Arbeit trotz Handicap

(Panorama / BildungBeratungArbeitsmarkt)

Trotz vielfältiger Bemühungen stagniert die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. Das widerspricht dem breit abgestützten Ziel, Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, ihre Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt einzubringen. Weitere Massnahmen sind angezeigt.

Von Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse


Arbeit trotz Handicap (Bild: Adrian Moser)

 

Für Menschen mit Behinderungen haben Erwerbsarbeit und Beschäftigung, wie für die meisten anderen Menschen, einen hohen Stellenwert. Denn sie bilden eine Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung und die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Dabei spielt nicht nur die Existenzsicherung eine Rolle. Auch soziale Anerkennung oder das Gefühl, gebraucht zu werden, sind häufig mit der Integration in den Arbeitsmarkt verbunden. Fehlen diese, kann das für die Betroffenen nicht nur eine ökonomische Prekarisierung zur Folge haben, sondern auch soziale Isolation, verbunden mit dem Verlust von Selbstvertrauen und Resignation.

Dass es dies zu verhindern gilt, ist seit einigen Jahren ein breit abgestütztes Anliegen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – nicht nur aus sozialer, sondern auch aus volkswirtschaftlicher und rechtlicher Perspektive. Denn einerseits ist die Berentung von Menschen mit Behinderungen ein Kostenfaktor im System der sozialen Sicherheit. Andererseits ist es im Kontext des Fachkräftemangels nicht angezeigt, das inländische Potenzial an Arbeitskräften, zu dem auch Menschen mit Behinderungen gehören, nicht optimal zu nutzen. Ausserdem existieren internationale und nationale Rechtsgrundlagen, die Menschen mit Behinderungen den Zugang zum Arbeitsmarkt ebnen sollen. So ist das Recht auf Arbeit spezifisch für Personen mit Behinderungen in Artikel 27 des UNO-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention) festgehalten. Für die Schweiz ist die Behindertenrechtskonvention am 15. Mai 2014 in Kraft getreten.

Stagnierende Erwerbsbeteiligung

Obwohl in den letzten Jahren vielfältige Massnahmen zur Stärkung der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen ergriffen wurden, insbesondere im Rahmen der Invalidenversicherung, hat eine Evaluation des Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG) gezeigt, dass sich die Erwerbschancen der Betroffenen seit Inkrafttreten 2004 nicht substanziell verbessert haben. Diese ernüchternde Bilanz widerspiegelt sich in den Zahlen des Bundesamts für Statistik: 2015 waren von den Menschen mit Behinderungen im Erwerbsalter nur 68 Prozent erwerbstätig (Menschen ohne Behinderungen: 84%).

Gründe für diese Stagnation sind auf verschiedenen Ebenen auszumachen. Zum einen mag es an individuellen Voraussetzungen von Menschen mit Behinderungen liegen, welche eine Integration in bestimmten Fällen erschweren. Zum anderen sind es gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie etwa soziale Barrieren (Berührungsängste, Zweifel an der Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen) oder lückenhafte Rechtsgrundlagen, welche einem Zugang zum Arbeitsmarkt nicht förderlich sind.

Das BehiG der Schweiz sieht zwar Massnahmen zur Verbesserung der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen vor, das betrifft aber nur Arbeitsver hältnisse, die durch das Bundespersonalgesetz geregelt sind. Auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisse findet es keine Anwendung, obwohl der Bund hierzu über die nötige Gesetzgebungskompetenz verfügt. Zudem wurden die allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts bis heute nie erfolgreich angewandt, um Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen in der Privatwirtschaft zu beseitigen.

Ein Blick ins Ausland zeigt, dass andere Länder eine Beschäftigungspflicht (gesetzliche Quote) für Unternehmen eingeführt haben, um die Arbeitsmarktbeteiligung von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen. Der jeweilige einzuhaltende Prozentsatz (zwischen 2 und 7 Prozent) ist von Land zu Land unterschiedlich und gilt ab einer bestimmten, ebenfalls unterschiedlichen Anzahl Beschäftigter in einem Betrieb. In den meisten Ländern gelten die Quoten sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor. In Deutschland sind öffentliche Verwaltungen und Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden seit 1974 verpflichtet, mindestens 5 Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderungen zu besetzen. Tun sie es nicht, ist eine Ausgleichsabgabe fällig, die im Umlageverfahren an die Unternehmen verteilt wird, welche Menschen mit Behinderungen einstellen. Mit diesem «Eingliederungszuschuss» können Arbeitgebende zum Beispiel Umbauten oder andere Integrationsmassnahmen finanzieren. Das zeigt Wirkung: Im Jahr 2003 lag der Anteil von Menschen mit Behinderungen an der erwerbstätigen Bevölkerung noch bei 4 Prozent, seither ist er auf 4,7 Prozent gestiegen. Auch in der Schweiz stand die Einführung einer Quote bereits auf der politischen Agenda; sie wurde aber vom Parlament stets abgelehnt.

Integrationsbemühungen verstärkt

Für eine gelingende berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen werden in der Schweiz von verschiedenen Akteuren immer wieder Projekte lanciert und Massnahmen ergriffen. Eine Bilanz zeigt, dass die Bemühungen in den letzten zehn Jahren sogar deutlich intensiviert wurden.Für die Massnahmen, welche sich an das Individuum richten, ist in erster Linie die Invalidenversicherung (IV) zuständig. Mit der 4. und insbesondere der 5. sowie der 6. IV-Revision hat die IV einen Paradigmenwechsel von der Rentenversicherung hin zu einer Eingliederungsversicherung eingeleitet. «Eingliederung vor Rente» und «Eingliederung aus Rente» waren dabei die treibenden Leitsätze. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses befindet sich eine weitere Änderung der IV im Parlament, der Bundesrat bezeichnet das Geschäft als «Weiterentwicklung der IV». Das Strategieziel der neuen Reformvorlage besteht nun nicht mehr in der finanziellen Sanierung der IV, sondern in der Weiterentwicklung der IV-Leistungen im Dienste der Integration. Der Invalidisierung vorbeugen und die Eingliederung verstärken sind die Hauptziele der Vorlage. Als Zielgruppe stehen Kinder und Jugendliche sowie Versicherte mit psychischen Beeinträchtigungen im Mittelpunkt. Besonderes Augenmerk gilt den Übergängen von der Schule in die Arbeitswelt. Zurzeit zeichnet sich ab, dass eine Mehrheit der nationalrätlichen Sozialkommission auf Sparelemente nicht verzichten möchte.

