzen können.

800 Menschen eingegliedert

Gemäss Esther Waeber-Kalbermatten hat die IV-Stelle im vergangenen Jahr kantonsweit 5800 berufliche Eingliederungsmassnahmen durchgeführt. Durch betriebsinterne Umplatzierungen, durch den Erhalt von Arbeitsplätzen oder durch Vermittlungen in andere Betriebe seien zudem mehr als 800 Personen erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt integriert worden, berichtete die DGSK-Chefin.

Waeber-Kalbermatten erinnerte auch an die bundesrätliche Botschaft zur «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung». Demnach sollen in den kommenden Jahren die Schwerpunkte auf das Vorbeugen einer Invalidisierung und das Stärken der Eingliederung gesetzt werden. Insbesondere die Weiterentwicklung bestehender Instrumente und Massnahmen stünden im Fokus, so die Staatsratspräsidentin. Analog zur bundesweiten Entwicklung richte auch die IV-Stelle Wallis ihre Schwerpunkte auf die Eingliederung von Jugendlichen und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Die Departementschefin begrüsst diese Stossrichtung.

Folgenschwerer Zeckenbiss

Die Preisträger werden jeweils von der Eingliederungszweigstelle Brig-Glis ausgewähl und von deren Mitarbeitern vorgestellt.

Peter Imboden (46) aus Chandolin erkrankte im Herbst 2013 infolge eines Zeckenbisses an der gefürchteten Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). Der gelernte Bäcker musste sich in kleinen Schritten in den Alltag zurückkämpfen, wird sich aber nicht mehr vollständig von der schweren Erkrankung erholen. Im Februar 2014 konnte er seine Arbeit als Allrounder in einem Hotel in einem reduzierten Pensum wieder aufnehmen. Aufgrund seiner Naturverbundenheit absolvierte er jedoch noch eine einjährige Ausbildung zum «Swiss Ranger». In dieser Funktion arbeitet er heute im Naturpark Pfyn/Finges, und zwar neben seiner angestammten Tätigkeit als Allrounder.

Unermüdlich…

Die Italienerin Aurora Tromba, früher Direktionsassistentin bei Pirelli, hatte nach einigen wirtschaftlich bedingten Stellenverlusten in ihrer Heimat einen Neuanfang in der Schweiz gewagt. Sie fand eine Stelle als Raumpflegerin und begann umgehend mit Sprachkursen, als sie an Silvester 2015 Opfer eines schweren Autounfalls wurde. Ihre grosse Stärke, die Kopfarbeit, funktionierte daraufhin nicht mehr richtig. Beim Aufbau der Arbeitsfähigkeit in der Scintilla in St. Niklaus fiel die Preisträgerin durch ihren unermüdlichen Einsatz auf – und bekam schliesslich eine feste Anstellung im Sekretariat.

…und zielstrebig

Ein Gleitschirmunfall im Jahr 2013 warf Silvan Marty aus Erschmatt aus der Bahn Er ist seither auf einen Rollstuhl angewiesen. Weil das ursprünglich angepeilte Ziel eines Elektroplaners nicht seinem aktiven Naturell entsprach, sattelte er noch während des Praktikums um und absolvierte eine dreijährige Ausbildung als Techniker HF Energie und Umwelttechnik. Diese schloss er Ende Januar 2018 mit dem Diplom ab. Nach einer befristeten Anstellung bei einer Tochterfirma der BKW Gruppe arbeitet Marty seit Monatsbeginn nun im Leitstand der SBB in einem 80-ProzentPensum.fm

Ausweitung der Lohnkampfzone

(VpodMagazin / Die Gewerkschaft)

Wie lässt sich verhindern, dass Krankheit und Behinderung in die Prekarität führen Wie soll gesundheitsbedingte Teilzeitarbeit honoriert werden? Und was bedeutet das Recht auf fairen Lohn für Menschen mit Beeinträchtigung? Zwei Agile-Vertreterinnen plädieren für eine Erweiterung der Begriffe und für einen «Behindertenausgleich». 1 Text: Simone Leuenberger und Ursula Schaffner, Agile.ch (Foto: demaerre /iStock)

Der VPOD setzt sich ein für faire Löhne. Das ist bitternötig! Aber was sind faire Löhne? In der Bundesverfassung ist das Recht auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit seit 1981 verankert; seit 1996 steht es im Gleichstellungsgesetz. Da die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern aber nach wie vor nicht erreicht ist, ruft der VPOD zur Grossdemo nach Bern. Wir fragen nach: Sind wir Menschen mit Behinderungen bei der Forderung nach gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit mitgemeint? Und sind gleiche Löhne auch faire Löhne für uns?

Einfach dumm gelaufen?

Personen, die aufgrund einer Behinderung oder Krankheit dauerhaft keinen Erwerb mehr erzielen können, haben Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung. Diese ersetzt aber meist nur einen Bruchteil des Erwerbsausfalls. Wer Glück hat, erhält neben der Rente aus der ersten noch eine aus der zweiten Säule. Doch auch damit lässt sich die behinderungsbedingte Einkommenslücke kaum schliessen. Besonders dumm läuft es für jene, die trotz Beeinträchtigung noch 60 Prozent und mehr arbeiten können. Sie haben nämlich keinen Anspruch auf eine Rente. Fatal ist das im Niedriglohnbereich, denn wer wenig verdient und keine IV-Rente bekommt, hat auch keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Ein Leben auf Sozialhilfeniveau ist damit programmiert. Was nützt da der gleiche Lohn für gleiche Arbeit?

Im Alter spitzt sich die Problematik zu. Wer wenig verdient hat, bekommt nach 64 bzw. 65 oft keine Pensionskassenrente. Von einem Sparbatzen unterm Rollstuhlkissen kann ohnehin nicht die Rede sein. Das Leben am Existenzminimum geht also im Pensionsalter weiter. Auch hier hilft die Forderung nach Lohngleichheit im bisherigen Sinn nicht weiter.

Seit einigen Jahren sind stärkere Bestrebungen zur Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt im Gang. Auch das ist bitternötig! Eine Behinderung lässt sich aber mit dem besten Arbeitsplatz nicht «wegintegrieren». Stellen wir uns etwa eine Person mit einer starken Sehbehinderung vor. Bei ihr dauern manche Arbeiten etwas länger. Oder Personen mit multipler Sklerose oder mit einer Muskelkrankheit: Sie benötigen mehr Zeit für alltägliche Lebensverrichtungen und zur Erholung. Kein Patron wird sie für die in seinen Augen nicht produktive Zeit entschädigen. Wegen ihres behinderungsbedingten Teilzeitpensums erzielen die Betroffenen allerdings ein tieferes Einkommen als Kolleginnen ohne Beeinträchtigung. Inhalt und Umfang der Forderung nach Lohngleichheit müssen deshalb erweitert werden.

Teilzeitarbeit der unfreiwilligen Art

Wer sein Arbeitspensum aufgrund der familiären Situation reduziert, tut das in vielen Fällen mehr oder weniger freiwillig. Höchstwahrscheinlich wird sich die Situation nach einigen Jahren wieder ändern. Wir Menschen mit Behinderungen reduzieren unseren Beschäftigungsgrad und somit unseren Lohn nicht freiwillig. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sich unser Gesundheitszustand mit den Jahren verschlechtert, ist weit grösser, als dass er sich verbessert und wir unser Arbeitspensum erhöhen können.

