Kommission ist gegen eine IV-Alterslimite

(Freiburger Nachrichten /sda)

Auch Personen unter 30 Jahren sollen eine IV- Rente erhalten können. Die Gesundheitskommission lehnt es ab, eine Altersgrenze einzuführen.

BERN
Vor kurzem hatte die Kommission mitgeteilt, eine Grenze in Betracht zu ziehennach dem Grundsatz «Keine Rente unter 30». Mit 16 zu 9 Stimmen hat sie sich nun dagegen ausgesprochen, den Vorschlag von der Verwaltung konkretisieren zu lassen, wie die Parlamentsdienste gestern mitteilten. Offen ist, ob die Altersgrenze im Verlauf der Beratungen zur IV-Revision als Teil eines umfassenderen Konzepts wieder auf den Tisch kommt. Die Befürworter möchten damit die Anreize für junge Menschen verstärken, sich um die berufliche Eingliederung zu bemühen. Es sei schädlich, wenn sie zu früh eine Rente erhielten, argumentierten sie.

Die Gegner gaben zu bedenken, es gebe auch psychisch Kranke, die beim besten Willen nicht erwerbsfähig seien. Die Einführung eines Mindestalters würde neue Probleme schaffen.

Der Test für die Selbstständigkeit

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

STADT BERN Für Menschen mit Behinderung ist es ein grosses Bedürfnis, selbstständig zu leben. Ob sie diesen Schritt tatsächlich schaffen, können Sie nun in der ersten städtischen Sprungbrettwohnung testen.

Die schwere Tür öffnet sich ganz von alleine, als Flavia Trachsel den Schlüssel im Schloss dreht. Mit ein paar kräftigen Armbewegungen befördert die junge Frau ihren Rollstuhl den Gang entlang in den Fahrstuhl. Dieser teilt ihr mit freundlicher Frauenstimme mit, dass der erste Stock erreicht ist. Eine Funktion, die von Flückiger zwar nicht benötigt wird.

Dennoch freut sie sich, als die Stimme erklingt: «Für Menschen mit einer Sehbehinderung ist dieses kleine Detail von unschätzbarem Wert.» Die Wohnung, die Flavia Flückiger anpeilt, ist auf jede Art von Behinderung ausgelegtegal, ob der Bewohner in Mobilität, Sehkraft, Hörvermögen oder Psyche eingeschränkt ist. Es handelt sich um die erste sogenannte Sprungbrettwohnung der Region Bern. «Das Projekt soll es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, den Schritt – oder eben Sprung – in die Selbstständigkeit zu wagen», erklärt Flückiger.

Die Liegenschaft in der Siedlung Stöckacker-Süd ist aber nur eine Probewohnung: Die Mieter ziehen nicht definitiv ein, sondern testen die Wohnung etwa ein halbes Jahr lang. Gefällt ihnen das selbstbestimmte Leben, hilft ihnen der Verein Wohnenbern, eine längerfristige Lösung zu finden. Der Verein fungiert als Hauptmieter der Wohnung, Bauherr ist die Stadt Bern. Deren Vertreter, Gemeinderat Michael Aebersold (SP), ist ebenfalls begeistert, als er Flückiger in die Wohnung folgt: «Wir sind sehr stolz auf dieses Projekt.» Verstellbare Einrichtung In der Wohnung angekommen, wird Flavia Flückigers Lächeln noch ein Stück breiter. Über drei Jahre hat sie, als Projektleiterin der Behindertenkonferenz Stadt und Region Bern, an der Entstehung der Sprungbrettwohnung mitgearbeitet. «Um allen Arten von Behinderungen gerecht zu werden, mussten wir einige Kompromisse eingehen», erzählt Flückiger. Ein Beispiel seien die Küchenschränke: Diese müssen tief genug hängen, damit Rollstuhlfahrer sie problemlos erreichen. Gleichzeitig sollten sich stehende Menschen aber nicht benachteiligt fühlen.

Um diesem Höhenunterschied gerecht zu werden, ist ein grosser Teil der Innenausstattung verstellbar. Drückt man etwa auf einen Knopf an der Küchenablage, fahren Kochherd und Spülbecken in die Höhe. «Diesen Luxus werden die Bewohner in ihrer «Um allen Arten von Behinderungen gerecht zu werden, mussten wir einige Kompromisse eingehen.»