Für Massnahmen, welche die Rahmen- bedingungen betreffen, zum Beispiel den Abbau von Zugangshindernissen und die Ausgestaltung eines Arbeitsumfeldes, das den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen Rechnung trägt, kommt Akteuren wie dem Bund als Arbeitgeber, den Kantonen, der Privatwirtschaft und den Sozialpartnern eine Schlüsselrolle zu. Ein paar Beispiele:
– Das privatwirtschaftliche Informationsportal compasso.ch berät Arbeitgebende zu Fragen der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen. Es steht unter dem Patronat des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes.
– Gesamtarbeitsverträge (GAV) haben ein spezifisches Potenzial zur Verbesserung der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen. Mit ihnen lassen sich Lösungen treffen, die der Situation einer Branche oder eines Unternehmens besser gerecht werden als gesetzliche Vorgaben, die für alle gleichermassen verbindlich sind. Eine Studie von Travail.Suisse zeigt, welche Regelungen in GAV zur Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen vorliegen (zum Beispiel im Zusammenhang mit der Festlegung von Löhnen angesichts einer verminderten Produktivität) und wo Lücken und Probleme bestehen. Die Studie macht Vorschläge an die Sozialpartner, um die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen via GAV zu verbessern.
– Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) hat im Auftrag des Bundesrates 2017 – für einen Zeitraum von rund vier Jahren – das Programm «Gleichstellung und Arbeit» lanciert. Es soll die Gleichstellung mit Finanzhilfen für Projekte gezielt fördern. Damit ergänzt es die Massnahmen zur Förderung der beruflichen Integration im Rahmen der IV.
– An der Nationalen Konferenz zur Arbeits- marktintegration von Menschen mit Behinderung vom Dezember 2017 wurden eine Erklärung verabschiedet und Handlungsansätze vorgestellt, welche die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen fördern sollen.

Teilzeitfalle die andere Hälfte der Wahrheit

(Neue Zürcher Zeitung)

Gastkommentar
von SIMONE LEUENBERGER

Ich halte die monatliche Lohnabrechnung in den Händen. Während ich die Zahlen studiere, komme ich ins Sinnieren. Ein stattlicher Lohn ist es, den ich Monat für Monat verdiene. Etwas stolz bin ich schon darauf. Doch meine Gedanken gehen schnell weiter. Alter und Dienstjahre eingerechnet, bin ich mit meinem Lohn nicht einmal auf dem Niveau einer kaufmännischen Angestellten. Und ich habe doch einen Hochschulabschluss und arbeite auf meinem Beruf. Der Stolz weicht einer gewissen Ernüchterung. Ist es Traurigkeit oder doch eher Wut?

Infolge meiner Behinderung – ich habe eine Muskelkrankheit, bin deshalb auf den Elektrorollstuhl und persönliche Assistenz in allen alltäglichen Lebensverrichtungen angewiesen – arbeite ich nur 70 Prozent. Monat für Monat habe ich deswegen einen behinderungsbedingten Erwerbsausfall von mehreren tausend Franken. Diesen deckt keine Versicherung. Hinzu kommen die empfindlichen Lücken bei der Altersvorsorge.

Das sei Klagen auf hohem Niveau, mag man einwenden. Ja, ich kann mir glücklicherweise meinen Lebensunterhalt dank meiner guten Ausbildung und einer spannenden Arbeit mit meinem eigenen Einkommen verdienen. Es geht aber lange nicht allen Menschen mit Behinderungen so. Verschiedene Studien belegen, dass wir ein signifikant höheres Risiko haben, in Armut zu leben, als Menschen ohne Behinderungen. Das ist nicht erstaunlich, wenn wir uns das Sozialversicherungssystem einmal aus dieser Perspektive anschauen.

Wer aufgrund einer Behinderung einen Erwerbsausfall hat, hat Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (IV), ist die gängige Meinung. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit.

Man trägt den ganzen behinderungsbedingten Erwerbsausfall im Erwerbs- und auch im Pensionsalter als Zusatzbelastung selbst.

Der Erwerbsausfall muss beträchtlich sein, mindestens 40 Prozent. Wer, wie ich, mehr arbeiten kann, erhält keine IV-Rente und damit auch keine IV-Rente der Pensionskasse. Nicht einmal Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat man, da dieser an die IV-Rente gekoppelt ist. Auch die künftigen Rentenansprüche aus AHV und Pensionskasse werden empfindlich und mit langfristigen Folgen geschmälert. Man trägt den ganzen behinderungsbedingten Erwerbsausfall im Erwerbs- und auch im Pensionsalter als Zusatzbelastung selbst.

Das ist – nicht nur, aber ganz besonders – im Niedriglohnsegment problematisch. Zieht man Kosten für Miete und Krankenkasse ab, bleibt oft kaum genügend Geld übrig, um den Grundbedarf gemäss SkosRichtlinien (zurzeit 986 Franken) zu decken. Ganz zu schweigen vom disziplinierten Aufbau einer privaten Altersvorsorge.

Trotz allen begrüssenswerten Bemühungen um eine verstärkte Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt: Die Behinderung bleibt bestehen und kann nicht «wegintegriert» werden. Wo ein behinderungsbedingter Erwerbsausfall bleibt, darf er uns Menschen mit Behinderungen nicht zu hundert Prozent als Zusatzlast auferlegt werden – nicht im Wohlfahrtsstaat Schweiz. Es braucht Lösungen. Warum nicht eine Art «Behindertenzulage» schaffen in Anlehnung an die Kinder- und Ausbildungszulagen? Schliesslich ist eine Behinderung, genauso wie Kinder, mit zusätzlichen Kosten verbunden. Wir haben Mehrauslagen und Mindereinnahmen aufgrund unserer Behinderung.

Mit einer Behindertenzulage könnten diese etwas abgeschwächt werden, wir könnten unser Integrationspotenzial voll ausschöpfen und womöglich sogar ein klein wenig aufs Alter hin sparen. Der Absturz in die Teilzeitfalle könnte damit etwas abgefedert werden. Simone Leuenberger ist Gymnasiallehrerin und Mitarbeiterin bei Agile.ch, der Organisation von Menschen mit Behinderungen.

«EinTeil der Bevölkerung wird übergangen»

(Freiburger Nachrichten)

Wegen der zu tiefen Bahnsteige ist es Rollstuhlfahrern nicht möglich, ohne fremde Hilfe in den Zug von Freiburg nach Murten einzusteigen. Eine Betroffene hat den FN ihre täglichen Schwierigkeiten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gezeigt.