Lohngleichheit und faire Löhne in unserem Sinn meint Einkommensgleichheit. Das heisst: Menschen mit und Menschen ohne Behinderung erhalten mit der gleichen Ausbildung in der gleichen Position am Ende des Monats den gleichen Betrag auf ihr Konto bezahlt. Wie wäre es mit einem «Behindertenausgleich» für jene, die im ersten Arbeitsmarkt tätig sind, analog zur Kinder- und Ausbildungszulage? Behinderungen sind für die Betroffenen oft ein Kostenfaktor; wie Kinder haben auch, mit ungedeckten Mehrauslagen und Mindereinnahmen. Ein Behindertenausgleich könnte die finanziellen Ungleichheiten etwas abschwächen. Und wir könnten unser Integrationspotenzial voll ausschöpfen. Je nach Höhe der Ausgleichszahlung könnten wir vielleicht sogar etwas fürs Alter auf die Seite legen. Die Idee darf gerne weitergesponnen werden, auf dass auch wir Menschen mit Behinderungen bald faire Löhne verdienen!


Eine Behinderung führt zu Mehrausgaben und Minderverdienst. Agile.ch plädiert für einen Ausgleich

 

Barrierefreies Bauen nützt allen

(Basel Express)

Wir sorgen vor, planen, denken voraus, äufnen eine dritte Säule; bloss beim eigenen
Zuhause der mitunter wichtigsten Investition m Leben – geht der Vorsorgegedanke
häufig vergessen. Oft werden Wohnungen gekauft oder Häuser gebaut, welche später
zum Bumerang werden. Das müsste nicht sein.

Von:Andreas Käsermann Fotos Julien Selinas, Basel


Hindernisfrei wohnen im denkmalgeschützten Haus: Terrasse an der Rue des Baîches, Porrentry (JU)

 


Design uni garrieretreffielt vereint: Grosszügig gelöst an der Lichtstrasse Basel.

 

Die meisten Menschen sind irgendwann in ihrem Leben zeitweilig handicapiert Nach dem Beinbruch ist der Badewannenrmd ein schier unüberwindbares Hindernis; bricht man sich den Arm. wird gar das lapidare Binden der Schu- zur Herausforderung, an welcher manch einer grandios scheitert. Nach ein paar Wochen jedoch ist der Knochen heil und der Gedanke an die Unzulänglichkeiten des Körpers sowie dessen Gebrechlichkeit verflogen.

Dabei ist diese Lebenserfahrung Alltag für nicht wenige: In der Schweizleben gemäss Zahlen des Bundesamts für Statistik EFS über 1,8 Milhonen Menschen mit einer Behinderung – 484 000 davon mit einer starken Beeinträchtigung. Für sehr viele dieser Menschen sind auch die paar wenigen Treppenstufen zur Hochparterrewohnung ein Hindernis; die hohen Küchen- und Einbauschränke kein Gewinn.

Aber auch im Alter tauchen andere Ansprüche an die Wohnung au[ Und die Gruppe wächst: Ende letzten Jahres lebten gemäss BFS in der Schweiz 1,1 Millionen über 65-Jährige – davon fast ein über 80-Jährige Auch sie profitieren, wenn Architekten, Planer und Bauherren an mehr Eventualitäten denken, als die Gegenwart dies hergibt «Ich glaube, es hat zum Teil auch mit fehlendem Bewusstsein zu tun, dass das lhema ,Barrierefreiheit immer noch viel zu wenig in die Planung mit einbezogen wird>, mutmasst Sandra Remund. Vorstandsmitglied des Hausvereins Zentralschweiz. Sie und ihr Team der Architektur Firma.Altervia GmbH haben sich auf die Entwicklung von Lebensräumen für ältere Menschen spezialisiert «Mit einem Umdenken und dem Loslassen von ausschliesslich design-gesteuerten Vorstellungen wäre schon viel gewonnen.»

Die kleinen grossen Hürden

Oh stolperten gerade ältere Menschen Über Kleinigkeiten. Etwa in der Küche, wo heute häufig Herde mit Berührungssensoren eingebaut werden. Ein Problem, wenn ob zunehmender Alterssichtigkeit die kleinen digitalen Ziffern nicht mehr erkannt werden: «Zudem nimmt die senso tische Fähigkeit ab und das Bedienen müdem Finger wird zum Problem. Die Konsequenz für diese Person ist, dass sie nicht mehr selber kochen kann, obwohl sie dazu mit einem anderen Herd durchaus noch in der Jige wäre.»

Auch Menschen mit Behinderung scheitern häufig an kleinen Dingen, welche eine grosse Hürde darstellen: die Höhe der Sonnerie, der Gegensprechanlage, der Briefkästen. Weiter geht in der Planung ah und an die Bedienbarken von Türen und der ungehinderte Zugang zu Einstellhallen oder zu wichtigen Nebenräumen wie Keller und Waschlaiche vergessen, wie Nicole Woog, Architelain und Leiterin der Koordinationsstelle Bauen und Umwelt der Pro ininmis bemängelt: «Stufen und Schwellen können ganze Gebäudeteile für Menschen im Rollstuhl unzugänglich machen und sie ausschliessen Dies wäre einfach zu vermeiden» Barrierefrei zu bauen, ist überdieskein Störfaktor für Personen ohne Handicap. Im Gegenteil: Die hindernisfreie Bauweise verbessere die Benutzbarkeit des Gebäudes und den Komfort für alle Benutzer: «Es profitieren ältere

Menschen. Personen mit kleinen Kindern und Kinderwagen, mit Reisegepäck oder schweren Einkäufen und sie erleichtert den Ein- und Auszug. Die hindernisfreie Bauweise ist somit ein Mehrwert für die gesamte Gesellschaft.» Einer, der sich überdies auszahle, meint Sandra Re- mund: «Wenn die eigene Wohnung es erlaubt, so lange wie möglich selbständig zu leben, kann manch ein frühzeitiger Umzug in eine gutlenke Entrichtung verhindert werden.»

Noch Luft nach oben

Die Situation und die Denkweise habe sich freilich in denletzten Jahren deutlich verbessert. Seit
Inkrafttreten des Behindettengteiehstellungsgesetzes 2(104 und der SiA-Norm 500, welche das hindernisfreie Bauen vorschreibt, Ledas Tbema bei der Planung stärker präsent.

Bei öffentlichen Gebäuden sei die Hindernisfreiheit seither weit fortgeschritten. «Im Wohnungsbau hingegen hapert es noch», sagt SP-Ständerätin Pascale Brudereg Präsidentin des Dachverbands der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap: «Vor allem ältere Mehrfamihenhäuser sind für Menschen mit Behinderung oft ein Problem. Es gibt viel zu wenig Wohnungen, die behindertengerecht gestaltet sind.» Immerhin habe sich die Situation bei neu erstellten Miethäusern verbessert

Dabei sei der Bau von barrierefreien Wohnungen nicht primär eine Kostenfrage Neuhauten hin-dernisfrei zu erstellen, mache auf der Kostenseite ein Plus vonetwa 2,6 Prozent aus, erläutert Nicole Woog «Je früher die hindernisfreie Bauweise im Planungsprozess mit einbezogen ist, desto günstiger wird sie.» Aufwendigersind Anpassungen von älteren Gehäudetc Durchsehnittlich beträgt der Mehraufwand bei umhauten 5,9 Prozent. Es könne auch Ausreisser nachoben gehen, räumt Pascale Bruderer cm «Die Abklärungen lohnen sich immer. Auch wenn es vereinzelt Fälle gibt, in denen sich ein behindertengerechter Umbau aufgrund fehlender Verhältnismässigkeit schlicht nicht umsetzen lässt» Richtig kompliziert kann es zudem werden, wenn ein Gebäude unter Denkmalschutz steht.