Flavia Flückiger künftigen Wohnung zwar nicht haben», meint Flückiger, die bereits länger selbstständig lebt. «Aber so kann man die individuelle Idealhöhe herausfinden und diese später umsetzen.» Der Wille ist entscheidend Der Zeitpunkt der Projektlancierung ist bewusst gewählt: Das Behindertenkonzept des Kantons soll demnächst von der Objekt- indie Subjektfinanzierung über-führt werden. Das bedeutet, dass Betroffene künftig über ein Budget verfügen und so entscheiden können, wie sie genau leben möchten. «Und gerade Menschen mit Behinderungen möchten möglichst selbstständig leben», betont Flavia Flückiger.

Der Wille des einzelnen Bewohners sei dann auch entscheidend für den Erfolg des Projekts, ist Eugen Uebel, Geschäftsleiter von Wohnenbern, überzeugt: «Der Schritt in die eigene Wohnung birgt viele Herausforderungen – nicht nur organisatorisch, sondern vor allem auch psychisch.» Deshalb gehöre auch eine individuelle Lebensberatung zum Projekt.

Der Wille, sich auf dieses Experiment einzulassen, scheint vorhanden zu sein: Bereits morgen wird der erste Mieter in die Wohnung im Stöckacker einziehen und so den Sprung in die Selbstständigkeit wagen.

Sheila Matti

Feierliche Schlüsselübergabe:Michael Aebersold überreicht die Sprungbrettwohnung an Flavia Flückiger und Eugen Uebel Fotos Nicole Philipp.

 

Für alle: Die Küchenablage in der Ecke kann man hoch- und runterfahren

Mindestalter 30 für IV-Rente nicht weiterverfolgt

(Das Schweizer Parlament)
Medienmitteilung 18.Mai 2018

Die Kommission führte die Detailberatung über die Weiterentwicklung der IV (17.022 n) weiter. Eingehend diskutierte sie über den Vorschlag, Menschen unter 30 Jahren grundsätzlich keine Rente der Invalidenversicherung (IV) zu gewähren mit dem Ziel, die Anreize zu verstärken, damit sich diese Menschen intensiv um eine berufliche Eingliederung bemühen; dabei sollten Ausnahmen bei bestimmten Geburtsgebrechen, Unfall- oder Krankheitsfolgen möglich sein. Wenn junge Menschen zu früh eine Rente erhielten, richte dies grossen menschlichen und volkswirtschaftlichen Schaden an, wurde argumentiert. Die Gegenseite räumte ein, dass eine Minderheit von jungen psychisch Kranken gemäss einer Studie zu schnell eine Rente erhalten habe. Deshalb müsse der Grundsatz «Eingliederung vor Rente» von allen Beteiligten mit Engagement und genügend Ressourcen umgesetzt werden; es gebe aber psychisch Kranke, die beim besten Willen nicht erwerbsfähig und damit auf eine Rente angewiesen seien, wenn sie nicht sozialhilfeabhängig werden sollten. Die Einführung eines Mindestalters würde zudem neue Probleme schaffen, so etwa bei der Definition der zulässigen Ausnahmen. Mit 16 zu 9 Stimmen lehnte es die Kommission schliesslich ab, den Vorschlag «keine Rente unter 30» in dieser Form von der Verwaltung konkretisieren zu lassen. Offen blieb jedoch, ob er als Teil eines umfassenderen Konzepts, zu dem auch intensivere Eingliederungsmassnahmen gehören würden, wieder auf den Tisch kommt.

Mit 12 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung beantragt die Kommission, dass die IV Reisekosten weiterhin nach den bisher geltenden Regeln vergütet. Die Minderheit wollte bei den Reisekosten sparen, so wie dies ursprünglich in der IV-Revision 6b diskutiert worden war (Art. 51). Die Mehrheit wies jedoch darauf hin, dass eine solche Sparmassnahme Familien mit behinderten Kindern treffen würde, die ohnehin schon stark belastet seien. Zudem liessen sich lediglich 6 Millionen Franken einsparen, und nicht wie ursprünglich erwartet 20 Millionen Franken. Mit 14 zu 4 Stimmen bei 5 Enthaltungen möchte die Kommission schliesslich sicherstellen, dass die IV auch die Behandlung von Geburtsgebrechen finanziert, die zu den seltenen Krankheiten gehören und bei denen die therapeutische Wirksamkeit deshalb noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden kann (Art. 14 Abs. 2).