Auf den Gleisen 1, 4 und 5 im Bahnhof Freiburg ist das selbststständige Einsteigen für Rollstuhlfahrer ein Ding der Unmöglichkeit.Bild Alco Ellena

 

Niclas Maeder

FREIBURG Zu den Stosszeiten herrscht am Bahnhof Freiburg dichtes Gedränge. Pendler drücken sich hastig an den anderen Bahnhofsbesuchern vorbei und eilen auf eines der drei Perrons. So auch eine Rollstuhlfahrerin. Gekonnt schlängelt sie sich mit dem elektrischen Rollstuhl durch die Menschenmenge, fährt die Rampe zu den Gleisen hinauf und wartet auf den Zug nach Neuenburg. Der Zug hält, die Frau drückt auf den Türknopf mit dem abgebildeten Rollstuhlfahrer. Eine Rampe überbrückt den Abstand zwischen Perron und Fahrzeug, so dass sie problemlos einsteigen kann.

Ein Besuch am Bahnhof Freiburg zeigt: Die geschilderte Situation ist nicht real. Menschen im Rollstuhl können ohne fremde Hilfe weder nach Murten, noch nach Estavayer-le-Lac fahren, wo es keine Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer gibt. Und dies, obschon die genannten Orte Bezirkshauptorte und somit wichtige kantonale Verkehrsknotenpunkte sind. Die Perrons der Gleise eins sowie vier und fünf sind zwischen 15 und 20 Zentimeter zu tief, damit ein Rollstuhlfahrer barrierefrei einsteigen könnte.

Solchen Zuständen auch im Jahr 2018 noch zu begegnen, stimmt Katharina Kanka traurig. Die Plaffeierin sitzt seit ihrem 26. Lebensjahr im Rollstuhl. «Seit Jahren wird im öffentlichen Verkehr ein Teil der Bevölkerung einfach übergan-gen», meint sie. Es könne doch nicht sein, dass es in der heutigen fortschrittlichen Gesellschaft nicht möglich ist, ein Perron für einen barrierefreien Zugang zum Zug herzurichten. «Die Menschen fliegen zum Mond. Aber die Plattform um zwanzig Zentimeter zu erhöhen, scheint nicht möglich zu sein.» Eine Erhöhung des Perrons in Freiburg wird zwar in Aussicht gestellt, bis dahin werden jedoch noch einige Jahre vergehen.

Umständliche Reiseplanung
Spontane Ausflüge liegen für Rollstuhlfahrer nicht drin. Auf Reisen, bei denen ein Mobilitätshelfer der SBB benötigt wird, muss ein solcher eine Stunde vor Reiseantritt angefordert werden. AufS-Bahn-Strecken sind es bis zu zwei Stunden.

Das Planen einer Reise gestaltet sich auch bei genügend Zeitreserven schwierig. Will ein Rollstuhlfahrer von A nach B und macht sich deshalb im Online-Fahrplan der SBB schlau, muss er zusätzlich den Filter «Barrierefreies Reisen» aktivieren, damit alle rollstuhlgängigen Reiserouten angezeigt werden. Doch dann die Überraschung: Bei einigen Zugverbindungen taucht das Ikon des durchgestrichenen Rollstuhlfahrers auf. Die Beförderung von Rollstuhlfahrern ist auf der gewählten Strecke unmöglich. Betroffen sind die Verbindungen von Freiburg nach Bulle, Estavayer-le-Lac oder Murten. «Ab dem frühen Abend stehen in Freiburg und an anderen Bahnhöfen keine Mobilitätshelfer mehr zur Verfügung», sagt Kanka. «Das ist Diskriminierung pur von Rollstuhlfahrern, die hier leben oder unser schönes Land besuchen wollen.» Der Hintergrund: Ohne Mobilitätshelfer gibt es niemanden, der die gelben mobilen Lifte auf den Perrons bedient, wodurch die Rollstuhlfahrer stranden.

Behinderte in Bittstellerrolle

Katharina Kanka reicht es nun: Sie hat im Frühjahr Bundesrätin Doris Leuthard eingeschaltet, um endlich etwas zu bewirken. Zu lange seien Ausreden gesucht und auch gefunden worden – und das, obwohl das Behindertengleichstel lungsgesetz (BehiG) bereits seit 2004 in Kraft ist. Dieses siehtvor, dass bis 2023 Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung verhindert oder beseitigt werden. «Wir befinden uns in einer Art Bittstellerrolle. Dabei darf laut Verfassung niemand wegen einer Behinderung diskriminiert werden. Es kommt mir manchmal vor, als ob Behinderte selber Schuld wären, dass sie nicht laufen können.» Kanka kennt die Situation der Behinderten in der Schweiz sehr gut – einerseitsweil sie selber im Rollstuhl sitzt, andererseits durch ihr langjähriges Engagement. Sie war Aktivistin in der seit den1970 er-Jahren aktiven Selbstbestimmt- leben- Bewegung und war an der Einführung des Assistenzbeitrags der Invalidenversicherung beteiligt.

Reaktionen

Die Hürden sind den SBB und TPF bekannt
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) stellt die öffentlichen Verkehrsbetriebe vor grosse Herausforderungen. Mit Ablauf der Übergangsfrist im Jahr 2023 müssen ein Teil der Bahnhöfe und Bushaltestellen für Menschen mit Behinderung barrierefrei zugänglich sein (siehe Text unten). «Uns ist es ein grosses Anliegen, unseren Passagieren mit Behinderung ein komfortables und sicheres Reisen zu ermöglichen», sagt Aur&ia Pedrazzi von den Freiburgischen Verkehrsbetrieben (TPF). Man arbeite mit Hochdruck am Ziel, bis 2023 alle Bahnhöfe im Kanton Freiburg behindertenkonform herzurichten. «In
Belfaux-Village, Münchenwiler-Courgevaux, Pensier und La Tour-de-Trême Ronclina sind die Perrons konform. Es folgen in den nächsten Monaten die Bahnhöfe von Chätel-St-Denis, Courtepinund Montbovon.»

