Markus Schefer in den UNO-Behindertenrechtsausschuss gewählt

(Der Bundesrat)
Medienmitteilungen 12.06.2018

Die Konferenz der Vertragsstaaten der UNO-Behindertenrechtskonvention in New York hat am 12. Juni 2018 neun neue Mitglieder des UNO-Behindertenrechtsausschusses gewählt. Mit Prof. Markus Schefer wird 2019 erstmals ein Schweizer Einsitz in diesem Menschenrechtsgremium nehmen.

 

Markus Schefer ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel. Er ist ein ausgewiesener Experte für Grund- und Menschenrechte sowie die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zusätzlich zu seiner wissenschaftlichen Beschäftigung verfügt er über grosse Erfahrung, wie die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen umgesetzt werden kann.

Der UNO-Behindertenrechtsausschuss ist ein Vertragsorgan der UNO-Behindertenrechtskonvention, welcher die Schweiz 2014 beigetreten ist. Dem Ausschuss gehören 18 Expertinnen und Experten an. Er überprüft die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention und entwickelt diese weiter. Insbesondere prüft er die Berichte, in denen die Vertragsstaaten den Stand der Umsetzung ihrer Verpflichtungen darlegen.

Die Schweiz hat die Kandidatur von Markus Schefer unterstützt. Er bringt mit seinen juristischen Kompetenzen und praktischen Erfahrungen wichtige Voraussetzungen mit sich, um im Ausschuss zu einer kohärenten Weiterentwicklung und Stärkung der Behindertenrechte im Kontext der Menschenrechte beizutragen. Dies kommt auch der Schweiz zugute; der Bundesrat hat am 9. Mai 2018 entschieden, die Behindertenpolitik zu verstärken.

Die App, die beides kann: Spenden und Spass in einem Tool

(SBV/FSA)

Was auf dem Fussballplatz im Stadion passiert, sehen blinde Menschen nicht. Sie sind darauf angewiesen, dass man ihnen beschreibt, was vor sich geht. Genau das macht Radio Blind Power, das Schweizer Integrationsradio für blinde und sehbehinderte Menschen. Zur Fussball Weltmeisterschaft gibt es jetzt eine App, mit der man einen Franken für Inklusionsprojekte spenden, und gleichzeitig ganz viel Spass haben kann. Die Spenden kommen dem Integrationsradio „Blind Power“ und dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV zugute.

Die „Ein-Franken-Spende“ für viel Spass und grosse Hilfe

Die Lions Clubs in der Schweiz und Liechtenstein haben ein ganz neues Tool für die Spendensammlung entwickelt: Die Digital Charity App. Damit kann man mit Familie und Freunden in kleinen Tippgemeinschaften im Voraus Fussballergebnisse prognostizieren und gleichzeitig CHF 1,00 für das Integrationsradio „Radio Blind Power“ und den schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV spenden. Die App steht zum Gratis-Download im Apple Store und bei Android zur Verfügung.

 

Was ist die Digital Charity App?

Was früher im Büro unter Kollegen oder zu Hause bei Familie und Freunden noch analog „auf dem Zettel“ für Wettkampffieber sorgte, kann heute bequem mit der App bedient werden. Die Benutzerführung innerhalb der App ist kinderleicht. Dafür hat ein engagiertes Entwicklerteam von DXC Technology gesorgt, das die App den Anforderungen von Lions in der Schweiz und in Liechtenstein angepasst hat. DXC ist aus dem Zusammenschluss von CSC und dem Enterprise Services Geschäft von Hewlett Packard Enterprise entstanden und blickt auf eine lange und stolze Geschichte von Innovation, Service und Wert zurück.

Ein weiterer Zusatznutzen ist, dass die Fussball-Audiodeskriptoren im Vorfeld der Spiele Empfehlungen für die Tipps der App-Nutzerinnen und -Nutzer abgeben. Schliesslich will Blind Power allen Teilnehmenden ein erfolgreiches Tipp-Erlebnis ermöglichen.

Das Pilotprojekt anlässlich der Fussballspiele im Sommer dient dazu, dieses Tool erstmals für Lions in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein zu nutzen, Erfahrungen zu sammeln und natürlich möglichst viele Spenden zu generieren. Unterstützt wird diese Aktion vom MD 102 und von den Lions Clubs Erlinsburg sowie Swiss Alps Cyber Lions.

Links Digital Charity App

Kommission gegen Altersgrenze bei der IV

(AWP – SozialeSicherheit)

Charlotte Walser

Auch Personen unter 30 Jahren sollen eine IV-Rente erhalten können. Die Gesundheitskommission des Nationalrates (SGK) lehnt es ab, eine Altersgrenze einzuführen. Vor kurzem hatte die Kommission mitgeteilt, eine Grenze in Betracht zu ziehen – nach dem Grundsatz «keine Rente unter 30». Mit 16 zu 9 Stimmen hat sie sich nun dagegen ausgesprochen, den Vorschlag von der Verwaltung konkretisieren zu lassen. Offen ist, ob die Altersgrenze im Verlauf der Beratungen zur IV-Revision als Teil eines umfassenderen Konzepts wieder auf den Tisch kommt. Die Befürworter möchten damit die Anreize für junge Menschen verstärken, sich um die berufliche Eingliederung bemühen. Die Gegner gaben zu bedenken, es gebe auch psychisch Kranke, die beim besten Willen nicht erwerbsfähig seien.

Bei Reisekosten nicht sparen Weiter hat die Kommission mit 12 zu 11 Stimmen beschlossen, dass die IV Reisekosten weiterhin nach den bisher geltenden Regeln vergütet werden sollen. Die Minderheit möchte bei den Reisekosten sparen, wie es in einer früheren, gescheiterten IV-Revision bereits zur Diskussion stand. Aus Sicht der Mehrheit würde das Familien mit behinderten Kindern treffen, die ohnehin schon stark belastet sind. Zudem liessen sich lediglich 6 Millionen Franken einsparen und nicht wie ursprünglich erwartet 20 Millionen Franken. Stufenloses Rentensystem Über andere Punkte muss die Kommission noch entscheiden. Mit der IV-Revision nimmt der Bundesrat auch einen neuen Anlauf für ein stufenloses Rentensystem.