Politiker zu Menschen mit Behinderung

(Engadiner Post / Posta Ladina)

Politik
Pro Infirmis Graubünden und Procap Grischun nahmen die Regie- rungskandidaten unter die Lupe. Die Kandidaten vvurden zu ihrem Engage- ment für Menschen mit Behinderung befragt. Aile Kandidaten haben an der Umfrage teilgenommen.

Die Organisationen woilten gemàss Medienmitteilung von den Kandidaten Mario Cavigelli CVP, Jon Domenic Parolini BDP, Christian Rathgeb FDP, Marcus Caduff CVP, Peter Peyer SP und Walter Schlegel SVP unter anderem wissen: Wie haben Sie sich in der Vergangenheit für Anliegen von Menschen mit Behinderungen und deren Angchorige politisch eingesetzt? Wo würden Sie als Regierungsrat Massnah- men ergreifen, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu fôrdern? Wie vvollen Sie konkret Menschen mit einer Behinderung in eine Politik auf Augenhohe einbeziehen? Aber auch: Warum sollen Menschen mit Behinderungen Sie als Regierungsrat wählen?

Die ausführlichen Antworten der Kandidaten sind auf den Internetseiten www.procapgrischun.ch und www.proinfirmis.ch zu finden. (pd/ep)

Jeder vierte IV-Betrug wurde dank Sozialdetektiven aufgedeckt

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

VERSICHERUNGEN Die Invalidenversicherung deckte Betrugsfälle von 12 Millionen Franken auf. Häufig waren dabei Sozialdetektive im Einsatz. Doch auch die aufgedeckten Betrugsfälle kosten Geld.

Seit letztem August darf die IV keine Detektive mehr zur Betrugsbekämpfung einsetzen. Der Grund liegt in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die fehlende rechtliche Grundlage für die Observationen bemängelte. Das Parlament hat daraufhin im Eiltempo diese Grundlage geschaffen, doch möglicherweise wird das Volk dazu noch in einer Referendumsabstimmung befinden müssen. Wehalb die IV wie auch andere Sozialversicherungen wieder zu Observationen greifen wollen, zeigt die Statistik. 2017 deckte die IV 630 Missbrauchsfälle auf, davon 170 mithilfe von Sozialdetektiven. Die 630 aufgedeckten Betrugsfälle entlasten die IV um jährlich 12 Millionen Franken, wie die Versicherung gestern mitteilte. Hochgerechnet auf die potenzielle Bezugsdauer beträgt die Gesamteinsparung 178 Millionen, bei Ermittlungskosten von 8 Millionen. Aus den Fällen, in denen Sozialdetektive eingesetzt wurden, resultieren aut IV 4 Millionen Franken jährliche Einsparungen, hochgerechnet auf die gesamte Bezugsdauer 60 Millionen.

9 Milliarden Gesamtausgaben

Zwischen 2013 und 2016 ordnete die IV jeweils pro Jahr 120 bis 150 Observationen von IV-Bezügern an. Letztes Jahr waren es wegen des Verbots nur noch 70. Die IV erwartet deshalb, dass sie in diesem Jahr entsprechend weniger Missbrauchsfälle aufdeckt.

Die Missbrauchsbekämpfung bringt der IV zwar beträchtliche Einsparungen. Allerdings müssen die aufgedeckten Missbrauchsfälle im Umfang von jährlich 10 bis 12 Millionen Franken im Verhältnis mit den gesamten Ausgaben der Sozialversicherung gesehen werden. Diese betragen rund 9,2 Milliarden, wovon rund 4,7 Milliarden Franken für ordentliche IV-Renten anfallen.