Finanziert werden die Anpassungsarbeiten nicht vom Kanton, sondern von den Bundesgeldern zur Finanzierung und zum Ausbau der Bahninfrastruktur (Fabi). Unternehmen wie die TPF und die SBB sind somit darauf angewiesen, dass ihnen Gelder zugesprochen werden. Bei der Entscheidung, welche Projekte realisiert werden, spielt das Kosten-Nutzen-Verhältnis eine wichtige Rolle, wie Daniele Pallecchi von den SBB ausführt: «Schweizweit sind momentan über die Hälfte der SBB-Bahnhöfe zu barrierefreien umgebaut worden. Davon profitieren heute bereits 76 Prozent aller Reisenden.» Fällt das Kosten-Nutzen-Verhältnis negativ aus, so ermögliche BehiG sogenannte Ersatzmassnahmen wie die Hilfestellung durch das Bahnpersonal, Faltrampen oder mobile Lifte an den Statonen. «Der Bahnhof Freiburg wird mit dem Jahr 2023 ebenfalls barrierefrei sein.» Die Anpassungen seien hier nicht prioritär gewesen, sagt Pallecchi. «Im Jahr 2017 wurden in Freiburg 1817 Hilfestellungen erbracht, davon 290 im Regionalverkehr. Mit einem täglichen Durchschnitt von weniger als einer Hilfestellung im Regionalverkehr ab den Gleisen 1, 4 und 5 ist der Bedarf in Freiburg unterdurchschnittlich.» Das heisse aber nicht, dass die SBB die Behinderten nicht ernst nehme: Um beim Einstieg in die Züge nach Murten, Estavayer-le-Lac oder Düdingen zu helfen, werde tagsüber ein Mobilitätshelfer aufgeboten. «Die SBB nimmt die Behindertengleichstellung sehr ernst und setzt alles daran, dass Reisende mit eingeschränkter Mobilität die Dienstleistungen der SBB diskriminierungsfrei nutzen können.»

nmm

«Ich möchte Brückenbauen»

(ZentralschweizamSonntag)

Baar Oliver Ranger, der an Zerebralparese leidet, will für die SP im Kantonsrat politisieren. Als Rollstuhlfahrer begegnet er im Alltag immer wieder Hürden – sowohl baulichen als auch menschlichen. Doch der 24-Jährige lässt sich davon nicht unterkriegen

Rahel Hug rahel.hug@zugerzeitung.ch
Als Oliver Ranger für den Wahlkampf an einer Telefonaktion teilnehmen wollte, musste er kurz nach seiner Ankunft wieder mkehren. Warum? Das Gebäude, in dem sich die Kandidaten für die Aktion trafen, ist nicht komplett rollstuhlgängig. Immer wieder begegnet Oliver Ranger im Alltag solchen Hürden. Das ist mit ein Grund, weshalb sich der 24-jährige Baarer nun politisch engagieren möchte.

Ranger kandidiert für die SP Baar für einen Sitz im Zuger Kantonsrat. «Ich möchte in der Gesellschaft Brücken bauen zwischen Behinderten und Menschen ohne Einschränkung. Es ist Zeit, dass auch Menschen mit Beeinträchtigung in der Politik vertreten sind und eine persönlichere Stimme erhalten», sagt Ranger.

Sein Ziel ist ein Politologiestudium

Der motivierte und selbstbewusste junge Mann leidet an Zerebralparese, einer Bewegungsstörung, deren Ursache in einer frühkindlichen Hirnschädigung durch Sauerstoffmangel liegt. Er ist seit der Kindheit an den Rollstuhl gebunden und aufpflegerische Hilfe angewiesen.

Seit etwas mehr als zwei Jahren lebt Oliver Ranger, dessen Eltern aus der Schweiz und Eng- land stammen, im Pflegezentrum Baar auf der Abteilung für junge pflegebedürftige Menschen. Zuvor hatte er die Werktage in deLuzerner Stiftung Rodtegg verbracht und am Wochenende bei seinen Eltern in Baar gewohnt. In der Rodtegg hat er eine Insos-anerkannte, praktische Ausbildung absolviert und daneben bei der Institution Akad in Zürich im Selbststudium das Bürofachdiplom VSH und das Handelsdiplom VSH erlangt. Diese Ausbildung hat Ranger im letzten Jahr abgeschlossen. «Es war immer mein Ziel, selbstständig arbeiten zu können.» Das hat die Kämpfernatur erreicht: Seit rund zwei Jahren arbeitet der 24-Jährige in einem Zuger Treuhandbüro im Backoffice als Büroangestellter. Der Job gefalle ihm, sagt Ranger, «doch ich möchte es nicht das ganze Leben lang machen». Er hat bereits weitere Pläne. «Ich will ein Politologiestudium absolvieren.» Ein Wunsch von Ranger ist es auch, dereinst selbstständig wohnen zu können. Die Herausforderung dabei ist die pflegerische Unterstützung, die er in Anspruch nehmen muss. «Hier braucht es unbedingt mehr Möglichkeiten», ist er überzeugt.

Das ist ein Punkt von vielen, die Oliver Ranger in der Politik angehen möchte. Auch die Sicherheit und die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum liegen ihm am Herzen. Ein Beispiel, das er nennt, ist die Einfahrt in die Oberneuhofstrasse auf der Fahrradstrecke von Baar nach Zug. Diese sei für Menschen mit und ohne Einschränkung gefährlich. Einerseits, weil es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gebeandererseits sei die Strasse in der Nacht zu wenig beleuchtet. Ein anderes Beispiel sind die SBB- Perrons. In Baar beispielsweise kann Ranger ohne Probleme in einen Niederflurzug einsteigen – anders in Zug, wie er angibt: «Der Höhenunterschied ist ein bisschen zu gross, sodass ich Hilfe brauche.»

Die baulichen Themen sind das eine, die menschlichen das andere. «Ich spüre, dass viele Leute nach wie vor Hemmungen haben im Kontakt mit Behinderten. Das möchte ich verändern»,betont Ranger. Er merkt das beispielsweise, wenn er jemanden bittet, ihm eine Türe zu öffnen, und diese Person – wohl, weil sie zu grossen Respekt hat – an ihm vorbeigeht. «Die meisten Leute sind sehr hilfsbereit, doch es bestehen leider noch zu oft Berührungsängste.»

Das Regierungsgebäude ist rollstuhlgängig

Auf Bundesebene sitzt mit Christian Lohr ein behinderter Politiker im Nationalrat. Der Thurgauer CVP-Parlamentarier kam ohne Arme und mit verkürzten Beinen zur Welt. Nach dem verstorbenen Berner FDP Nationalrat Marc F. Suter ist er der zweite Rollstuhlfahrer, der im Nationalrat politisiert. Mit seinem rechten Fuss steuert er seinen Elektrorollstuhl, schreibt und tippt, bedient das Telefon. Im Kanton Zug kandidiert mit der Tetraplegikerin Manuela Leemann (CVP) eine weitere Rollstuhlfahrerin für denKantonsrat.

Wie Landschreiber Tobias Moser auf Anfrage sagt, gab es bislang seines Wissens in Zug keine kantonalen Politiker, die an den Rollstuhl gebunden waren. Das Regierungsgebäude und auch der Kantonsratssaal seien aber rollstuhlgängig. «Wir haben im Hause regelmässig Kundschaft, die den Seiteneingangauf der Südseite und den Aufzug benutzt», so Moser. Auf die Frage, ob jemand, der an Zerebralparese leidet, die elektronische Abstimmungsanlage bedienen könnte, sagt der Landschreiber: «Wir finden in jedem Fall eine pragmatische Lösung; bei Bedarf kann das Büro des Kantonsrats das Reglement für die elektronische Abstimmungsanlage anpas-sen.» Der Kanton Zug sei bezüglich B ehindertengleichstellungs-gesetz und Barrierefreiheit gut aufgestellt. «Wir hatten und haben Mitarbeitende, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Das Behindertengleichstellungs-gesetz enthält beispielsweise auch Vorgaben für die Umsetzung des Internetauftritts, die wir bereits seit 2008 beachten.»