Dieses würde das heutige System mit Viertelrenten, halben Renten, Dreiviertelrenten und Vollrenten ablösen. Damit will der Bundesrat erreichen, dass sich Arbeit für IV-Bezüger in jedem Fall lohnt. Heute ist das wegen Schwelleneffekten nicht immer der Fall. Die Regierung schlägt vor, dass – wie heute – eine Vollrente ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent zugesprochen wird. Bei der letzten IV-Revision, die das Parlament am Ende versenkte, war diese Frage heftig umstritten. Der Nationalrat sprach sich dreimal für 70 Prozent aus, der Ständerat dreimal für 80 Prozent.

Sozialdetektive: Referendum steht

(Luzerner Zeitung)

Abstimmung Das Gesetz zur Überwachung von Sozialversicherten wird voraussichtlich an den Urnen entschieden: Das Referendum gegen das sogenannte Sozialdetektiv-Gesetz ist gemäss Komitee zustande gekommen. In 62 Tagen seien 55 421 Unterschriften gesammelt worden. Damit unterboten die Initianten die gesetzte Maximalfrist um 38 Tage. Die Unterschriften müssen noch beglaubigt werden. Die Unterschriftensammlung für das Referendum wurde von einer Bürgerinnen- und Bürgergruppierung um die Autorin Sibylle Berg lanciert. Die Gruppe hatte bis zum 5. Juli Zeit, die für das Zustandekommen nötigen 50 000 Unterschriften zusammenzubringen. Das Referendum war unter anderem von der SP, den Grünen, dem Dachverband der Arbeitnehmenden Travail. Suisse sowie von den Behinderten-organisationen Pro Infirmis und Procap sowie der Senioren-Organisation Vasos unterstütztworden. Für sie geht das Überwachungsgesetz zu weit. Die Räte verabschiedeten das Gesetz in der Frühjahrssession. Es ermöglicht Sozialversicherungen, Versicherte bei Verdacht auf Missbrauch durch Detektive observieren zu lassen. Die Regeln gelten für die IV sowie Unfall-, die Kranken- und die Arbeitslosenversicherungen.

Gesamtarbeitsverträge zur Integrationsförderung

(CHSS / SozialeSicherheit)

Bruno Weber-Gobet, Travail.Suisse
Die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen stagniert. Gesamtarbeitsverträge haben das Potenzial, dies zu ändern. Der Dachverband der Arbeitnehmenden, Travail.Suisse, hat die Bedeutung der Gesamtarbeitsverträge für die Arbeitsmarktintegration untersucht und stellt fest, dass durchaus Handlungsansätze vorhanden sind.

Die Integration der Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt ist seit einigen Jahren ein breit abgestütztes Anliegen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Arbeit und Beschäftigung haben aber primär für die betroffenen Menschen selber einen hohen Stellenwert, unter anderem weil sie eine wesentliche Voraussetzung für eine selbstbe- stimmte Lebensführung und die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe sind.

Obwohl bereits vielfältige Massnahmen zur Stärkung der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen ergriffen wurden, hat eine Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) gezeigt, dass sich die Erwerbschancen der Betroffenen seit dessen Inkrafttreten im Jahr 2004 nicht substantiell zum Positiven verändert haben (Arbeitsgemeinschaft BASS/ZHAW 2015). Diese ernüchternde Bilanz widerspiegelt sich auch in den aktuellen Zahlen des Bundesamts für Statistik zur tatsächlichen Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen (BFS 2o17a und 20176): Im Jahr 2015 waren von den Menschen mit Behinderungen im Erwerbsalter 68 Prozent erwerbstätig. Das liegt nach wie vor deutlich tiefer als bei den Menschen ohne Behinderungen, wo 84 Prozent Erwerbstätige zu verzeichnen waren (vgl. Grafik Gi).

GESAMTARBEITSVERTRÄGE MIT SPEZIFISCHEM POTENZIAL Trotz vermehrter Förderung der beruflichen Integration im Rahmen der Sozialversicherungen, insbesondere der Invalidenversicherung, und vielfältiger Anstrengungen weiterer Akteure, stagniert die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen. Das ist nicht nur unhaltbar für die Betroffenen selber, sondern auch unbefriedigend im Kontext des Fachkräftemangels einerseits und der erheblichen Kosten der Sozialversicherungen andererseits. Zusätzliche Bemühungen drängen sich auf. Als eine davon versteht sich das Projekt von Travail.Suisse «Über Gesamtarbeitsverträge, die Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt fördern».

Gesamtarbeitsverträge (GAV) als Regelungen zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden und Arbeitnehmerverbänden haben ein spezifisches Potenzial zur Verbesserung der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen: Mit ihnen lassen sich branchenbezogene Lösungen treffen, die der Situation einer Branche oder eines Unternehmens besser gerecht werden als gesetzliche Vorgaben, die für alle gleichermassen verbindlich sind. Da auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen je nach Behinderungsart (körperlich, geistig, psychisch, mehrfachbehindert) und individueller Lebenssituation (in Rente, aus Rente, nach Ausbildung, in Anstellung etc.) unterschiedlich sind, könnten gerade branchenspezifische Bestimmungen für ihre Arbeitsmarktintegration besonders dienlich sein.

AMBITIONIERTE PROJEKTZIELE
In Anbetracht seines Potenzials erscheint es sinnvoll, dem GAV bei der Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Genau das ist die Zielsetzung des Travail.Suisse Projekts, das vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) seit 2016 unterstützt und vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) mitfinanziert wird. Das Projekt umfasst drei Phasen. In einer ersten Phase wurde mithilfe einer Dokumentenanalyse und auf der Basis von Interviews ein Zwischenbericht erarbeitet (Weber-Gobet 2017). Letzterer beschreibt die Zielsetzung, ortet bereits.


Erwerbstätige mit und ohne Behinderung Wohnbevölkerung zwischen 16 und 64 Jahren die in einem Privathaushalt leb

 

bestehende Regelungen in verschiedenen GAV, identifiziert bestehende Lücken und skizziert Vorschläge an die Sozialpartner. Im Verlauf des Jahres 2018 werden die Sozialpartner in der zweiten Phase auf der Grundlage des Berichts für das Thema sensibilisiert und motiviert, das Anliegen zu diskutieren und in die GAV-Verhandlungen aufzunehmen, sodass entsprechende neue oder ergänzende Regelungen in ihre Gesamtarbeitsverträge einfliessen können. In einer dritten Phase wird im ersten Halbjahr 2019 überprüft, ob und wie die Vorschläge aus dem Bericht in die Gesamtarbeitsverträge eingeflossen sind.