Bauherrschaften sensibilisieren


Neuer barrierefreier Hauszugang mit Rampe entlang der Fassade von 1902 – innen Hindemisfreitheit nach SIA-Norm 500. Die Liegenschaft der Liehtstrasse Basel wurde 2015 umgebaut

 


Verzwickt Nicht gelungenes Beispiel für barrierefreier einer Rampe.

 


Nicht Immer ein Hindermis: Bei einer Sehbehinderung ist die Treppenmarckierung entscheidend als Orientienrungshilfe

 

Dass Architekten und Bauplaner vermehrt an Hindernisfreiheit denken, ist gut. Warum jedoch ist die Fragestellung bei der Bauherrschaft so wenig präsent? Oft werde die Möglichkeit eines schweren Handicaps ausgeschlossen und das eigene Altern verdrängt: *Wer nicht selber bereits direkt oder indirekt betroffen ist, schenkt dem Thema wenig Aufmerksamkeit stellt Bruderer fest. Dabei ist doch ganz besonders im Alter ein Wegzug aus derliebgewonnenen Umgeeine markante Zäsur, eine grosse Belastung noch dazu. Die Betroffenheit im eigenen Umfeld könne jedoch zum timdenken bewegen, sagt Architektin Sandra Remund: *Ich mache die Erfahrung, dass Menschen, welche sich gerade mit der Gebrechlichkeit der eigenen Eltern auseinanderzusetzen haben, sich des Problems plötzlich bewusst werden. Dass ein fehlender Handlauf oder ein Türschliesser dazu führen können, dass eine fragile Person das Haus nicht mehr verlassen kann.»

Das Behindertengleichstetlungsgesetz verlangt, dass Wohnbauten mit mehr als 8 Wohneinheiten hindernisftei gebaut verden müssen, Für Pro Infinnis ist dieser Grenzwert hoch angesetzt, Nicole Wong dagegen: «IVlehrfamilienhäuser mit so vielen Wohnungen sind fast nur in den grösseren Zentren zu finden, Idealerweise würden Wohnbauten ab 4 Wohnungen hindernisfrei gebaut.» Immerhin seien die Kantone frei, den vom Bund vorgeschriebenen Grenzwert zu unterschreiten. So müssen etwa in den Kantonen Basel-Stadt und Genf neu bewilligte Wohnbauten ab 2 Einheiten hindernkdrei sein. Mit den kantonalen Gesetzesevisitmen verbesserten sich die Adorderungen aber laufend, ergänzt Woog.

Das Bohren dicker Bretter

Dass die Vorgaben des Bundes dereinst weiter verschärft werden, unterstützt auch Ständerätin Pascale Bruderer, Immerhin habe die Schweiz die Uno-Behindertenrecluskonvention ratifiziert – sei aber in deren Erfüllung im Rückstand: hat sich einiges getan, wir haben aber noch zu viele Defizite in der Gleichstellung von behinderten Menschen. Wir leistensehr viel Oberzeugungsarbeit im Departement des Innern» Die Frage des gesetzlich vorgeschriebenen Wohnungsangebots für Menschen mit Handicap müsse unbedingt weiter diskutiertwerden.

Defizite nicht nur bei Bushaltestellen

(Tages-Anzeiger)

Für Menschen mit Behinderung gibt es im Kanton Zürich weiterhin zahlreiche Hindernisse. Eine Studie benennt die Mängel und fordert einen Massnahmenplan.


Der Weg bis zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist noch weit.
Foto: Gaetan Bally

 

Andrea Fischer

Die gleichen Rechte zu haben, genügt nicht. Man muss sie im Alltag auch leben können. Menschen mit Behinderung sollen selber bestimmen können, wo und wie sie leben wollen, gleichberechtigt mit anderen in die Gemeinschaft einbezogen sein und am öffentlichen Leben vollumfänglich teilhaben können. Dies verlangt die UNO-Behindertenrechtskonvention. Sie gilt seit Mai 2014 auch für die Schweiz und verpflichtet Bund, Kantone und Gemeinden, alles Nötige zu tun, um die genannten Ziele zu erreichen.

Eine gestern publizierte Studie der Behindertenkonferenz Kanton Zürich hat untersucht, wie es mit der Umsetzung der UNO-Konvention im Kanton Zürich steht. Die Untersuchung kommt zum Schluss, es seien Bemühungen festzustellen, und es gebe auch gute Beispiele.

Mitspracherecht verbessert den Prozess

So bekommt der Kanton etwa bei der Zugänglichkeit zu Gebäuden und zur Verkehrsinfrastruktur relativ gute Noten. Zumindest seien die gesetzlichen Grundlagen vorhanden. Bei der Durchsetzung des hindernisfreien Bauens zeigten sich aber teilweise grosse Mängel sowie Unterschiede zwischen den Gemeinden. Zudem werde nicht systematisch erfasst, wie es um die Barrierefreiheit von öffentlich zugänglichen Bauten stehe.

Dank niederfluriger Trams und Busse habe man auch im Verkehr einiges erreicht, doch seien viele Bushaltestellen für Menschen mit Behinderungen nicht nutzbar. Allgemein gehe es zu langsam voran.

Dass der Bereich Bauten und Mobilitätsinfrastruktur in der Studie vergleichsweise gut wegkommt, liegt unter anderem daran, dass hier die Betroffenen konsequent mitreden können. So sind in den verschiedenen Kommissionen und Arbeitsgruppen auch Menschen mit Behinderung vertreten. Ferner gibt es die Bauberatung der Behindertenkonferenz, sie wird vom Kanton beigezogen, wenn es Probleme mit Bauprojekten gibt.

Darüber hinaus sei die Mitwirkung nicht gewährleistet. So gingen Menschen mit einer psychischen oder kognitiven Behinderung bei Gleichstellungsfragen oft vergessen. Es fehle im Kanton Zürich an einer Sensibilisierung für die verschiedenen Behinderungsarten. Namentlich psychisch Behinderte müssten sich oft rechtfertigen und sich den Vorwurf gefallen lassen, sie würden den Sozialstaat missbrauchen, bemängeln die Autoren der Studie. Es sei nötig, die Interessen aller Gruppen von Behinderten aktiv einzubeziehen und die ungelösten Probleme mit ihnen und ihren Interessenvertretern systematisch anzugehen.

Die mangelnde Sensibilisierung schlägt sich auch im Bereich Kommunikation nieder. Zwar ist das Recht auf Gebärdensprache in der kantonalen Verfassung verankert. Jedoch gebe es keine verbindlichen Standards für eine hindernisfreie Kommunikation mit den kantonalen Behörden, von der alle kommunikativ beeinträchtigten Personen profitieren könnten.

Betroffene unterstützen statt Institutionen

Defizite ortet die Studie schliesslich auch beim Recht auf unabhängige Lebensführung. Wer imAlltag auf Unterstützung angewiesen ist, braucht dafür die nötigen Mittel. Reicht das Geld der Invalidenversicherung nicht aus, stehen die Kantone in der Pflicht. Weil aber der Kanton Zürich nicht die Betroffenen selber unterstützt, sondern die Behindertenheime und -institutionen subventioniert, sind insbesondere Menschen mit einer schweren Behinderung faktisch gezwungen, in ein Heim zu ziehen.