Mit einem Joystick steuert Oliver Ranger seinen Rollstuhl. Bild: Werner Schelbert
(Baar, 10. August)

 

Konflikt um barrierefreies Bad

(Thurgauer Zeitung)

Rorschach Die gehbehinderte Ruth Brunner parkiert seit 28 Jahren vor der Badhütte. Damit ist sie nicht allein. Die Stadt toleriert das nicht. Deswegen überlegt sich die 72-Jährige rechtliche Schritte. Helfen kann auch Procap nicht.


Wer nicht gut zu Fuss unterwegs ist, schätzt die kurzen Wege zwischen WC, Garderobe und Seeeinstieg. Bild:Reto Martin (7. August 2015)

 

Jolanda Riedener
jolanda.riedener @tagblatt.ch.ch

Die Stadt Rorschach macht keine Ausnahme mehr für gehbehinderte Personen, die vor der Badhütte parkieren: Auf der Seepromenade, die ausschliesslich Velofahrern und Fussgängern dient, gilt Fahrverbot. Lediglich mit einer Bewilligung, wie sie Zulieferer des Seecafes Arion oder der Badhütte erhalten, ist die Zufahrt erlaubt. Eine an Multiple Sklerose (MS) erkrankte Frau, die während über zehn Jahren regelmässig die Badhütte besuchte, äusserte sich darauf gegenüber unserer Zeitung (Ausgabe vom 9.August).

Bisher sei es ihr möglich gewesen, ihr Auto dort für wenige Stunden abzustellen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Dies auch, weil sich die frühere Pächterin für sie eingesetzt habe. Marialuisa Togni leitete die Badhütte während zwölf Jahren. Die Rorschacherin ist passionierte Schwimmerin und ebenfalls an MS erkrankt.

Sie selber könne den Weg zur Badhüte zu Fuss mit Krücken bewältigen. Für die neue Handhabe der Stadt zeigt sie aber kein Verständnis: «Das Wasser ist ein Geschenk, man fühlt sich schmerzfrei und kann sich unbeschwert bewegen», sagt Togni. Dank eines Sponsors hätte sie sogar einen Sitzlift für Gehbehinderte in der Badhütte bauen können. Der Denkmalschutz sei involviert gewesen. «Der Sponsor hätte 50 000 Franken gezahlt, für die Stadt wären keine Kosten entstanden.» Diese habe das Angebot aber abgelehnt, in Sorge darum, dass mehrere Fahrzeuge vor der Badhütte parkieren würden.

Eine weitere gehbehinderte Badhütte-Besucherin ist die 72-jährige Ruth Brunner. Sie wohnt eben falls in Goldach. Ihre rechte Körperhälfte ist gelähmt. Im Gegensatz zur MS-kranken Besucherin sei sie bereits im Juli 2017 von der Stadt in einem Schreiben darüber informiert worden, dass sie nicht mehr vor der Badhütte parkieren dürfe. Im besagten Schreiben an Ruth Brunner heisst es, dass die Parkierungserleichterung für Gehbehinderte auf der Promenade nicht gelte, wie weitere Abklärung bei der Kantonspolizei St. Gallen zeigten.

Soziale Kontakte in der Badhütte pflegen

Nach 28 Jahren, in denen die 72-Jährige die Badhütte besuche, habe sie den Entscheid der Stadt nicht akzeptieren können. «Ich kann besser Schwimmen als laufen», sagt Brunner. Sie wolle, so gut es geht, selbstständig bleiben. Die Badhütte sei der einzige Ort, wo das möglich sei und sie schwimmen könne. «Im Wasserfühle ich mich so wohl und frei», sagt die Goldacherin. In der Badhütte habe sie auch ein soziales Umfeld: «Wir sind eine grosse Familie.»

Deshalb habe sie sich mit der Stadtverwaltung in Verbindung gesetzt. Ein Bekannter habe sie dabei unterstützt. Aus Brunners Sicht verlief das Gespräch mit einem Vertreter der Stadt ergebnislos. Der Stadtpräsident habe sie gar nicht erst anhören wollen.Deshalb habe Brunner erwähnt, dass sie allenfalls rechtliche Schritte unternehmen wolle.

«Die Haltung des Stadtrats ist klar», sagt Stadtpräsident Thomas Müller. Daran würden auch Drohungen nichts ändern. Wir können die Zufahrt sowie das Parkieren vor der Badhütte nicht tolerieren», sagt Müller. Ausserdem gebe es Alternativen. Selbst Behindertenorganisationen würden Verständnis für die Situation und den Entscheid der Stadt Rorschach zeigen.

Ruth Brunner kontaktierte schliesslich im September 2017 Procap, den grössten Mitglieder-verband von und für Menschen mit Behinderungen der Schweiz. Dieser habe anschliessend die rechtliche Situation vor Ort geprüft und trat mit der Stadt in Kontakt. «Juristisch ergab sich keine Möglichkeit, gegen den Entscheid der Stadt Rorschach vorzugehen», bestätigt Geschäftsleiter Hansueli Salzmann. Dies habe sein Vorgänger Roland Eberle Ruth Brunner damals mit-geteilt. «Wir bedauern das sehr», sagt Salzmann.

Ruth Brunner kann sich nicht vorstellen, wer sich daran störe, wenn sie ab und zu für ein paar Stunden ihr Auto vor dem historischen Bad parkiere. Schliesslich habe sie in denvielen Jahren stets darauf geachtet, den Durchgang für andere Fahrzeuge freizuhalten. Brunner und ihr Bekannter hätten sich immerhin einen Kompromiss oder einen Runden Tischerhofft. Ihre Kolleginnen treffe sie seither nicht mehr häufig. «Alle fragen mich: »

All Inclusive Seismografen

(Surprise Strassenmagazin)


Illustration: Rahel Nicole Eisenring

 

2014 erschien in dieser Zeitschrift eine Langzeit-Reportage von Christof Moser über die Widerstandsbewegung in der Türkei. Bahar, eine junge Prostituierte aus Istanbul, sagte damals: «Wir Randständigen, wir Huren und Transvestiten, aber auch andere Minderheiten wie Schwule, Ausländer, Künstler, überhaupt die Freaks in einer Gesellschaft, sind wie Seismografen, die als Erste spüren, wenn der Staat die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger angreift. Erst wenn auch der Mainstream betroffen ist von staatlichen Repressalien, entsteht eine Bewegung. Manchmal ist es dann für Gegenwehr schon zu spät. Ich glaube, für die Türkei ist es noch nicht zu spät. Wir werden für unsere Freiheit kämpfen und wir werden gewinnen.»