EINIGE REGELUNGEN IN GAV BEREITS VORHANDEN
Die Analyse aktuell gültiger GAV in der ersten Projekt- phase machte bereits einige Regelungen aus, die der Arbeits marktintegration von Menschen mit Behinderungen förderlich sind (Weber-Gobet 2017). Primär finden sich Vorgaben zur Entlöhnung bei eingeschränkter Produktivität. Weitere Bestimmungen zielen darauf ab, den Arbeitsplatz von erkrankten oder verunfallten Mitarbeitenden zu erhalten. Vereinzelt verbieten die GAV die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen oder sie skizzieren mögliche Ansätze für deren Integration in eine Branche oder einen bestimmten Betrieb. Die in der ersten Projektphase befragten Fachleute aus Versicherungen, Organisationen der Arbeitswelt, Behinderten organisationen, Sozialinstitutionen, Integrationsfirmen und der Wissenschaft sehen Chancen, dass sich der GAV durchaus auch dafür eignen könnte, beim Coaching und der Weiterbildung, bei der Sensibilisierung der Belegschaft oder bei Regelungen bezüglich Krankentaggeldversicherung und Löhnen in Sozialfirmen Lücken zu schliessen.

VORSCHLÄGE AN DIE SOZIALPARTNER
In den Gesprächen mit den Fachleuten und einer breit abgestützten Begleitgruppe wurden erste Themen benannt, deren Regelung sich in einem GAV besonders anbieten würde, um die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Sie sind im Zwischenbericht des Projektes festgehalten. Davon ausgehend macht Travail.Suisse konkrete Vorschläge: Als erstes ist bei der Anpassung bestehender oder der Festlegung neuer Regelungen jeweils vorgängig zu prüfen, ob ein GAV nicht selber zum Hindernis für die angestrebte berufliche Eingliederung werden könnte. Vielmehr ist darauf zu achten, dass er mit seinen spezifischen Bestimmungen die Arbeitsmarktintegration fördert.

Als nützlich erweisen sich nicht nur die Regelung der Entlöhnung bei eingeschränkter Produktivität, sondern auch der Aufbau von Strukturen innerhalb der Branche, die sowohl die Betriebe, als auch die Menschen mit Behinderungen bei der Integration unterstützen. Da die Handlungsmöglichkeiten vielfältig sind, können Prioritäten gesetzt werden, sei es im Bereich der Informationen, der Sensibilisierung, der Beratung oder des Coachings, der Weiterbildung, der Digitalisierung oder der Barrierefreiheit. Schliesslich gilt es, die Frage der Finanzierung von geplanten Massnahmen zu stellen und dafür Lösungen zu finden.

Eine neue Dimension eröffnet sich, wenn die Integrations anstrengungen über den Arbeitsplatzerhalt oder die Wieder eingliederung nach Krankheit oder Unfall hinausgehen und die erstmalige Eingliederung von Menschen mit Behinderungen ins Auge gefasst wird. Hier braucht es Massnahmen wie innerbetriebliche Sensibilisierung, IV-ergänzende Leistungen bei Einarbeitung und Coaching, Beratung zur Krankentaggeldversicherung, Benennung eines Integrationsver-antwortlichen und ein inklusives Arbeitsumfeld. Bei allen Integrationsmassnahmen geht es nicht nur darum, Menschen mit Behinderungen kurzfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sondern vor allem auch darum, sie langfristig im Arbeitsmarkt zu halten. Um die Nachhaltigkeit beruflicher Eingliederung zu gewährleisten, sollte der Weiterbildung und dem Coaching aller Involvierten besondere Beachtung geschenkt werden.

ERSTE REAKTIONEN VON BRANCHENVERTRETERN
Gegenwärtig befindet sich das Projekt in der zweiten Phase.
Ziel ist es, die Sozialpartner für das Thema zu sensibilisieren und zu erreichen, dass neue oder sinnvolle ergänzende Regelungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen Eingang in GAV finden. Bislang konnte das Projekt an verschiedenen Veranstaltungen von Sozialpartnern vorgestellt werden. Zudem wurde der Bericht an rund 3o Branchenor-ganisationen verschickt. Letztere wurden im Anschluss an den Versand telefonisch kontaktiert, um eine erste Beurteilung des Anliegens einzuholen und einen Gesprächstermin zu vereinbaren, an dem das Projekt im Detail vorgestellt und diskutiert werden soll. Obschon die Befragten sich dem Ansinnen gegenüber grundsätzlich offen zeigten, stufen sie die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen nicht als Priorität ein. Auch bestehen Bedenken, ob es überhaupt mehr braucht als die Möglichkeit, für Menschen mit einer verminderten Produktivität den Mindestlohn zu unterschreiten. Überdies fragen sich Vertreter von Branchen mit hohem Unfallrisiko, ob ihre Branche überhaupt geeignet sei, Menschen mit Behinderungen zu integrieren. Abschliessend gilt es festzuhalten, dass es vollkommen in der Autonomie der Sozialpartner liegt, ob und welche Vorschläge zur Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen sie in GAV-Verhandlungen einbringen und allenfalls übernehmen wollen. Denn es macht gerade die Stärke der Sozialpartnerschaft aus, dass die Verhandlungs- partner die Kompetenz haben, Regelungen zu treffen, die sich an den spezifischen Anforderungen und Zielen ihrer Branche ausrichten.


Bruno Weber-Gobet Lic. theol., Leiter der Abteilung Bildungspolitik, Travail.Suisse. webeetravailsuisse.ch

 

Accord paritaire genevois – auf GAV abgestützt, separat vereinbart Um Verrentungen nach Unfällen und Krankheiten zu verhindern, hat die rund 1200 kleine und sehr kleine Unternehmen sowie 14 000 Arbeitsstellen umfassende Genfer Baubranche im Jahr 2009 mit dem sogenannten Accord paritaire genevois (www.fmb-ge.ch > Prestations entreprises) eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen Sozialpartnern und Versicherern getroffen, die organisatorisch zwar weiter greift als die GAV, sich aber dennoch am Prinzip der Sozialpartnerschaft orientiert (Ankers/Flamand-Lew 2017). Dank standardisierter Prozesse,einer besseren Ausfinanzierung der Massnahmen und monatlicher Treffen zurBesprechung konkreter Fälle sollen sowohl die menschlichen als auch die versicherungstechnischen Probleme gelöst werden. Die starke sozialpartnerschaftliche Struktur und Tradition des Sektors, der durch allgemeinverbindliche GAV vollständig abgedeckt ist, sind Erfolgsfaktoren dieses Eingliederungsdispositivs, dessen Zusammenarbeit nicht in den GAV selbst, sondern in einer separaten Vereinbarung geregelt wird. Die Vereinbarung hat das Ziel, die Betriebe im Hinblick auf den Arbeitsplatzerhalt und die berufliche Wiedereingliederung erkrankter oder verunfallter Mitarbeiter zu unterstützen. Durch rasches und koordiniertes Handeln soll die Erwerbsfähigkeit von Personen erhalten werden, die gesundheitsoder unfallbedingt in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind. Ein Novum ist, dass zu den Unterzeichnenden nicht nur die Sozialpartner (Arbeitgeber, Gewerkschaften), sondern auch die Privat- und Sozialversicherer (Krankentaggeldversicherung, Suva, IV) gehören. Redaktion CHSS

Ein Umdenken ist geforder

(SozialAktuell)

Kindeswohl als Argument für die schulische Segregation – Anmerkungen zu einem Entscheid des Bundesgerichts.