In diesem Bereich zeichnet sich eine Verbesserung ab. So hat der Kantonsrat im Juni einen Systemwechsel beschlossen. Künftig sollen die Betroffenen direkt unterstützt werden, entsprechend ihrem Bedarf. Damit ist es ihnen freigestellt, ob sie die Mittel für ein Leben im Heim oder ausserhalb einsetzen wollen. Bis es so weit ist, dürfte es noch ein paar Jahre dauern. Erst dann wird sich auch zeigen, ob genügend Mittel bereitgestellt werden, damit das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben für alle umsetzbar ist.

Gemeinden sind überfordert mit Gleichstellung

Abgesehen von einzelnen Teilbereichen üben die Verfasserinnen und Verfasser der Studie auch grundsätzliche Kritik. Es sei «höchst problematisch», dass der Kanton kein Rahmengesetz habe zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderung. Nirgends sei definiert, welche Rechtsansprüche die Betroffenen hätten und wie sie diese durchsetzen könnten. Mangels Gesetz gebe es auch keine kantonale Behindertengleichstellungspolitik: Es seien weder konkrete Ziele noch Massnahmen festgelegt.

Auch würden die Gemeinden vom Kanton zu wenig unterstützt. Vor allem kleine und mittelgrosse Gemeinden seien mit der Umsetzung der Behindertengleichstellung überfordert und reagierten meist erst, wenn ein konkretes Problem vorliege.

Besser sehe es in grösseren Städten aus. Als positive Beispiele erwähnt die Studie namentlich Zürich und Uster. Beide hätten 2017 spezielle Stellen geschaffen zur Koordination von Fragen der Behindertengleichstellung. Eine solche Koordinationsstelle empfehlen die Verfasserinnen und Verfasser der Studie auch dem Kanton. Zudem schlagen sie einen konkreten, zeitlich terminierten Massnahmenplan zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention vor.

Die Studie wurde von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) durchgeführt. Zwischen August 2017 und Juli 2018 haben die Autoren die Gesetzeslage dokumentiert, Interviews mit Fachpersonen geführt sowie Regierungsratsbeschlüsse und Zeitungsartikel analysiert.

Finanziert hat die Untersu- chung das kantonale Sozialamt. Dort will man sich vorerst zur Kritik und zu den Empfehlungen nicht äussern. An einer Medienkonferenz im November werde man über die nächsten Schritte informieren.

Vom Kanton benachteiligt

(Limmattaler Zeitung)

Grosse Lücke bei Gleichstellung: Menschen mit Behinderung werden vom Kanton benachteiligt
von Lina Giusto


Keine Pflicht im Kanton Zürich: Eine Gebärdensprachendolmetscherin übersetzt ein Gespräch für eine gehörlose Mitarbeitende von Louis Widmer in Schlieren.© az Limmattaler Zeitung

 

ZHAW-Forscher zeigen, dass die UNO-Behindertenrechtskonvention ungenügend umgesetzt wird.

Menschen mit Behinderungen haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen. So steht es zumindest auf dem Papier geschrieben. In der Realität sieht es aber anders aus. Bei der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung gibt es grosse Lücken. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Koordiniert hat die einjährige Erhebung die Behindertenkonferenz Kanton Zürich (BKZ). Der Auftrag erhielt die BKZ Anfang 2017 von der Sicherheitsdirektion. Finanziert hat die Studie das kantonale Sozialamt.

Zwischen August 2017 und Juli 2018 gaben 33 Fachleute aus Kanton und Gemeinden den Zürcher Forschern Auskunft, inwieweit die UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK), die 2014 in Kraft trat, umgesetzt und eingehalten wird. Die Vereinbarung verpflichtet Bund, Kantone und Gemeinden, Massnahmen zu treffen, die Menschen mit Behinderungen Selbstbestimmung, gesellschaftliche Integration sowie Gleichstellung sicherstellen. Gemäss dem Übereinkommen sind Menschen mit Behinderungen Personen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder sinnliche Beeinträchtigungen haben. Und diese können sie an der vollen und gleichberechtigten Teilnahme des gesellschaftlichen Lebens hindern.

Massnahmen sind ungenügend

Um die Schnittstellen zwischen Kanton und Gemeinden besser zu verstehen, wurden die drei grössten Zürcher Gemeinden Zürich, Uster und Winterthur untersucht. «Die Studie zeigt, dass der Kanton in sämtlichen untersuchten Bereichen seine Verpflichtungen aus der BRK noch nicht genügend realisiert», fasst Hauptautor Tarek Naguib das Studienergebnis zusammen. Die wichtigsten Erkenntnisse werden in sieben Themenbereichen zusammengefasst.

– Behindertenpolitik: Laut Studienautoren ist problematisch, dass der Kanton Zürich kein Rahmengesetz hat, das die Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen thematisiert. Auch unterstützt der Kanton die Gemeinden bei der Umsetzung der Konvention nicht genügend. Gerade kleinere und mittlere Gemeinden seien hinsichtlich Recht und Pflicht gegenüber Menschen mit Behinderungen überfordert. Zudem fehle ein breites Wissen über die Barrieren bei der gesellschaftlichen Teilnahme sowie die Alltagsdiskriminierung. Auch der aktive Einbezug dieser Menschen in die kantonale Politik sei nicht gewährleistet. Ihre Mitsprache werde lediglich bei der Bau- und Mobilitätsinfrastruktur einbezogen. Es fehlten auch verbindliche Regeln hinsichtlich Kommunikation. Digitale Angebote des Kantons seien für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich.
– Bau und Mobilität: Zwar werden diese Gesetze vom Kanton erfüllt, noch aber seien viele Haltestellen, Strassen, öffentliche Plätze und Gebäude nicht hindernisfrei zugänglich. «Handlungsbedarf besteht bei der Umsetzung, die langsam vorangeht», schreiben die Autoren.
– Selbstbestimmtheit: Die ZHAW-Forscher kommen zum Schluss, dass Menschen mit Behinderungen – unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung – ihre Wohnform nicht mit Sicherheit frei wählen können. Dies verstosse gegen das Recht auf eine unabhängige Lebensweise.
– Bildung: Obwohl die Gleichstellung in der Grundschul- und Berufsbildung geregelt ist, fehlt gemäss Aussagen der befragten Fachpersonen ein Grundsatz der Integration sowie ein Anspruch auf entsprechende Vorkehrungen, die den Zugang zu allen Bildungsstufen regeln. Deshalb empfehlen die Forscher, genügend Ressourcen zu schaffen, damit es ein Bildungssystem für alle gibt.
– Arbeit: Zwar entspricht das kantonale Personalrecht teilweise den Vorgaben der BRK, jedoch haben Mitarbeitende mit einer Behinderung keinen Anspruch darauf, dass Arbeitgebende das Arbeitsumfeld für betroffene Personen bedarfsgerecht organisieren. Explizit schreiben die Autoren: «Der Kanton Zürich übernimmt in Bezug auf die Anstellung von Menschen mit Behinderung bisher keine Vorbildfunktion.»
– Kultur, Freizeit und Sport: Es gibt keine Übersicht, welchen Hindernissen Menschen mit Behinderung in den Bereichen Kultur, Freizeit und Sport zu kämpfen haben. Der Kanton schöpft seine gesetzlichen Mittel hier nicht vollumfänglich aus.
– Gesundheit: Das Thema der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist in diesem Bereich kaum präsent. Wegen dem Umfang des Gesundheitssystems ist für die Einschätzung, ob die BRK eingehalten wird, eine eigene Studie notwendig.