Weitaus mehr Geld hat die IV in den letzten Jahren mit Sanierungsmassnahmen eingespart. Die Zahl der neu zugesprochenen Renten hat zwar 2017 leicht zugenommen. Mit 14 700 Neurenten (+600) liegt die Zahl aber nach wie vor fast halb so hoch wie im Spitzenjahr 2003. Insgesamt richtete die IV 2017 rund 217 000 Renten aus. Der seit 2003 eingeleitete Sanierungskurs beruht auf einer verschärften Rentenpraxis und auf Eingliederungsmassnahmen.

Insgesamt richtete die IV im Jahr 2017 rund 217 000 Renten aus.

Ob die IV und andere Sozialversicherungen bald wieder Sozialdetektive einsetzen dürfen, wird im Laufe dieses Jahres entschieden. Für ein Referendum gegen das verschärfte Sozialversicherungsgesetz müssen bis zum 4. Juli 50 000 Unterschriften zusammenkommen. Bis Ende letzter Woche, nach Ablauf der Hälfte der Sammelzeit, haben die Gegner 29 000 Unterschriften gesammelt.

Zurückhaltend auf der Strasse
Laut SP-Jungpolitiker Dimitri Rougy, der zu den Initiatoren des Referendums gehörte, ist das Ziel erreichbar. Er hofft, dass der Versand von Unterschriftenbogen durch SP und Gewerkschaften an deren Mitglieder zusätzlichen Schub liefert. Die SP sei nach wie vor zurückhaltend bei der Unterschriftensammlung auf der Strasse. Rougy hat mit der Schriftstellerin Sibylle Berg und dem Anwalt Philip Stolkin das Referendum lanciert.

Markus Brotschi

Richterinnen und Richter besichtigten neuen SBB-Doppelstockzug

(Bundesverwaltungsgericht)

Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichts besichtigten am Dienstagnachmittag, 15. Mai 2018 im Bahnhof Romanshorn einen neuen Doppelstockzug der SBB. Mit der Anwesenheit von neun behinderten Personen machten sie sich ein Bild über die vorgebrachten Einwände bei einem stehenden FV-Dosto-Zug.

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Am gerichtlichen Augenschein nahmen nebst den Verfahrensparteien, sprich Inclusion Handicap, die Schweizerischen Bundesbahnen SBB, das Bundesamt für Verkehr BAV sowie Bombardier Transportation GmbH, auch neun Personen mit Behinderungen teil. Seh- und hörbehinderte Personen sowie Menschen im Rollstuhl prüften diejenigen Installationen, die aus Sicht von Inclusion Handicap nicht den rechtlichen Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes entsprechen. Im Anschluss zogen sich die zuständigen Richterinnen und Richter mit den Verfahrensparteien zurück, um weitere Fragen zu klären.

Entscheid steht noch aus

Diese Begehung diente den Richterinnen und Richtern dazu, sich vor Ort ein Bild über die vorgebrachten Einwände zu machen. Dabei fällte das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) keinen Entscheid. Das Urteil wird zu einem späteren, noch nicht bekannten Zeitpunkt schriftlich ergehen.

Was bisher geschah

Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen der Schweiz, hatte im Zusammenhang mit dem Bau der FV-Dosto-Züge der SBB eine Beschwerde beim BVGer eingereicht. Darin brachte er vor, dass unbegleitet reisende Menschen mit Behinderungen in den neuen Doppelstockzügen auf zu viele Hindernisse stossen würden. Daraufhin entzog das BVGer in den Zwischenverfügungen vom 14. Februar 2018 und 6. März 2018 der Beschwerde die aufschiebende Wirkung1. Das Gericht erlaubte damit den SBB, die Doppelstockzüge befristet bis Ende November 2018 in Betrieb zu nehmen.

1 Siehe Medienmitteilungen vom 16. Februar 2018 und 8. März 2018

So wertvoll und doch tabu

(Curaviva / deutsche Ausgabe)

Sexuelle Unterstützung für Menschen mit Handicap

Für viele Menschen mit Behinderung sind die professionellen Berührerinnen und Sexual-assistenten oft die einzige Möglichkeit, Sinnlichkeit und sexuelle Bedürfnisse auszuleben. Doch das Thema Sexualität und Behinderung ist in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabu.