Der Ausschluss von Kindern mit einer Behinderung aus Regelschulen erfolgt häufig aufgrund fehlender finanzieller Mittel Text: Stefanie Kurt und Anita Heinzmann Bild: Redaktion.

Im Mai 2017 entschied das Bundesgericht, dass kein verfassungsmässiger Anspruch auf den Besuch einer Regelschule für ein Kind mit Behinderung besteht. Dem Entscheid liegt das Kriterium des Kindswohls zu Grunde. Im Umkehrschluss heisst dieser Urteilsspruch, dass mit der Begründung des Wohls von Kindern mit Behinderung bestehende Strukturen begünstigt und die Umsetzung von inklusiven Schulen gehemmt wird. Ein Umdenken bei der institutionellen schulischen Segregation scheint dringend gefordert.

Das am 15. Mai 2014 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO BRK) betont die Wichtigkeit der integrativen Schulbildung. Art. 24 Abs. 1 UNO BRK hält fest, dass die Vertragsstaaten «das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung anerkennen». Um dieses Recht «ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen». Zwar ist die Schweiz völkerrechtlich verpflichtet, den Zugang zu den Bildungsangeboten diskriminierungsfrei zu gestalten und niemanden von der Nutzung aus diskriminierenden Gründen auszuschliessen (Art. 2 Abs. 3 und 4 UNO BRK), jedoch ist Art. 24 UNO BRK darüber hinaus richtungsweisender Natur (BB12013 661, S. 700).

Umsetzungsschwierigkeiten: UNO BRK und segregierendes Bildungssystem Der Bundesrat verweist im ersten Bericht zur Umsetzung der UNO BRK darauf, dass die kantonalen Gesetzgebungen den Vorzug der integrativen Einschulung gegenüber einer Sonderschule festhalten. Entscheidungsgrundlage bilden dabei das Kindeswohl, die Möglichkeiten der Entwicklung des Kindes und die schulischen und organisatorischen Rahmenbedingungen der öffentlichen Schule. Der Bundesrat geht davon aus, dass die Anforderungen der integrativen Schulbildung im Rahmen der UNO BRK somit erfüllt sind (Bundesrat, S. 40).

Parallel dazu und in Zusammenarbeit mit seinen 25 Mitgliederorganisationen schrieb Inclusion Handicap einen Schattenbericht aus Sicht der Betroffenen (vgl. Inclusion Handicap, online). Der Schattenbericht hält fest, dass ein grundsätzlicher Wandel in der Bildungspolitik nötig ist und Inklusion die Regel sein soll. Dafür braucht es ausreichende finanzielle Mittel von Bund und Kantonen. Denn der Ausschluss von Kindern mit einer Behinderung aus Regelschulen erfolgt häufig aufgrund fehlender finanzieller Mittel. Die nötige Assistenz für eine erfolgreiche Inklusion wird nicht gewährleistet. Eine weitere Schwierigkeit der aktuellen schulischen Strukturen besteht darin,
dass lediglich die Eltern in den Prozess betreffend sonderpädagogische Massnahmen einbezogen werden, jedoch nicht das Kind selbst (Art. 2d Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich Sonderpädagogik vom 25.10.2007). Insgesamt ist die Partizipation von Kindern mit einer Behinderung in schulbezogenen Verfahren nur unzureichend gewährleistet (vgl. Schattenbericht, S. 25). Schliesslich werden viele Kinder nach wie vor in Sonderschulen unterrichtet, trotz der rechtlichen und schulischen Anstrengungen (Bielefeldt, S. 4).

Der letztjährige Entscheid des Bundesgerichts unterstreicht, dass die Zieldimension der schulischen Inklusion fehlt. Zwar stellen die Richterin und die Richter das Kindeswohl in den Vordergrund, jedoch besteht kein verfassungsmässiger Anspruch auf integrative Einschulung für Kinder mit Behinderungen. Denn eine unterschiedliche Behandlung kann angezeigt sein, da jedes Kind nach seinen intellektuellen Fähigkeiten eine Schule besuchen soll (Bundesgerichtsurteil 2C_154/ 2017 vom 23. Mai 2017).


Ganzheitlicher Bildungszugang auch für Kinder mit Behinderung

Dieses im Bundesgerichtsurteil festgehaltene Argument der unterschiedlichen Behandlung von Kindern und der damit einhergehenden Kategorisierungen ihrer Inklusionsfähigkeit ist wenig stichhaltig.
Stattdessen sollte, wie von der UNO BRK gefordert, ein ganzheitlicher Bildungszugang angestrebt werden. Nicht das Kind muss den Beweis erbringen, dass es inklusionsfähig ist, sondern vielmehr müssen die Schulen darin unterstützt werden, Bildung für alle Kinder sicherzustellen und umzusetzen (Köpfer 2014, online).

Hier lohnt sich ein Blick nach Kanada, wo inklusive Schulen bereits seit 30 Jahren etabliert sind. Andreas Köpfer (s.d., online) führte im Rahmen seiner Dissertation eine Feldstudie in drei kanadischen Provinzen durch und formulierte daraus adaptierbare Konsequenzen für Deutschland. Grob skizziert, beschreibt Köpfer die Funktionsweisen der untersuchten Schulsysteme als Pyramide. An deren Spitze steht der direkte, individualisierte Unterricht. Dieser baut auf einem systemischen
Unterstützungssystem auf. Personelle Unterstützung erhalten Lehrpersonen einerseits von
Assistentinnen und Assistenten im Unterricht. Übergeordnet beraten sogenannte Methods &Resource Teams Lehr-personen bei methodisch-didaktischen Fragestellungen und übernehmen diverse Koordinationsaufgaben. Die kommunikative Ebene unterhalb spielt eine wichtige Rolle: Beratungs- und Austauschgefässe sind etabliert und fachlich gut aufgebaut. Inklusion wird dabei als Aufgabe für die
gesamte Schule betrachtet. Die unterste Ebene der Pyramide sieht vor, dass Fachpersonen auf die kulturhistorische Bedeutung vom Inklusionsbegriff sensibilisiert sind (vgl. ebd.).