Die Themen Kindes- und Erwachsenenschutz, Sexualität, Familie sowie Beziehung wurden in der Studie wegen mangelnden Ressourcen nicht behandelt.

Über die Bücher gehen

Aufgrund dieser Ergebnisse empfehlen die Forscher, eine kantonale Verwaltungsstelle zu schaffen, welche die BRK umsetzt. Auch die Erarbeitung eines Massnahmenplanes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wird gefordert sowie der hindernisfreie Zugang zu Informationen der kantonalen Verwaltung. Autor Naguib verweist diesbezüglich auf die kantonale Umsetzungspflicht: «Dazu gehört neben dem politischen Willen, dass die erforderlichen finanziellen, fachlichen und personellen Ressourcen bereitgestellt werden.» Auch der Dialog zwischen Regierung und den betroffenen Menschen sowie die Formulierung von überprüfbaren Zielen seien Teil der UNO-Behindertenrechtskonvention.

Dies scheint auch im Interesse der Zürcher Exekutive zu sein, zumindest begründet sie so den Studienauftrag: «Die Sicherheitsdirektion wollte in Erfahrung bringen, welche Massnahmen ergriffen werden müssen, damit die UNO-BRK im Kanton Zürich umgesetzt werden kann», sagt Andrea Lübberstedt, Chefin des kantonalen Sozialamtes. In einem nächsten Schritt werde man die Studienergebnisse analysieren und entsprechende Massnahmen eruieren. Lübberstedt sagt weiter: «Die Sicherheitsdirektion wird im Rahmen einer Medienkonferenz im November die Behindertenpolitik im Kanton Zürich und die nun veröffentlichte Studie beleuchten.»

Motion fordert bessere Berufsbildung für Jugendliche mit geistiger Behinderung

(SozialAktuell)

In der Schweiz ist das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK) seit 2014 in Kraft. Die Schweiz ist seither verpflichtet, die Berufsbildung so auszurichten, dass sie Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an der Gesellschaft befähigt. Der Aargauer Nationalrat Beat Flach (GLP) fordert den Bundesrat nun mit einer Motion dazu auf, diese Vorgabe auch für Jugendliche mit geistiger Behinderung umzusetzen. Diese haben gemäss heutigem Gesetz oft nur die Möglichkeit zur «Vorbereitung auf eine Hilfsarbeit oder auf eine Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte». Auslöser für den politischen Vorstoss war die Ankündigung der Stiftung Züriwerk im April
2018, den Schauspiellehrgang des Theaters HORA einzustellen. Das Theater könne keinen weiteren Nachwuchs aufnehmen und andere Stellen für Schauspielerinnen mit geistiger Behinderung gebe es in der Schweiz nicht. Die IV finanziert die Ausbildung in diesem Fall nur, wenn eine «Anschlusslösung» garantiert ist. insieme unterstützt die Motion Flach und fordert, dass alle Jugendlichen die Möglichkeit für eine berufliche Grundausbildung haben, die mehr ist als die Vorbereitung auf eine geschützte Werkstätte.insieme.ch

Kunstmuseum erhält Label «Kultur inklusiv»

(thurgaukultur.ch)


Bekommt ein neues Label: Das Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen. | © Michael Lünstroth

 

Das Kunstmuseum Thurgau und das Ittinger Museum bieten neu einen möglichst hindernisfreien Zugang zu ihren Kulturangeboten und erleichtern damit die kulturelle Teilhabe – auch für Menschen mit Behinderungen. Deshalb hat die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis den Museen in Warth das Label «Kultur inklusiv» verliehen.

Die Museen in der Kartause Ittingen sind laut Medienmitteilung des kantonalen Kulturamts damit die ersten Institutionen im Kanton Thurgau, die dieses Label nun erhalten haben. «Inklusive Kultur ist eine Kultur ohne Hindernisse für alle Interessierten. Sie stehe für einen möglichst hindernisfreien Zugang zu den Kulturangeboten und ermögliche die kulturelle Teilhabe von allen Menschen – auch von Menschen mit Behinderungen», heisst es in der Medienmitteilung weiter. Die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis vergebe dafür das Label «Kultur inklusiv».

Die beiden Museen sind Teil der Kartause Ittingen und dort seit 1983 beheimatet. Schwerpunkte des Kunstmuseums Thurgau sind Aussenseiterkunst und Kunst mit einem bestimmten Bezug zum Ort, ausserdem sammelt, präsentiert und vermittelt das Museum regionales Kunstschaffen. Das Ittinger Museum macht die Geschichte der Kartäusermönche anschaulich erfahrbar. In künstlerischen Projekten beider Museen sowie in allen anderen Betrieben der Kartause arbeiten regelmässig auch Frauen und Männer mit psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen mit. Zur Stiftung Kartause gehören ein Gastrobetrieb, ein Seminarhotel mit Veranstaltungsräumen für Konzerte und Kurse, ein Gutshof mit Gärtnerei und Fischzucht sowie ein Heim für betreutes Wohnen und ein Werkbetrieb mit geschützten Arbeitsplätzen. (tgk)

Haltekanten müssen nicht generell hoch sein

(Basler Zeitung)

Der Kanton hält an der für Velos gefährlichen Bauweise fest, obwohl der Bundesrat Teilerhöhungen erlaubt.


Links die Schienen, rechts der Randstein. Velofahrer sind bei behindertengerechten Haltestellen gefährdet. Foto Pino Com Foto Pini Covino

 

Von Martin Regenass
Basel. Für Velofahrer und Fussgänger sind die neu behindertengerecht ausgestalteten Tramhaltestellen wie an der Elisabethenstrasse oder an der Greifengasse ein Übel. Wie LDP-Grossrat Raoul I. Furlano in einem Vorstoss an die Regierung schreibt, hätten Fussgänger Mühe mit der ungewohnten Höhe beim Überqueren der Fahrbahn. «Es besteht Sturzgefahr und zahlreiche Unfälle sind bereits geschehen.»

Auch bei den Velofahrern hätten die durchgehend erhöhten Haltestellenkanten gemäss Furlano bereits zu zahlreichen Stürzen geführt. «Für Velos ist der Abstand zwischen der Kante der Haltestelle und der Schiene sehr klein.»

Furlano fragt nun die Regierung an, ob sie bereit sei, ihre bestehende Praxis mit den hohen und durchgehenden Haltestellenkanten zu ändern und die Perrons im Sinne des Bundesrats anzupassen. Die Landesregierung hat auf eine Anfrage des Basler LDP-Nationalrats Christoph Eymann geantwortet, dass eine Erhöhung der Haltestellenkanten nicht auf ganzer Länge der Perrons notwendig sei. «Wenn die Bedürfnisse der Velofahrenden nach Sicherheit die Interessen der mobilitätsein geschränkten Personen nach einem autonomen Ein- und Ausstieg an mehreren Fahrzeugtüren überwiegen, können Teilerhöhungen anstelle von Erhöhungen auf der gesamten Perronlänge realisiert werden.» Jede Haltestelle müsse grundsätzlich «bei mindestens einem Zugang pro Tramzug» den niveaugleichen Einstieg erfüllen.