Vier Jahre später hat sich nicht nur die politische Situation in der Türkei drastisch zugespitzt. In vielen Ländern Europas wie auch in den USA sind nationalistische und totalitäre Kräfte im Aufwind – oder bereits an der Macht.

Und in der Schweiz? Die SVP verwendete schon 2015 in ihrem Positionspapier «Missbrauch und ausufernde Sozialindustrie stoppen» mehrere Male das Wort «arbeitsscheu». Die Wortwahl ist bei der SVP stets genau kalkuliert. Ein bisschen Provokation, ein bisschen Grenzüberschreitung – und Stück für Stück verschiebt sich nicht nur dieGrenze des Sag-, sondern auch die des Machbaren.

Im Rahmen der Aktion «Arbeitsscheu Reich» wurden 1938 in Deutschland mehr als 10000 Menschen als «Asoziale» in Konzentrationslager verschleppt. Betroffen waren Männer im arbeitsfähigen Alter, die zweimal einen angebotenen Arbeitsplatz abgelehnt oder nach kurzer Zeit aufgegeben hatten. Die Gestapo besorgte sich die benötigten Informationen über die Arbeitsämter.

So weit geht die SVP nicht. Sie zielt erst einmal darauf ab, dass Leistungen eingestellt werden können, wenn eine «zumutbare» Arbeit verweigert wird. Im gleichen Positionspapier schreibt sie aber auch: «Unzumutbare Arbeit» gebe es in diesem Zusammenhang nicht. Ausserdem sei den Steuerzahlern gegenüber volle Transparenz zu gewährleisten bezüglich der im Rahmen der Sozialhilfe erbrachten Leistungen sowie der davon begünstigten Personen. Heisst: Die Namen der Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, sollen veröffentlich werden.

Wie Bahar in der Türkei hatte auch die jüdische Philosophin Hannah Arendt bereits vor 60 Jahren aus ihren Untersuchungen – und ihrer persönlichen Erfahrung – des Totalitarismus den Schluss gezogen, dass die Missachtung der Grundrechte in einer ersten Phase an schutzlosen Minderheiten «ausprobiert» wird, bevor in einer zweiten Phase dann die gesamte Bevölkerung miteinbezogen wird. Dass die SVPmit ihrer «Selbstbestimmungsinitiative» auch die Kündigung der Menschen-rechtskonvention (EMRK) anstrebt, verheisst nichts Gutes.

Solche gefährlichen Entwicklungen können nur aufgehalten werden, wenn sich viele Menschen engagieren, bevor es sie selbst betrifft: gegen die willkürliche Überwachung von Versicherten, gegen drastische Verschärfungen bei der Sozialhilfe. Und gegen Medien, die regelmässig Hetzern eine Plattform bieten, aber nicht denen, die verunglimpft werden. Minderheiten müssen für sich selbst sprechen können. Ihr Bild darf nicht von Hetzern gezeichnet werden, die sie als andersartig oder minderwertig darstellen.

Die diesjährige Kampagne von Pro Infirmis zeigt Menschen mit Behinderungen humorvoll in unterschiedlichen Situationen, die jeder kennt: Zwei Frauen tragen auf einer Party das gleiche Kleid, das Handy klingelt im unpassenden Moment – ein bisschen peinlich, aber auch sehr menschlich. Das Gegenüber nicht als fremd wahrnehmen, sondern sich selbst darin wiedererkennen – das verbindet. Das Gemeinsame ist die grösste Stärke gegen Kräfte, die eine Gesellschaft in «die» und «wir» spalten wollen.

MARIE BAUMANN schreibt unterivinfo.wordpress.com über Behinderung und die Invalidenversicherung. Sie hofft, dass es für die Schweiz noch nicht zu spät ist.

Auch hiesige Kulturinstitutionen lassen Behinderte teilhaben

(Luzerner Zeitung)

Publikation Wie ermöglicht man kulturelle Teilhabe für Menschen mit Behinderungen? Und was hat das breite Publikum davon? Praxisnahe Antworten liefern 35 Schweizer Kulturinstitutionen.

Kulturelle Teilhabe setzen Kulturinstitutionen um, die ihr Angebot auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich machen und sie als Publikum, Kulturschaffende und Mitarbeitende ansprechen. Von A wie Augusta Raurica bis Z wie Zürcher Theater-Spektakel: 35 Kulturakteure kommen zu Wort in der neuen Publikation «Inklusive Kultur» der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis. Darunter sind auch vier Zentralschweizer Labelträger: das Kunsthaus Zug, das Museum für Urgeschichte (n) in Zug, das Luzerner Sinfonieorchester und die Stanser Musiktage.

Wie wird man «inklusiv» als Mehrspartenhaus, Musikfestival oder Museum? Die Publikation bietet Beispiele: Der Inklusionspionier aus den Performing Arts kommt ebenso zu Wort wie das Mehrspartenhaus oder das Museum, das mit Menschen mit Behinderungen einen Führer in leichter Sprache erarbeitet hat. Zudem berichten Kulturakteure über Herausforderungen und über welche Umwege sie ihrem Ziel nähergekommen sind.

Die Publikation will aber auch staatliche Förderstellen und Förderstiftungen im Kultur- und Sozialbereich ermutigen, inklusive Kulturangebote zu fördern. Kulturelle Inklusion sei ein Mehrwert für alle: Rampen statt Treppen beim Museumseingang sind auch für Familien mit Kinderwagen eine Hilfe, zum Programmheft in einfacher Sprache greifen auch jene, die nicht gut Deutsch können, und eine nach dem Mehr-Sinne-Prinzip konzipierte Ausstellung kann auch für sogenannt normale Menschen eine Bereicherung sein. (red)

Hinweis
Die Publikation kann gratis heruntergeladen werden unter: www.kulturinklusivch («Redaktionelles»)

Autisten fordern ruhiges Einkäufen bei Migros und Coop

(Aargauer Zeitung / GesamtRegio)

VON BENJAMIN WEINMANN
Kein grelles Licht und keine lauten Geräusche: Mit solchen Massnahmen wäre der Einkauf für viele Menschen mit Autismus etwas kleiner. Die britische Supermarktkette «Morrisons» hat deshalb kürzlich eine ruhige Einkaufsstunde angekündigt: Samstags während 60 Minuten werden die Rahmenbedingungen für Menschen mit Autismus in den Filialen entsprechend angepasst, in Zusammenarbeit mit der nationalen Autismus-Organisation.