Von Marion Loher

Kevin ist Anfang 20 und Spastiker. Er sitzt im Rollstuhl, ist stark sehbehindert und hat eine leichte geistige Einschränkung. Eine Freundin hatte er noch nie, sexuelle Kontakte ebenfalls nicht. Dementsprechend gross war sein Wunsch nach Intimität. Aufgrund seiner Spastik kann er sich nicht selber berühren, Masturbation ist nicht möglich. Über seine Verwandten nahm Kevin Kontakt zu Michelle Gut auf.

Sie ist Tantramasseurin, professionelle Berührerin und Sexual Coach. Sie weiss, wie wichtig Berührungen sind. «Je entspannter ein Mann ist, desto besser kann er zum Orgasmus kommen. Daher ist gerade bei Spastikern die Entspannung wichtig», sagt sie. «Bei ihnen steht die Skelettmuskulatur stark unter Spannung, und Massagen können zu einer tiefenwirksamen Entspannung führen.» Kevin sei bei den ersten Treffen sehr schüchtern gewesen und habe wenig geredet. «Das änderte sich im Laufe der Zeit. Nachdem ich zuerst normale Körpermassagen an ihm praktiziert hatte, äusserte er den Wunsch nach einer Intimmassage. Zu Beginn war er noch verkrampft, aber mit jeder weiteren Massage konnte er immer besser entspannen.» Etwa vier Mal im Jahr kommt Kevin zu Michelle. «Er sagt, dass ihm die Besuche bei mir guttun und er sich immer wieder darauf freut.»

Je entspannter ein Mann ist, desto besser kommt er zum Orgasmus. Massagen helfen.

Seit gut 13 Jahren hat die ausgebildete Berührerin und Tantra-masseurin ihr eigenes Massagestudio Andana in Zürich, das sie zusammen mit ihrem Lebenspartner führt. Sie bietet haupt-sächlich «erotische Massagen mit Handentspannung» an. «Das sind Ganzkörpermassagen, zu denen auch der Intimbereich gehört», erklärt Michelle Gut. «Ebenfalls Teil der Massage können Streicheln, Umarmen, Kuscheln oder Body-to-Body sein. Zum Geschlechtsverkehr kommt es bei mir hingegen nicht.»

Fast ausschliesslich männliche Kundschaft

Zu ihren Kunden zählen aber nicht nur Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung, sondern auch gesunde Menschen. Denn sie arbeitet zusätzlich als Sexual Coach. «Ich begleite Menschen in ihrer Sexualität, wenn es beispielsweise darum geht, den eigenen Körper besser wahrzunehmen oder sonst etwas im Zusammenhang mit Sexualität zu lernen.» Etwa 90 Prozent ihrer Klientel sind Männer, 7 Prozent Frauen und 3 Prozent Transgender und Intersexuelle. Die meisten kommen monatlich, manche alle zwei bis drei Monate. «Es gibt viele, die ich über mehrere Monate oder Jahre hinweg begleite.» Oliver sei so jemand gewesen, sagt sie und erzählt: «Oliver hatte ALS, eine nicht heilbare degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. In einer Mail schrieb er, dass die Krankheit weit fortgeschritten sei und er sich nicht mehr bewegen könne. Auch Sprechen war nicht mehr möglich. Die Kommunikation gelang per Computer mittels Augenbewegung, sodass er seine Wünsche per Mail mitteilen konnte.» Oliver war Mitte 30 und vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Er wünschte sich Zärtlichkeit und erotische Massagen. «Er schrieb mir alles detailliert auf. Ich massierte ihn genau nach seinen Wünschen. Für mich war es sehr speziell, weil Oliver keine Mimik zeigen konnte und ich so nicht wusste, ob alles nach seinen Vorstellungen verlief oder nicht.» Am nächsten Tag schrieb er ihr ein ausführliches Feedback. Ein positives. Danach sahen sie sich zwei bis drei Mal im Monat. «Ich lernte in der Zeit auch, seine Augen zu lesen, und wusste, ob es ihm gefällt oder nicht. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich allerdings immer schneller. Er schrieb mir, dass meine Besuche in dieser Zeit stets eine Freude für ihn waren. Schliesslich starb er an einer Lungenentzündung.»