Pro Velo froh um Vorstösse

Mit anderen Worten: Das zuständige Bau- und Verkehrsdepartement (BVD) könnte sogenannte «Kissen», eine Art Erhöhungen an einer Stelle der Tramhaltestelle, aufbauen. Dort könnten dann Leute mit einem Rollstuhl im Sinne des Behindertengleichstellungs- gesetzes autonom einfahren.

Bei Pro Velo beider Basel begrüsst man gemäss Geschäftsführer Roland Chretien die beiden Vorstösse: «Alt nativen sind schon in den damaligen Beratungen des Grossen Rates diskutiert worden, seither hiess es aber von seiten des Baudepartements immer, dass erstens alle Haltestellen und zweitens möglichst alle Türen rollstuhlgängig sein müssten.»

Für Velofahrer, so Chretien, wären deutlich kürzere Einengungen zwischen Schiene und Haltestellenkante schon mal positiv. «Besser wäre es, alle Kaphaltestellen so zu bauen, dass zwischen Randstein und Schienenrille auf der ganzen Länge mindestens 90 Zentimeter Platz blieben.» Bei Haltestellen, wie jener beim Kirschgarten in der Elisabethenstrasse sollte gemäss Chretien wegen des Gefälles und der schmalen Trottoirs ganz auf die Rollstuhlgängigkeit verzichtet werden. «Es wäre vertretbar, wenn hier, wie vom Bundesrat vorgeschlagen, der Einstieg mit einer Rampe durch das Personal ermöglicht wird.»

In Basel beträgt der Abstand zwischen Haltestellenkante und Schienenkopf 72 Zentimeter, sagt Chretien. Davon seien wegen des Schienenkopfs und der Gummifüllung noch rund zehn Zentimeter abzuziehen. Den Velo-fahrern in der Elisabethenstrasse bleiben somit zwischen drohendem Einhängen mit dem Pedal an der hohen Kante und dem drohenden Hängenbleiben in der Tramschiene mit dem Vorderrad rund 65 Zentimeter.

Berner grosszügiger zu Velos

Etwas mehr Freiraum gewähren die Stadtberner den Velofahrern bei den Tramhaltestellen. Rolf Meyer, Medien- sprecher von Bernmobil: «Bei Haltestellen mit Veloverkehr beträgt der Abstand zwischen Perron Haltekante und Schiene 1,40 Meter. Bei Haltestellen ohne Velofahrer sind es 1,22 Meter.» Im Gegensatz zu den Trams in der Region Basel setzt Bernmobil aller-dings auf Trams mit Schiebetritten bei den Türen, um die Distanzen zu den Perron-Haltekanten zuüberwinden. Meyer: «Diese Lösung mit den Schiebtritten ist genau wegen der Velofahrer zustande gekommen. Wir haben bemerkt, dass sich die Velofahrer unsicher fühlen und haben daher eine Kompromisslösung geschaffen.»

Auch bei den Verkehrsbetrieben Zürich gibt es eine Lösung mit Schiebetritten. In Basel haben die BVB diese Variante offensichtlich verpasst.

Bern kennt keine nur teilweise erhöhte Haltestellenkanten. Diese würden auf der ganzen Länge auf 27 Zentimeter angehoben. Meyer: «Wir registrieren viele Leute mit Kinderwagen. Da möchten wir an jeder Türe den niveaugleichen Einstieg ermöglichen, sonst gibt es an der Türe mit der Erhöhung ein Gedränge und die Abfertigung erfolgt nicht speditiv.»

Wie es auf Anfrage heisst, hält auch das BVD nichts von solchen teilweisen Erhöhungen. BVD-Sprecherin Nicole Stocker widerspricht der Aussage des Bundesrats, wonach im Minimum eine Tramtüre pro Station behindertengerecht ausgestaltet sein müsste: «Gemäss den rechtlich bindenden Grundlagen ist grundsätzlich jede Haltestelle auf der gesamten Länge niveaugleich zu gestalten.» Zwar seien begründete Abweichungen davon möglich, allerdings nur bei einzelnen Haltestellen.

Zudem würden die sogenannten Kissen, also die einzelnen Erhöhungen bei den Tramhaltestellen, laut Stocker «im Minimum 13 Meter lang und 27 Zentimeter hoch». Hinzu käme eineschiefe Ebene auf beiden Seiten, was ein solches Kissen im Minimum auf 20 Meter verlängern würde.

Das subjektive Sicherheitsgefühl eines Velofahrers sei gemäss Stocker bei einem solchen Kissen kaum grösser als bei einer durchgehend hohen Haltekante. «Im Gegenteil würde es die Velofahrer dazuverleiten, mitten in der Haltestelle zwischen die Schienen zu wechseln.» Stocker: «Für Passagiere auf dem Perron und die restlichen Fussgänger ist ein Kissen jedoch aufgrund des eher unkomfortabel und birgt bei Unachtsamkeit gar eine Stolpergefahr.

Beschwerliche Umwege für Ältere

Anders sieht das Andreas Stäheli, Geschäftsführer von Fussverkehr Region Basel. Er spricht bei den 27 Zentimeter hohen und für 42 Meter lange Trams ausgebildeten Haltestellenkanten von einem «Riegel». «Gewisse mobilitätse inge schränkte Leute können die Strassenseite bei solchen Tramhaltestellen nicht wechseln», sagt Stäheli. So müssten zum Beispiel ältere Menschen um die ganze Haltestelle herumgehen, da sie die 27-Zentimeter-Stufe aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr überwinden können. «Das ist ein Punkt, den es bei der Planung zu beachten gilt. Aus unserer Sicht müsste man die Haltestellenkanten nicht zwingend auf der ganzen Länge erhöhen», sagt Stäheli.

Das Bau- und Verkehrsdepartement will gemäss Stocker bei jeder Haltestelle vor Ort prüfen, welches die beste Lösung ist. «Deshalb wird die Teilerhöhung in Basel nicht als Standardlösung eingesetzt.»

Das etwas andere Schweizer Unternehmen

(swissinfo.ch)

Polyval wurde 1971 gegründet und hat heute sieben Werke im Kanton Waadt.
(swissinfo.ch)

 

Es ist schon für normale Firmen eine Herausforderung, ihren Angestellten eine interessante Arbeit zu bieten, gleichzeitig die Qualität der Dienstleistungen zu wettbewerbsfähigen Preisen zu garantieren und vereinbarte Fristen einzuhalten. Für die Firma der Stiftung Polyval im Kanton Waadt ist dies aber besonders schwierig: Seit ihrer Gründung beschäftigt sie ausschliesslich Personen mit einer körperlichen, psychischen oder geistigen Behinderung.

Wer durch das grosse Areal des Werks Lausanne-Vernand spaziert, dem erscheint Poyval als eine ganz normale Firma: Einige Arbeiter überwachen sorgfältig den Betrieb von Maschinen, andere montieren Gerätekomponenten oder verpacken Produkte. Und gegen Mittag entleeren sich die Werkstätten eine nach der anderen, und das Personal geht für die Mittagspause in die Kantine.

Doch die Firma Polyval, eine nicht-gewinnorientierte Stiftung, beschäftigt ausschliesslich Personen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die psychische oder sensorische Probleme haben und nicht in der Lage wären, im normalen Arbeitsmarkt einen Beruf auszuüben.