Auch hierzulande existiert der Wunsch nach einem Entgegenkommen der Detailhändler, wie Regula Buehler, Geschäftsleiterin des Vereins Autismus Deutsche Schweiz, sagt. «Für Menschen mit Autismus oder auch anderen Beeinträchtigungen wäre es ein grosser Gewinn an Lebensqualität, wenn sich Migros, Coop und andere Händler an Morrisons ein Beispiel nehmen würden.» Buehler hatte ein solches Begehren vor drei Jahren schon einmal erfolglos bei der Migros platziert. Nun hofft sie auf das Momentum aus England. Sie werde die Detailhändler erneut auf das Thema ansprechen und ihre Hilfe anbieten.

Doch eine Umfrage der «Nordwestschweiz» bei grossen Schweizer Detailhändlern zeigt, dass die Bereitschaft, dieses Bedürfnis zu prüfen, aktuell sehr tief ist.

Die IV muss über die Bücher

(Limmattaler Zeitung)


Das Bundesgericht zwingt die Solothurner IV zu mehr Transparenz bei den ärztlichen Gutachtern. THOMAS ULRICH

 

Die IV muss über die Bücher

Öffentlichkeitsprinzip Entscheiden Gutachter, die viele Aufträge von der IV erhalten,
eher im Sinne der IV? Die Solothurner IV muss in dieser Frage nach jahrelangem Widerstand für Transparenz sorgen. Das hat das Bundesgericht entschieden.

Es gibt ärztliche Gutachter, die von der IV so viele Aufträge erhalten, dass sie von der IV finanziell praktisch leben. Entscheiden diese Gutachter in ihren ärztlichen Berichten vielleicht eher im Sinne der Versicherung und verneinen mehr Rentenansprüche als andere Gutachter? Diese Frage, die erst einmal nicht mehr als ein Verdacht ist, wollte der Kriegstetter Anwalt Rémy Wyssmann abldären. Im Namen eines Klienten fragte er deshalb bei der IV an, wie oft die Entscheide eines der meistbeauftragten Gutachters zugunsten und wie oft sie gegen eine Rente ausgefallen sind. Wyssmann musste dazu einen langen Kampf führen. Denn die Solothurner IV weigert sich seit Jahren standhaft, für Transparenz in dieser Frage zu sorgen. Es gebe keine entsprechende Statistik, hielt die Versicherung jeweils fest und argumentierte, der Aufwand, um dies herauszufinden, sei zu gross. Auch eine Empfehlung der kantonalen Beauftragten für Information und Datenschutz schlug die IV in den Wind.

Verwaltungsgericht lag falsch

Jetzt aber muss die IV wohl oder übel den Aufwand auf sich nehmen. Das hat soeben das Bundesgericht entschieden. Die Richter dort betonen, dass im Kanton Solothurn das Öffentlichkeitsprinzip gelte und Bürger ein Recht auf den Zugang zu amtlichen Dokumenten haben. Eine Verweigerung des Aktenzugangs wäre demnach nur möglich, «wenn ein so ausserordentlicher Aufwand zu bewältigen wäre, dass der Geschäftsgang der Behörde dadurch nahezulahmgelegt würde». Damit korrigieren die höchsten Richter ein Urteil des Solothurner Verwaltungsgerichtes, das das Vorgehen der IV noch gestützt hatte. – Es ist keine Seltenheit, dass kantonale Instanzen für das Öffentlichkeitsprinzip weniger Verständnis haben als die höchsten Richter.

Nun muss die IV die 161 Gutachten, die der betroffene Gutachter in der Vergangenheit erstellt hatte, Anwalt Wyssmann anonymisiert zur Verfügung stellen, zumindest diejenigen Seiten mit der Empfehlung, ob eine Rente gesprochen werden soll oder nicht. «Ein solcher Aufwand erscheint zwar nicht gering, würde den Geschäftsgang der IV-Stelle Solothurn aber kaum lahmlegen», schreibt das Bundesgericht. Zudem sei der Aufwand gerechtfertigt, da der Klient ein sogenannt schutzwürdiges Interesse vorbringen könne. Denn für die Betroffenen sei es von Belang, zu erfahren, «ob es für einen Gutachter eine Tendenz gibt, Arbeitsunfähigkeit eher zurückhaltend oder grosszügig anzuerkennen.» Die entsprechende Erkenntnis sei für sie «durchaus von praktischem und unter Umständen sogar von rechtlichem Nutzen.» Schliesslich, so die Bundesrichter, habe das Gutachten Einfluss auf den Entscheid, ob jemand eine IV-Rente erhalte oder nicht.

Anders hatten noch die Solothurner Verwaltungsrichter argumentiert. Sie waren der Meinung, Wyssmanns Klient habe keinen Nutzen aus den Daten. Wie oft ein Gutachter Arbeitsunfähigkeit bescheinige sage nichts über die Qualifikation der Gutachter aus. Die Frage, wie aussagekräftig die Statistik ist und «ob sich daraus auch rechtliche Folgerungen ziehen lassen», lässt auch das Bundesgericht offen. Es hält aber schlicht fest: Diese Frage ist im Verfahren um Dokumentenzugang nun einmal gar nicht zu beantworten. Und während die Solothurner Richter befanden, der Aufwand für die IV werde zu gross, da noch weitere ähnliche Gesuche von Wyssmanns Klienten hängig seien, finden die Bundesrichter, das Solothurner Verwaltungsgericht habe a) gar nicht genügend geprüft, wie hoch der Aufwand sei, und b) sei nicht relevant, dass es weitere Gesuche gebe. Der Dokumentenzugang sei im Einzelfall zu beurteilen. Überdies könne die IV ja künftig eine Statistik führen, wenn ihr der Aufwand zu gross werde.

Keine Einschränkung

Das Bundesgerichtsurteil ist auch ein Erfolg für Judith Petermann Büttler. Die kantonale Beauftragte für Information und Datenschutz hatte bereits im Dezember 2016 die – von der IV nicht befolgte – Empfehlung abgegeben, die Angaben zugänglich zu machen. Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtes hatte Petermann befürchtet, dass es «schwieriger werden könnte, Zugang zu amtlichen Dokumenten zu erhalten», da das Verwaltungsgericht auch einen persönlichen Nutzen an der Information dargelegt haben wollte und das öffentliche Interesse alleine nicht mehr für den Zugang reichte. Diese Befürchtung, dass das Öffentlichkeits- prinzip eingeschränkt würde, hat das Bun- desgericht nun zerstreut. Bundesgerichtsentscheid 1C_467/2017 vom 27. Juni 2018.