«Als Tantramasseurin kenne ich ihre Sorgen»

Auf die Idee, als Berührerin zu arbeiten, kam Michelle Gut vor 15 Jahren. Pro Infirmis war damals auf der Suche nach Personen, die Menschen mit Behinderung erotische Massagen anbieten sollten. «Ich war von dem Gedanken sehr angetan, weil ich durch meine Tätigkeit als Tantramasseurin bereits einiges von den Sorgen und Nöten dieser Menschen wusste», erzählt die gebürtige Luzernerin. «Ich meldete mich für die Ausbildung an, bestand das Aufnahmeverfahren und schloss die sechsmonatige Ausbildung zur Berührerin und Sexualassistentin in der Tradition der Psychotherapeutin Aiha Zemp und zum Sexual Coach nach Joseph Kramer erfolgreich ab.»
Aiha Zemp, der 2011 verstorbenen Behindertenaktivistin, war vor allem die Selbstbestimmung wichtig. «Menschen mit Behinderung sollten selber entscheiden können, in welchem Bereich ihres Lebens sie unterstützt werden wollen», sagt auch Michelle Gut. So gebe es Assistenz im Haushalt, bei der Körperpflege oder eben bei der Sexualität. Rechtlich sei die Tätigkeit der Berührerin, Sexualassistentin oder Sexualbegleiterin kein geschützter Beruf. Das heisst, jeder kann diese Tätigkeit ausüben oder entsprechende Ausbildungen anbieten. «Das erschwert einerseits die Qualitätssicherung, andererseits haben Menschen mit Behinderung so Zugang zu diversen Angeboten. Das wiederum ist von Vorteil.» Sowohl Behinderten-Berührung als auch Sexualassistenz sind erotische Dienstleistungen. Sie gehen von Massagen über Oralverkehr bis hin zum Geschlechtsverkehr. «Jede Anbieterin und jeder Anbieter bestimmt selber, was sie oder er anbieten möchte.» Diese Dienstleistungen sind hauptsächlich für Menschen mit Behinderung gedacht. Immer häufiger aber zählen auch ältere Menschen, die beispielsweise ihren Partner verloren haben und unter Altersgebrechen oder Demenz leiden, zur Kundschaft der Berührerin.

Er wusste die Adresse des Pflegeheims nicht
«Walter war ein älterer Herr und wollte von mir besucht werden. Als ich nach seiner Adresse fragte, konnte er mir nicht antworten. Er wusste sie nicht. Da wurde mir klar, dass er ver mutlich dement war.

Jeder kann diese Tätigkeit ausüben. Das erschwert die Qualitätssicherung, lässt aber Auswahl.

Menschen mit Behinderung wie der 20-jährige Spastiker Kevin können sich nicht selber berühren. Sie sind auf die «erotischen Massagen mit Handentspannung» der Berührerin Michelle Gut angewiesen.Foto: Shutterstock

 

Er rief mich nochmals an, und seine Betreuerin nannte mir die Adresse. Sie verriet auch, dass Walter 95 Jahre alt war und in einem Pflegeheim lebte. «Er wünschte sich eine Massage und Zärtlichkeit. Sein Körper war dem Alter entsprechend fragil, was die Berührungen nicht immer einfach machte. Doch er war für Zärtlichkeiten sehr empfänglich. Seit dem Tod seiner Frau vermisste er die Zärtlichkeit. Die Massage gefiel ihm, und so besuchte ich ihn bis zu seinem Tod jede Woche.»

Angehörige reagieren auf den Kontakt zwischen ihrem Schützling und der Sexualassistentin sehr unterschiedlich. «Es gibt Fälle, in denen die Menschen mit Behinderung nicht ernst genommen werden, und es gibt Fälle, in denen die Familie das Vorhaben unterstützt», sagt Michelle Gut. Diese Unterstützung reicht vom Hinweis, dass es das Angebot der Berührerin gibt, über die Kontaktaufnahme und den Transport bis hin zur Finanzierung. Für die Expertin zählt in erster Linie, die Bedürfnisse der Klienten zu erkennen und sie zu erfüllen – und nicht unbedingt den Erwartungen der Angehörigen zu entsprechen.