„Es sind Empfänger einer Ganz- oder Teilrente der Invalidenversicherung (IV), die in die aktive Welt und damit in die Gesellschaft integriert sein wollen. Auch heute noch spielt die Arbeit in der Schweiz eine sehr wichtige soziale Rolle. Schon nur, weil man auf dem Arbeitsweg und am Arbeitsplatz Kollegen trifft und gemeinsam etwas auf die Beine stellt“, sagt Hervé Corger, stellvertretender Direktor von Polyval.

„Schon von Beginn weg war unsere Idee, diesen Personen eine echte Arbeit anzubieten, also eine produktive Arbeit und keine Alibi-Aktivität. Wir geben den Leuten eine nützliche Arbeit, damit sie später auch Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Und ich denke, das Wissen, etwas Nützliches zu tun, ist für viele unserer Mitarbeiter noch wertvoller“, so Corger.

Zuliefer-Betrieb

Eine Idee, die Früchte trug, wenn man die Entwicklung der Firma während fast eines halben Jahrhunderts ihrer Existenz betrachtet. Heute verfügt Polyval über sieben Werke im Kanton Waadt, wo rund 450 Angestellte und etwa 70 Praktikanten arbeiten. Sie alle profitieren von beruflichen Eingliederungs-Massnahmen der IV. Weitere rund 100 Personen wirken bei der Arbeit mit, sei es als Sozialarbeiter oder in der Administration.

Die sozial-gewerbliche Firma verfügt heute über ein umfangreiches Netzwerk von regionalen Partnern und mehr als tausend Kunden – von kleinen und mittelgrossen Unternehmen bis zu grossen Multinationalen.

Statt selber Produkte herzustellen, ist Polyval hauptsächlich in der Fertigung für Kunden tätig: Mechanische Arbeiten, Montage von Geräten, Siebdruck oder Kartonagen. Seit einigen Jahren hat die Stiftung ihre Dienstleistungen auf den Dienstleistungssektor ausgedehnt: E-Commerce, computergestützte Datenverarbeitung, Verpackung von Produkten oder Abfüllen von Medikamenten.

Diese Mitarbeitenden im Werk Lausanne-Vernand sind auf die Verpackung von Medikamenten spezialisiert.
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„Dass wir in der Zuliefer-Industrie und in so vielen Sektoren tätig sind, erlaubt es uns, ein breites Spektrum an Aktivitäten anzubieten. Eine unserer grössten Herausforderungen ist, unseren Angestellten abwechslungsreiche Aktivitäten anbieten zu können und dabei die verschiedenen Behinderungen, die speziellen ergonomischen Anforderungen und die Kompetenzen zu berücksichtigen“, sagt Corger.

Höhere Abwesenheitsrate

Weitere Herausforderungen sind, dass die Produktion an den Arbeitsrhythmus der Mitarbeitenden angepasst werden muss und eine höhere Abwesenheitsrate als in anderen Unternehmen verzeichnet wird.

„Logischerweise sehen wir uns mit Problemen in der Konstanz von Arbeit und Präsenzzeit konfrontiert. Im Fall von körperlichen oder mentalen Behinderungen können wir den Arbeitsplatz anpassen: Der Mitarbeitende kommt langsamer voran, aber genügend stabil. Bei Personen mit psychischen Problemen ist es oftmals schwieriger: An einem Tag fühlt sich ein Mitarbeitender gut, am Tag darauf ist er – aus dem einen oder anderen Grund – nicht in der Lage, seine Arbeit zu machen“, sagt Corger.

Eine weitere Schwierigkeit verschärfte sich im gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld: „Auch unsere Kunden verlangen immer häufiger, dass Dienstleistungen in der vorgeschriebenen Art und Weise und innerhalb der vorgeschriebenen Frist ausgeführt werden. Sie stellen ebenso hohe Anforderungen an uns wie an jedes andere Unternehmen“, erzählt der stellvertretende Polyval-Direktor.

„Das ist auch verständlich: Ein Kunde, der bei uns eine Arbeit auslagert, muss ebenfalls Fristen einhalten, um sein Produkt an seine Kunden zu liefern. Hinter jedem Kunden steht fast immer ein weiterer Kunde“, so Corger.

Wie viele andere Unternehmen erlebte auch Polyval harte Zeiten, nachdem die Schweizerische Nationalbank 2015 den Euro-Mindestwechselkurs gegenüber dem Schweizer Franken aufgehoben hatte. Viele Kunden hatten sofort Preissenkungen bei den Zuliefer-Produkten verlangt, weshalb sich die soziale Firma gezwungen sah, ihre Margen deutlich zu reduzieren. Auch die Stiftung, deren Budget zu etwa 30% durch den Kanton gedeckt wird, ist den Marktgesetzen ausgesetzt.

Subventionen erhalten und Behinderte einsetzen, da liegt es nicht weit, Polyval des Preisdumpings auf dem regionalen Markt zu verdächtigen. „Man muss bedenken, dass wir für unser Personal im Vergleich mit anderen Firmen eine viel komplexere Infrastruktur sowie zahlreiche Sozialarbeiter brauchen“, verteidigt Corger sein Unternehmen.

„Wir bieten unsere Leistungen zu Marktpreisen an, wir ziehen Offerten an Land und verlieren andere. Ich glaube, dass wir heute zuallererst wegen unserer Kompetenz in verschiedenen Bereichen und für die Tatsache geschätzt werden, dass wir ein lokaler und zuverlässiger Partner sind.“

Zuerst nur ein Unternehmen mit industrieller Prägung, konzentriert sich Polyval zunehmend auch auf den Dienstleistungssektor, wie zum Beispiel die Wäscherei.
(swissinfo.ch)

 

Entspannte Atmosphäre

Doch was motiviert IV-Bezüger, arbeiten zu gehen? „Viele möchten ein wenig mehr Geld zur Verfügung haben, weil die IV-Renten nicht so weit reichen, wie viele glauben. Andere möchten einfach aktiv sein und nicht daheim herumsitzen und nichts tun. Personen mit Behinderungen leiden oft unter Einsamkeit. Manchmal müssen wir Mitarbeitende zwingen, ihre Ferien zu beziehen. Während des Urlaubs fallen sie aus ihrem Tagesrhythmus, und die Einsamkeit macht sich wieder breit“, sagt Corger.

In den Polyval-Werkstätten arbeiten einige mit voller Konzentration, besonders jene, die Maschinen und Anlagen aller Art bedienen. Andere, die in Gruppen arbeiten, scherzen in einer entspannten Atmosphäre miteinander.

Gibt es keine Probleme beim Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen Behinderungen? „Nein, es ist ähnlich wie in allen anderen Firmen, es gibt Personen, die sich besser verstehen, und andere, denen das schwerer fällt. Mitarbeitende mit einer Sinnesbehinderung arbeiten eher zusammen: Sie verstehen etwa Gebärdensprache und verstehen sich deshalb einfacher. Aber bei den anderen ist es eher eine Frage des Charakters, wie überall sonst auch“, sagt Hervé Corger.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

Der Nachteilsausgleich bewährt sich

(Panorama / Bildung Beratung Arbeitsmarkt)

Der Nachteilsausgleich bewährt sich

Eine Studie zeigt, dass der Nachteilsausgleich zur Chancengleichheit beiträgt und viele Betroffene nach dem Schulabschluss erfolgreich ins Erwerbsleben übertreten. Bei der konkreten Umsetzung an Berufs- und Mittelschulen besteht aber immer noch Verbesserungspotenzial.