Köpfer (2016, online) adaptierte die Idee der Methods &Resource Teams für Deutschland und skizziert mögliche Aufgaben von schulinternen Unterstützungs- und Beratungsteams. Diese umfassen direkte personelle Unterstützung im Unterricht, Unterstützung bei der didaktischen Planung und Durchführung von Unterrichtsprojekten, CO-Entwicklung individueller Entwicklungspläne und Aufbau von multiprofessionellen Kommunikationsstrukturen für Fallbesprechungen und Teamaustausch. Weiter stellen sie eine Koordin tionsstelle für schulorganisatorische Abläufe dar, die beispielsweise die Einteilung von Schulassistentinnen und Schulassistenten bis hin zur Organisation geeigneter therapeutischer Angebote regelt. Auch sollen sie haltungsvermittelnde Ansprechpersonen für Inklusion sein (vgl. ebd.).

Dabei sind nach Köpfer (2016, online) für die Implementierung folgende Punkte relevant: Erstens sind die Unterstützungs und Beratungsteams eine didaktisch-methodische Unterstützung innerhalb und ausserhalb des Klassenraumes und zweitens bedarf es einer entsprechenden didaktischen Expertise. Dabei ist die Unterstützung situativ auf alle Kinder ausgerichtet, ohne rein sonderpädagogische Zu-
ständigkeit. Konsequenterweise braucht es für die Umsetzung dieses grossen Aufgabenfelds genügend Zeit und Raum (vgl. ebd.)


Stefanie Kurt, Assistenzprofessorin FH, Dr. iur., Fachhochschule Soziale Arbeit, HES-SO, Siders


Anita Heinzmann, Wissenschaftliche Mit-arbeiterin, Fachhochschule Soziale Arbeit, HES-SO, Siders

Ausschlusskriterium Kindeswohl Anders zeigt sich die aktuelle Situation in der Schweiz. Das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen (BehiG) hält fest, dass die Kantone «mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlichen in die Regelschule» (Art. 20 Abs. 1) fördern. Jedoch geht diese Verpflichtung nur «soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient» (Art. 20 Abs. 2 BehiG). Das Kindeswohl wird so zum gesetzlichen Ausschlusskriterium und zum Hindernis für einen ganzheitlichen Bildungszugang in der Schweiz. Auch wenn in der Schweiz aktuell der politische Wille für ein Umdenken fehlt (Bielefeldt 2017, 5ff.), ist es zentral, dass nicht mehr der Beweis der Inklusionsfähigkeit eines Kindes in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern im Sinne der UNO BRK ein Bildungszugang für alle Kinder geschaffen wird.


Nicht das Kind muss den Beweis erbringen, dass es inklusionsfähig ist, sondern die Schulen müssen darin unterstützt werden, Bildung für alle Kinder umzusetzen.

Insgesamt ist die Partizipation von Kindern mit einer Behinderung in schulbezogenen Verfahren nur unzureichend gewährleistet

Individuell und selbstbestimmt

(SozialAktuell)

Im Kanton Bern haben Menschen mit Behinderung in Zukunft die Wahl – und die Institutionen mehr unternehmerischen Spielraum
Text: Astrid Wüthrich

Für erwachsene Menschen mit Behinderung schlägt der Kanton Bern neue Wege ein. Im Rahmen des kantonalen Behindertenkonzepts sollen Menschen mit Behinderung über die Einführung eines neuen Finanzierungsmodells mehr Selbstbestimmung, mehr Eigenverantwortung sowie mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erhalten. Das neue System richtet sich am individuellen Bedarf der betroffenen Personen aus. Dadurch wird diesen die freie Wahl der Lebensform ermöglicht. Gleichzeitig fördert die neue Finanzierungsform die unternehmerische Freiheit der Institutionen

Menschen mit einer Behinderung haben oftmals keine Wahl: die heutigen Finanzierungssysteme ermöglichen ihnen insbesondere das Leben in einer Behinderteninstitution. In den eigenen vier Wänden wohnen und gleichzeitig Betreuungsangebote in Anspruch nehmen zu können ist heute nur sehr beschränkt möglich. Diese freie Lebenswahl steht dank dem Assistenzbeitrag der IV einigen Menschen bereits offen, mit dem Berner Modell will der Kanton Bern dies für alle Menschen verwirklichen. Um erste Erfahrungen zu sammeln, wird die Einführung dieser Subjektfinanzierung aktuell in einem Pilotprojekt simuliert. Die definitive Umsetzung ist ab 2021 geplant.

Der Systemwechsel
Im bisherigen System finanziert der Kanton Bern Institutionen, und zwar über eine Pauschalfinanzierung pro Klientin oder Klient und je nach Angebot (Werkstätte, Tagesstätte oder Wohnheim). Neu werden vom Kanton nicht mehr in erster Linie Institutionen (Objekte) finanziert, sondern jeder Mensch (Subjekt) mit Behinderung erhält die Kosten für seinen persönlichen behinderungsbedingten Betreuungs- und Pflegebedarf vergütet.

Mit der Einführung der Subjektfinanzierung wird der individuelle Bedarf ausschlaggebend für die Höhe der kantonalen Beiträge. Der Kanton Bern hat gemeinsam mit verschiedenen Expertinnen und Experten und in engem Austausch mit den Fach- verbänden ein Abklärungsinstrument entwickelt. Dieses Instrument ermöglicht es, mittels eines differenzierten Verfahrens den Betreuungs- und Unterstützungsbedarf der Menschen mit Behinderung individuell zu bestimmen. Auf dieser Basis wird der Kanton anschliessend eine Kostengutsprache ausstellen. Die betroffene Person beziehungsweise ihre gesetzliche Vertretung haben in der Folge die Wahl, ob jemand in einer Institution oder privat wohnt sowie wo sie arbeitet. Die verschiedenen Betreuungsleistungen können innerhalb des Kostendachs «eingekauft» werden. Für die Abklärung des persönlichen Unterstützungsbedarfs finanziert der Kanton Bern eine Fachstelle, deren Aufgabe es ist, die Abklärungen durchzuführen und den betroffenen Personen ihren je individuellen Bericht zukommen zu lassen. IndiBe, die Abklärungsstelle für den individuellen Bedarf von Menschen mit Behinderung, sorgt dabei für gleiche Abklärungsbedin- gungen für alle Menschen, und zwar unabhängig von der Behinderungsform und unabhängig davon, ob sie ambulante, stationäre oder teilstationäre Leistungen beziehen.