Juristischer Streit um politische Argumente

(Neue Zürcher Zeitung)

Das Referendumskomitee gegen Sozialdetektive reicht Beschwerde
ein – wegen «irreführender» Informationen des Bundes


Ob Privatdetektive, die Sozialhilfebetrugsfällen nachgehen, mehr Kompetenzen als die Polizei hätten, ist umstritten. SIMON TANNER / NZZ

 

LUKAS MADER, BERN

Die grünen Häkchen und roten Kreuzchen machen auf einen Blick klar, was die Antwort ist: Überwachungen bis zu einem Jahr? Ja. Drohneneinsatz ohne Genehmigung? Nein. Politisch Umstrittenes scheint es nicht zu geben im Faktencheck, den die Unfallversicherung Suva zum Referendum gegen das Observationsgesetz aufgeschaltet hat. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) kommt in seinem Faktenblatt ebenfalls zu eindeutigen Antworten. Das stört die Gegner des neuen Gesetzes zur Überwachung von Versicherten, das am 25. November zur Abstimmung kommt. Denn sie sind nicht immer gleicher Meinung.

«Mutmassungen statt Fakten»

Deshalb hat das Referendumskomitee am Montag beim Regierungsrat des Kantons Zürich eine Abstimmungsbeschwerde eingereicht, die der NZZ vorliegt. Das BSV und die Suva als öffentlichrechtliche Anstalt sollen die Informationen im Internet entfernen beziehungsweise richtigstellen. «Das Bundesamt, aber auch die Suva haben die Aufgabe, die Wahlbevölkerung objektiv, neutral und faktentreu zu informieren», heisst es in der Beschwerde. Stattdessen seien die Angaben zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) irreführend oder unzutreffend. Für den Zürcher Rechtsanwalt Philip Stolkin vom Referendumskomitee geht es um Ehrlichkeit und Fairness im Abstimmungskampf. «Es kann doch nicht sein, dass der Bund Mutmassungen als Fakten hinstellt», sagt er. Der Bund argumentiere am Wortlaut der neuen Artikel vorbei und tue so, als wäre seine Auslegung Gesetz.

Der Bund bezieht sich bei seiner Einschätzung auf Entscheide des Bundesgerichts. Diese Urteile zu Observationen beruhen jedoch auf der früheren juristischen Grundlage. Deshalb ist ungewiss, wie die Gerichte das neue Gesetz auslegen würden – und das machen sich bei der politischen Diskussion Befürworter und Gegner zunutze. Besonders umstritten ist die Frage, ob mit dem neuen Gesetz Sozialversicherungsdetektive mehr Kompetenzen bei der Überwachung erhielten als Polizei und Nachrichtendienste. Die Gegner behaupten dies.

Wichtig dabei ist der Passus im Gesetz, der künftig Überwachungen auch an einem Ort erlauben würde, «der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist». Dies könnte zum Beispiel ein Balkon oder ein Garten sein, der von der Strasse aus zu sehen ist. Eine solche Kategorie von «frei einsehbaren Orten» gibt es in der Strafprozessordnung nicht, in der die Überwachungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden geregelt sind. Diese erlaubt Überwachungen ohne richterliche Genehmigung nur an «allgemein zugänglichen Orten» – Balkone und Gärten gehören nicht dazu.

Die Polizei dürfe dies trotzdem tun, ist der Bund überzeugt. Rolf Camenzind vom BSV sagt: «Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts ist in der Strafprozessordnung nicht ersichtlich.» Mit den «frei einsehbaren Orten» werde die «herrschende Lehre und die bestehende Rechtsprechung» kodifiziert, obwohl sie über den Wortlaut von Art. 282 in der Strafprozessordnung hinausgehe, schrieb auch der Bundesrat Ende 2017. Ob dies die herrschende Lehre ist, ist allerdings umstritten: Im entsprechenden Urteil ging es nicht um einen Polizisten, sondern einen Privatdetektiv, dessen Observation eines Balkons das Bundesgericht als nicht strafbar beurteilte.

Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, kann der bundesrätlichen Argumentation nichts abgewinnen. Das Bundesgericht habe eine Diskrepanz zum Strafprozessrecht geschaffen. «Ich bin überzeugt, dass die Sozialversicherungen mit dem neuen Gesetz mehr dürfen als die Strafverfolgungsbehörden», sagt er. Dies zeige sich auch darin, dass Versicherungen bei einem geringfügigeren Delikt wie dem unrechtmässigen Bezug von Sozialversicherungsleistungen Observationen mit technischen Hilfsmitteln durchführen dürfen – die Polizei jedoch nur etwa beim schwereren Straftatbestand des Betrugs.

Der Luzerner Assistenzprofessor für Straf- und Strafprozessrecht Stefan Maeder kommt ebenfalls zum Schluss, dass die Sozialversicherungen Kompetenzen erhalten, wie sie Strafverfolgungsbehörden in vergleichbaren Fällen nicht haben. Maeder hat im Auftrag des Referendumskomitees ein Kurzgutachten verfasst. Er spricht darin einen weiteren strittigen Punkt an: Was fällt unter den Begriff «frei einsehbar»? Für das Bundesamt für Sozialversicherungen ist klar, dass Detektive auch künftig nicht durchs Fenster ins Wohn- oder Schlafzimmer fotografieren dürfen – weil das Bundesgericht dies einst als Eingriff in die geschützte Privatsphäre taxiert hatte.

Maeder ist da weniger sicher. Es sei «völlig unbestimmt», was diese bisherige Gerichtspraxis für neue Bestimmungen bedeuten würde, wie sie das Gesetz nun schaffen will. Gächter gibt zusätzlich zu bedenken, dass das Parlament als Gesetzgeber Schlaf- oder Wohnzimmer trotz Diskussionen nicht von den Über wachungen ausgenommen habe. Dies habe zum Beispiel die Stadt Zürich getan, wo Observationen im Bereich Sozialhilfe nur im «Aussenbereich einer Wohnung» zulässig sind.

Bundesgericht entscheidet

Über den Vorwurf, der Bund informiere unsachlich und unvollständig, wird am Ende wohl das Bundesgericht als über-geordnete Instanz entscheiden. Beim BSV bestreitet man die Anschuldigung des Referendumskomitees. Bei den Angaben auf der Website handle es sich um Fakten, sagt Camenzind. «Zudem ist es nicht unsere Aufgabe, die Position der Gegner darzulegen, sondern die Position von Bundesrat und Parlament.» Die Suva beruft sich auf die Argumentation des Bundesrats und betont, die Quelle transparent anzugeben.