Von Claudia Schellenberg, Dozentin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich

Verglichen mit der Sekundarstufe I gibt es auf der Sekundarstufe II wenige spezifische Massnahmen für Jugendliche mit einer Beeinträchtigung. Ein wichtiges Instrument ist der Nachteilsausgleich, der dazu dient, Einschränkungen durch Behinderungen aufzuheben oder zu verringern, indem die Bedingungen des Lernens und Prüfens den Bedürfnissen der Lernenden mit Beeinträchtigung angepasst werden. Grundlage dafür ist das Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 2002, das vorschreibt, dass Massnahmen zur Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung ergriffen werden sollen. Eine Studie der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) untersuchte, wie der Nachteilsausgleich an Berufsfachschulen und Mittelschulen derzeit verwendet wird.

Häufigster Grund ist Dyslexie

Die Studie zeigt, dass die Zahl der Gesuche in den letzten Jahren zugenommen hat. Während der beruflichen Grundbildung dürften 2017 gegen 1000 Lernende einen Nachteilsausgleich in Anspruch genommen haben. Gemessen am Gesamtbestand der Lehrverträge liegen die Quoten je nach Kanton zwischen 0,2 bis 4,3 Prozent (2010 bis 2016), in den meisten Kantonen jedoch unter 1 Prozent. Nur die Kantone Neuenburg (1,1 bis 2,4 Prozent) und Genf (3,0 bis 4,3 Prozent) weisen höhere Quoten auf. Trotz lückenhaften Zahlen zeigt sich, dass Nachteilsausgleiche an Berufsfachschulen doppelt so häufig wie an Mittelschulen vorkommen. Der häufigste Grund für einen Nachteilsausgleich ist mit Abstand Dyslexie, gefolgt von AD(H)S, Dyskalkulie und anderem (zum Beispiel chronischen Erkrankungen, Problemen mit der Sprache). Der Nachteilsausgleich kommt in drei Vierteln der Fälle in der Berufsbildung erst beim Qualifikationsverfahren zum Einsatz. Häufigste Massnahmen sind die Gewährung von zusätzlicher Zeit bei Prüfungen und der Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Wörterbüchern oder Computern. Andere Massnahmen wie die Anpassung der Aufgabenstellung oder Prüfungsform (zum Beispiel mündliche statt schriftliche Prüfung) oder die Modifikation der Bewertungskriterien (zum Beispiel Nichtberücksichtigen der Grammatik) werden deutlich weniger häufig eingesetzt. Die befragten Schulen erwähnen oft, dass sie die Umsetzung solcher Massnahmen als schwierig erleben. Teil der Studie war auch die Befragung von jungen Erwachsenen nach Ausbildungsabschluss, die einen Nachteilsausgleich erhielten. Viele geben an, dass sie es (im Rückblick) als aufwendig erlebten, einen Nachteilsausgleich zu bekommen, und sie sich nicht gut informiert fühlten. Dafür erlebten sie dann die Umsetzung an der Schule meist als problemlos und auch die Akzeptanz unter Kolleginnen und Kollegen als gross. Etwas weniger als die Hälfte der befragten Jugendlichen führt einen erfolgreichen Sek-II-Abschluss explizit auf den Nachteilsausgleich zurück.

Übergang in den Arbeitsmarkt

71 Prozent der ehemaligen Berufslernenden mit einem Nachteilsausgleich gehen ein Jahr nach Abschluss einer bezahlten Erwerbstätigkeit nach, jede fünfte Person (19 Prozent) absolviert eine Weiterbildung und 9,7 Prozent haben bisher keine bezahlte Arbeit gefunden. Die Zahlen sind vergleichbar mit der Durchschnittsbevölkerung desselben Alters (zum Beispiel im Jugendlängsschnitt TREE). Zwei Drittel der befragten Mittelschülerinnen und -schüler studieren direkt nach Abschluss an einer Hochschule, das restliche Drittel macht etwas anderes (zum Beispiel Militärdienst oder ein Praktikum). Die Zufriedenheit der Jugendlichen mit verschiedenen Aspekten der Arbeit ist hoch. Nur eine Minderheit (knapp 10 Prozent) sah sich bei der Integration in einem neuen Team und mit einem neuen Vorgesetzten mit Schwierigkeiten konfrontiert. Im Zeugnis ist der Nachteilsausgleich nicht aufgeführt, da die erreichten Lernziele und -inhalte nicht verändert wurden. Rund die Hälfte der befragten Berufs- und Mittelschulen erwähnt jedoch, dass die Arbeitgeber über den Nachteilsausgleich informiert werden sollten. Dies widerspiegelt vermutlich die Vorstellung, dass nach Schulabschluss womöglich weiterhin Anpassungen erforderlich sind. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass nur ein kleiner Teil (13 Prozent) weitere Anpassungen am Arbeitsplatz benötigt (wie z. B. Einstellung Telefonlautstärke, angepasste Tastaturen). Fast die Hälfte der Jugendlichen (44 Prozent) berichtet ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern von sich aus, dass sie an der Schule einen Nachteilsausgleich hatten. Die meisten Betriebe nehmen diese Information gut auf, bei rund einem Viertel löste sie jedoch Unsicherheiten aus.

Vorschläge zur Verbesserung

Wie können die Umsetzung des Nachteilsausgleichs verbessert und Bildungsgerechtigkeit gefördert werden? Ein wichtiger Punkt ist, dass die Informationen über den Nachteilsausgleich an den Schulen und in den Kantonen besser gestreut werden, sodass alle betroffenen Jugendlichen und deren Eltern frühzeitig von dieser Möglichkeit Gebrauch machen können. Insbesondere ist darauf zu achten, dass bildungsferne Eltern zu den entsprechenden Informationen gelangen. Denn für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs sind ein Antrag der Erziehungsberechtigten sowie die ärztliche Bescheinigung einer Beeinträchtigung erforderlich. Der Übergang an der zweiten Schwelle (von der Sekundarstufe II in den Beruf oder in eine weiterführende Ausbildung) läuft für die Jugendlichen mit und ohne Nachteilsausgleich vergleichbar ab. In wenigen Fällen brauchen Jugendliche mit einer Beeinträchtigung und erhaltenem Nachteilsausgleich bei der Arbeitsstelle weiterhin Anpassungen; dort könnte es für die Arbeitgebenden sinnvoll sein, mit den ehemaligen Lehrpersonen (oder ärztlichen Fachpersonen) der Jugendlichen Kontakt aufzunehmen und den Anpassungsbedarf abzusprechen. Weiter stehen die Lehrpersonen der Sekundarstufe II zunehmend Jugendlichen gegenüber, welche verschiedene Problemlagen aufweisen. Der Unterricht fordert in Zukunft wohl mehr Individualisierung und dazu nötige Prinzipien einer «integrativen Didaktik». Eine Folgestudie unter dem Titel «Enhanced Inclusive Learning (EIL)» der HfH und der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern widmet sich dieser Thematik. Sie geht vor allem der Frage nach, wie Massnahmen des Nachteilsausgleichs im Unterricht genau eingesetzt werden und wie ein entsprechendes Schulungsangebot für Lehrpersonen aufgebaut werden könnte.