Diese Unabhängigkeit vom künftigen oder gewünschten Wohn- und Arbeitsort ist ein zentraler Faktor für die Gewährung der Wahlfreiheit der Menschen mit Behinderung. So kann sichergestellt werden, dass der festgestellte Bedarf und die entsprechenden Leistungen sich nach dem Bedarf des Menschen und nicht nach dem Bedarf der Institution oder einer Bezugsperson richten. Aus Sicht des Kantons stehen verschiedene Ziele im Vordergrund:

Sicherstellung der Selbstbestimmung, Wahlfreiheit erwachsener Menschen mit Behinderung

Im Rahmen des kantonalen Behindertenkonzepts sollen Menschen mit Behinderung über die Einführung eines neuen Finanzierungsmodells mehr Selbstbestimmung, mehr Eigenverantwortung sowie mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erhalten. Dank der Einführung eines Finanzierungssystems, das sich am individuellen behinderungsbedingten Betreuungs- und Unterstützungsbedarf der betroffenen Personen ausrichtet, wird diesen die freie Wahl der Lebensform ermöglicht.

Sicherstellung eines optimalen Versorgungssystems

Die Steuerung wird durch die Einführung eines «kostenwahren» Finanzierungssystems verbessert. Gleichzeitig fördert die neue Finanzierungsform die unternehmerische Freiheit der Institutionen.

Sicherstellung des Schutzes der Menschen mit behinderungsbedingtem Unterstützungsbe darf

Im Rahmen der Erteilung von Betriebsbewilligungen sowie durch die Aufsichtstätigkeiten des zuständigen Fachamtes wird der Schutz der Menschen mit behinderungsbedingtem Unterstützungsbedarf sichergestellt.

Veränderungen in der Behindertenpolitik

Der individuelle Bedarf wird ausschlaggebend für die Höhe der kantonalen Beiträge Die neue Finanzierungsform fördert die unternehmerische Freiheit der Institutionen Im Pilotprojekt wurde deutlich, dass der administrative Aufwand relativ gross ist

Das Behindertenkonzept im Kanton Bern ist Ausdruck grundlegender Veränderungen in der Behindertenpolitik. 2006 verabschiedete die UNO-Vollversammlung die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK), welche unter anderem die Wahlfreiheit betreffend Wohnort und Wohnform für Menschen mit Behinderung forderte. Die Schweiz ratifizierte die UNO-BRK im Jahr 2014, seither sind deren Prinzipien auch hierzulande verbindlich. Die UNO- BRK ist Ausdruck der seit den 1980er-Jahren laufenden Bestrebungen, mehr Unabhängigkeit, Wahlfreiheit und soziale Teilhabe zu garantieren.

Bereits in den 2000er-Jahren gab es im Kanton Bern verschiedene politische Vorstösse, die parallel zur Einführung der Subjektfinanzierung im Gesundheitswesen eine solche auch für den Behindertenbereich forderten. Hintergrund dieser Vorstösse waren unter anderem Kostensteuerung und -transparenz sowie die Förderung der Wahlfreiheit. Nicht zuletzt hat auch die Neugestaltung des nationalen Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA), welche die Zuständigkeit für den Behin- dertenbereich vollständig den Kantonen übertrug, zur Neugestaltung der bernischen Behindertenpolitik beigetragen.

Pilotprojekt und Umsetzung

Seit 2016 nehmen ausgewählte Institutionen und privat wohnende Personen an einem Pilotprojekt teil, aktuell wenden das neue System rund 450 Personen an und 14 Institutionen sind beteiligt. Bis Ende 2018 werden laufend weitere Personen in das Pilotprojekt aufgenommen. Dank der konstruktiven und intensiven Mitarbeit der involvierten Personen, Organisationen, Institutionen und Experten im Behindertenbereich sowie der breiten politischen Unterstützung verläuft das Pilotprojekt bisher grundsätzlich erfolgreich. Die bisher gesammelten Erfahrungen er- lauben nun Auswertungen, welche zur Validierung der Instrumente und Verfahren beitragen und die Planung der flächendeckenden Umsetzung vereinfachen.

Bereits früh wurde im Pilotprojekt deutlich, dass der administrative Aufwand sowohl für die betroffenen Menschen mit Behinderung als auch für die Verwaltung mit den bereits vorhandenen Instrumenten relativ gross war. Deshalb wird eine Weblösung (IBAS) entwickelt. IBAS vereinfacht die administrativen Prozesse (von der Anmeldung bis zur Abrechnung) und entlastet sowohl die Leistungsbezügerinnen und -bezüger wie auch die Verwaltung stark. Die Entwicklungsarbeiten sind im Gange, ab Anfang 2019 soll die Weblösung voll einsatzbereit sein.

Anfang 2017 wurde die neue Berner Informationsplattform für Menschen mit Behinderungen – www.participa.ch – auf dem Internet aufgeschaltet. Die Plattform wird durch die kantonale Behindertenkonferenz (kbk) im Auftrag des Kantons Bern entwickelt und betrieben. Aktuell befinden sich auf Participa vor allem Informationen über das «Berner Modell» zur Umsetzung des Behindertenkonzepts sowie auch Beiträge zu verschiedensten Themenbereichen wie Arbeit, Wohnen, Geld oder Beratung. Zudem ist neu ein «Marktplatz» aufgeschaltet, wo sich beispielsweise Anbieter und Nachfrager von Assistenzleistungen finden können.

Neben der Umsetzungsplanung und der Durchführung des Pilotprojekts laufen die Vorbereitungsarbeiten für die entsprechende Gesetzgebung bereits auf Hochtouren. Es ist geplant, mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Sozialen Leistungen den Systemwechsel ab 2021 flächendeckend über das ganze Kantonsgebiet umzusetzen.

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Meilenstein für den barrierefreien Tourismus!

Ab sofort wird es einfacher, das passende barrierefreie Hotelzimmer zu finden: Mit Abschluss der Hotelprüfungen im Rahmen des Projekts Hotel-Barrierefreiheit Schweiz stehen von insgesamt 600 Betrieben Informationen zur Barrierefreiheit zur Verfügung. 500 Hotels wurden vor Ort geprüfen. 100 Betriebe haben eine Selbsterfassung gemacht. Das Projekt unter der Leitung von Claire & George und hotelleriesuisse wurde zusammen mit Pro Infirmis, Schweizer Paraplegiker Vereinigung, Mobility International Schweiz und Schweiz Tourismus durchgeführt, unterstützt von Innotour, dem Förderinstrument vom Staatssekretariat für Wirtschaft. Die Sonntagszeitung und Le Matin Dimanche haben berichtet. Lesen Sie dazu die Medienmittelung

„Wir vergessen Behinderte oft“

(swissinfo.ch)

Laut Pro Infirmis könnte die Schweiz bei der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen mehr tun.
(Keystone)

Personen mit einer Behinderung haben eine halb so grosse Chance, eine Stelle zu finden. Und sie sind doppelt so oft von Armut betroffen wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Die grösste Behinderten-Organisation der Schweiz, Pro Infirmis, hat diese Woche eine neue Kampagne lanciert, die mehr Einbeziehung fordert.

„Alle sind gleich. Niemand ist gleicher.“ Mit diesem Slogan und einem humoristischen Kurzfilm will die neue Kampagne von Pro Infirmis die Bevölkerung sensibilisieren: Wir alle haben Gemeinsamkeiten, ob wir behindert sind oder nicht.

Die 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, die in der Schweiz leben, müssen allerdings zahlreiche zusätzliche Hindernisse überwinden. Dies betrifft besonders den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Wohnungen und kulturellen Veranstaltungen.

Pro Infirmis setzt sich dafür ein, dass sie „selbstbestimmt und ohne gesellschaftliche Barrieren an allen Lebensbereichen teilnehmen können“. Die Art und Weise, wie wir Behinderungen betrachten, müsse sich noch entwickeln, erklärt Susanne Stahel, Kommunikationsleiterin der Organisation.

swissinfo.ch: Bezieht die Schweiz behinderte Menschen nicht genügend?

Susanne Stahel: Es gab bereits Fortschritte. Wir müssen aber weitergehen und die Art und Weise ändern, wie wir mit Behinderungen umgehen. Wir denken oft die Behinderten nicht mit; sie sind es, die auf ihre Schwierigkeiten aufmerksam machen müssen.

Wir vergessen sie oft. So sollten wir zum Beispiel an den Zugang für Behinderte denken, bevor wir ein Gebäude bauen. Oft macht man das hinterher, und das wird dann teuer.

swissinfo.ch: In welchen Bereichen kann die Einbeziehung verbessert werden?

S.S.:Besonders im Transportbereich. Eine Person im Rollstuhl sollte sich auf der Strasse bewegen oder autonom reisen können, ohne andauernd Hilfe verlangen zu müssen.

Auch die Arbeitswelt muss sich noch mehr öffnen. Wenn eine Person über Kompetenzen verfügt, sollte ihre Behinderung bei ihrer Anstellung kein Hindernis sein. Auch die digitale Kommunikation sollte zugänglicher werden.

swissinfo.ch: Wo steht die Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern?

S.S.: Was die Zugänglichkeit betrifft, sind einige Länder klar weiter. So etwa Deutschland: Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele Kriegsversehrte zurück, weshalb sich die Gesellschaft anpassen musste.

swissinfo.ch: Wie kann die Situation verbessert werden?

S.S.: Wichtig ist, dass auf nationaler Ebene eine kohärente und integrative Politik angewandt wird, die sich nicht auf einen Punkt konzentriert, sondern auf das ganze Leben von Menschen mit Behinderungen. Massnahmen dazu wurden bereits am 9. Mai in einem Bericht des Bundesratsexterner zu Gunsten der behinderten Menschen definiert

Oft gibt es wenig Austausch zwischen Personen ohne und mit Behinderung, denn letztere sind besonders in der Arbeitswelt nicht oft anzutreffen. Das ist schade. Wir müssen die menschliche Diversität als einen Schatz betrachten.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Webseiten sind nicht barrierefrei

(Der Rheintaler)

Rheintal Gemäss Behindertengleichstellungsgesetz müssen Online-Angebote von Bund, Kanton und Gemeinde barrierefrei sein. Die Webseiten der Rheintaler Gemeinden erfüllen diese Anforderungen bei Weitem nicht.

Noch können Menschen mit Beeinträchtigung die Gemeindewebseiten nicht vollumfänglich nutzen. Verbesserungen sind bei den meisten in Planung. Bild: Depositphotos/mindscanner

 

Benjamin Schmid
Früher wurden behinderte Personen diskriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt, heute stehen ihnen immer mehr Möglichkeiten offen: So können Blinde beispielsweise dank Internet Tageskarten der SBB lösen, Einkäufe über Onlinebanking abwickelnund an Universitäten studieren. Was die wenigsten wissen: Ein Grossteil der Internetsei en ist nach wie vor nicht barrierefrei. Auch die Webseiten der Rheintaler Gemeinden.

Nach einer Analyse der Seiten durch die Stiftung «Zugang für alle» tritt ein schlechtes Resultat zutage. «Insgesamt sind die Ergebnisse durchgängig schlecht», sagt Andreas Uebelbacher, Leiter Bereich Dienstleistungen bei «Zugang für alle», und ergänzt: «Durchschnittlich wird nur eine Punktzahl von 1.2 von möglichen ünf Punkten bei der Prüfung von fünf ausgewählten Basiskriterien der WCAG 2.0 erreicht.» Die WCAG 2.0 sind die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte, die gemäss UNO-Behindertenrechts-konvention (BRK) für Gemeinden verbindlich sind, um Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Keine Webseite überzeugt Noch am besten schneidet bei der Überprüfung die Webseite der Gemeinde Balgach ab, mit drei von fünf möglichen Punkten. Die wenigen Grafiken haben korrekte Textalternativen und die Kontraste sind ausreichend. «Diese Gemeinde scheint das Ergebnis eher zufällig zu erreichen, denn der Tastaturfokus ist dort alles andere als gut sichtbar umgesetzt», sagt Uebelbacher. Damit ist Balgach die einzige Gemeinde im Rheintal, die mehr als die Hälfte der Punkte erreichte. «Grundsätzlich freut uns das Resultat», sagt Silvia Troxler, Gemeindepräsidentin von Balgach und ergänzt: «Wir sind uns aber auch bewusst, dass noch nicht alles optimal umgesetzt wurde.» Es seien Bestrebungen im Gange, die nicht auf einzelne Beeinträchtigungen zielen, sondern die Situation aller Menschen mit Beeinträchtigungen verbessern, sagt die Gemeindepräsidentin.
Das Thema sei immer wieder Teil der politischen Agenda der Gemeinde, sei es bei baulichen Massnahmen oder gesellschaftlichen Anlässen.

Bei den restlichen 13 untersuchten Gemeindewebseiten waren die Resultate schlechter. Der Internetauftritt von Altstätten, Au, Berneck, Rebstein, Rüthi und Widnau wurde mit zwei von fünf Punkten bewertet. Gemäss Marcel Fürer, Gemeinderatsschreiber von Au, existiert die heutige Webseite der Gemeinde seit 2008. «Im Rahmen der anstehenden Überarbeitung wird der Behindertengerechtigkeit die nötige Beachtung geschenkt.» Der zukünftige Auer Webauftritt wird zusammen mit der Anbieterin web AG möglichst barrierefrei gestaltet. i-web stehe mit der Stiftung «Zugang für alle» in Kontakt.

Die Webseite der Gemeinde Thal erfüllt nur ein Kriterium von den fünf geprüften: Die Farbkontraste sind ausreichend. Laut Marco Forrer, Gemeinderatsschreiber Stellvertreter von Thal, ist die Webagentur daran, die Webseiten ihrer Kunden den Kriterien entsprechend zu überarbeiten. Gleichzeitig verweist er darauf, dass sie von Seiten der Webagentur darauf hingewiesen wurden, dass nicht immer ganz transparent sei, wie die Stiftung zu ihren Ergebnissen gelangt und wie sie verschiedene Aspekte der Barrierefreiheit gegeneinander abwäge. «Die Online Formulare aufunserer Webseite sind gemäss offiziellem Analysetool WAVE des World-Wide-Web-Consortiums perfekt barrierefrei zugänglich», sagt Forrer. Dem widerspricht Uebelbacher: «WAVE ist ein automatisches Prüfwerkzeug, das grundsätzlich gut ist, um mögliche Probleme zu finden. Aber viele praktisch wichtige Probleme kann ein solches Werkzeug nicht entdecken, da es zu wenig intelligent ist.» Gerade hier liege die Krux. Die Webseiten seien objektiv, aber nur mit einem gewissen Mass an Expertenwissen prüfbar.

Ganz im Gegensatz zum Treppeneingang vor dem öffentlichen Gebäude, wo jeder gleich erkennen kann, dass das unzugänglich ist für betroffene Personen. Gemäss Forrer können beispielsweise blinde Menschen über ein Benutzerkonto völlig selbstständig Veranstaltungen im Gemeindekalender eintragen: «Das ist für die Beteiligung am Gemeindeleben durchaus wichtig», sagt Forrer und ergänzt: «Es könnte der Eindruck entstehen, dass beim Test bewusst nach Fehlern gesucht wurde.»

Anforderungen schon seit einem Jahrzehnt bekannt «Selbstverständlich suchen wir nach Fehlern», sagt Uebelbacher und fügt an: «Aber es geht um Fehler, die praktisch relevant sind für Menschen mit Beeinträchtigungen und diese von der Nutzung eines Online-Angebots ausschliessen können. Wir sprechen hier über Anforderungen, die in Form der WCAG seit 2008, also bereits ganze zehn Jahre, öffent- lich bekannt sind.»

Während Marbach und Thal einen Punkt ergattern konnten, fallen die Webseiten der Gemeinden Diepoldsau, Eichberg, Oberriet, Rheineck und St. Margrethen komplett durch beim Test. Betreffend Barrierefreiheit sind diese Gemeinden schlecht aufgestellt. «Unsere Webseite wurde soeben leicht optimiert», sagt Gabriel Macedo, Stadtschreiber von Rheineck, und ergänzt: «Weitere Schritte könnten mit dem nächsten technischen Update im Verlauf dieses Jahres geschehen.» Die Webagentur i-web AG ist wie in Au daran, den Webauftritt zu verbessern und barrierefrei zu gestalten.

Beim Test der Stiftung «Zugang für alle» wurden die Webseiten anhand von fünf ausgewählten Kriterien von Menschen mit Beeinträchtigungen untersucht: Ist die Überschriftenstruk-tur korrekt? Weisen grafische Elemente eine korrekte Textalternative auf? Sind Formulare zugänglich? Sind die Farbkontraste ausreichend für gute Wahrnehmbarkeit der Inhalte? Ist die Webseite gut mit der Tastatur bedienbar? Ebenfalls wurden die für Gehörlose wichtige Untertitelung von Videos geprüft, aber die wenigsten der Seiten weisen Videos auf.

Formulare sind absolut unzugänglich Grundsätzlich kann jede Webseite barrierefrei eingerichtet werden- sogar soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter oder Kurznachrichtendienste wie Whats-app. Gemäss Test sind die Überschriften durchgängig fehlerhaft umgesetzt. Nutzerinnen und Nutzer, die auf Vorlese-Programme angewiesen sind, können sich in diesen Inhalten kaum zurechtfinden und sie nicht effizient nutzen. «Komplett unzugänglich sind die angebotenen Formulare», sagt Uebelbacher. Es fänden sich überall unzugängliche grafische Captchas. Diese Bilder, die meist verzerrte Buchstaben oder Zahlen zeigen, werden dafür verwendet, zu prüfen, ob ein Mensch oder eine Maschine ein Internet-formular ausfüllt. Hier komme das Vorleseprogramm an seine Grenzen und verunmögliche das Absenden der Formulare.

Bei rund Zweidrittel der untersuchten Webseiten finden sich unzureichende Kontraste, welche die Wahrnehmung von Inhalten für Menschen mit Sehbehinderungen erschweren oder verunmöglichen. Ebenso fehlt bei zehn von vierzehn Gemeinde-webseiten ein durchgängig deut ich sichtbarer Tastaturfokus, wodurch für Nutzerinnen und Nutzer mit motorischen Einschränkungen, welche die Webseite mit Tastatur nutzen, die Bedienung der Seite erschwert wird.

Im Gegensatz zu Webseiten sind Treppen sofort als nicht barrierefrei erkennbar.

Gemeinde Webseiten im Vergleich