Die Pflegefachkräfte seien froh und dankbar, ein «unangenehmes Thema» abgeben zu können. «Sie fühlen sich darin überfordert, die Bedürfnisse der Heimbewohner zu befriedigen. Letztlich sind sie auch machtlos, denn ein Heim ist nicht dafür ausgelegt, sexuelle Bedürfnisse zu stillen.» Erstmals einen nackten Körper berühren Veronika Holwein leitet bei Insieme Kanton Bern die Fachstelle Herzblatt für Fragen zu Freundschaft, Liebe und Sexualität für Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihre Angehörigen. Sie schätzt das Angebot der Berührerin und der Sexualassistentin, denn sie weiss, wie wichtig es für Menschen mit Beeinträchtigung ist. «Viele haben keine sexuelle Erfahrung mit dem anderen Geschlecht, das Bedürfnis nach Intimität ist aber gross. Für sie ist es die Möglichkeit, erstmals gemeinsam Nacktsein zu erleben, einen anderen nackten Körper zu berühren oder sogar Geschlechtsverkehr zu haben.»

«Es ist ein heikles Thema, das mit vielen Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist.»

Simon Müller, Projektleiter bei der Stiftung MyHandicap, sieht das ähnlich: «Für die Menschen mit Behinderungen, die aufgrund ihres Handicaps keine oder nur geringe Selbständigkeit aufweisen, ist das Angebot sehr wertvoll.» Trotzdem ist es noch immer ein Tabuthema. «Die Akzeptanz und das Wissen rund um das Thema Behinderung und Sexualität fehlen», sagt Simon Müller. «Es ist ein heikles Thema, das mit vielen Unsicherheiten und Ängsten verbunden ist. Um so wichtiger sind Diskussionen, Weiterbildungsangebote oder Informationsplattformen und Foren.»

Veronika Holwein sagt, dass es vor allem Männer seien, die sich nach einer solchen Dienstleistung erkundigten. «Frauen beschäftigt die Frage, wie sie sich abgrenzen und bestimmt Nein sagen können. Die Angst vor Missbrauch oder einer ungewollten Schwangerschaft ist in ihrem persönlichen Umfeld gross.» Die Fachstellen-Leiterin wünscht sich, dass das Thema Behinderung und Sexualität «selbstverständlich» wird und sich kein Mensch mit Behinderung schämen muss, wenn er zu einer Berührerin geht. Viel Verständnis, aber auch Kritik Nicht überall stösst die Tätigkeit auf so grosses Verständnis.

Michelle Gut und ihre Berufskolleginnen und -kollegen müssen sich oft viel Kritik anhören. Insbesondere der Vorwurf der Prostitution wird immer wieder laut. Doch die erfahrene Sexualassistentin kontert: «Wir handeln in einem konkreten Auftrag, der ethisch motiviert ist und sich in letzter Konsequenz auf die Menschenrechte bezieht.» Es gehe nicht darum, dass Menschen mit Behinderung Geld bezahlen und einseitige sexuelle Fantasien ausleben. «Vielmehr findet eine professionelle Beziehung statt, in der Vertrauen, Empathie, Hingabe und Fürsorge massgeblich sind», betont sie. Insofern seien Behinderten-Berührung, Sexualassistenz und Sexualbegleitung vor allem durch ihre Beziehungsqualität gekennzeichnet. «Und sie richten den Fokus darauf, Menschen zu helfen, die ihre Sexualität nicht selbstständig leben können.»

Meilenstein der Behindertenpolitik

(Pro-infirmis)

Der Bundesrat hat heute einen wegweisenden Bericht zur Behindertenpolitik verabschiedet. Die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben soll gestärkt und gezielt gefördert werden.


Urs Dettling, stellvertretender Direktor von Pro Infirmis

 

Urs Dettling, stellvertretender Direktor von Pro Infirmis, begrüsst den Bericht des Bundesrates: „Die Richtung stimmt. Es ist ein guter Anfang für eine umfassendere Behindertenpolitik.“Es wird sich zeigen, dass sich behindertenpolitische Anliegen durch alle Lebensbereiche ziehen – mit dem entsprechenden politischen Handlungsbedarf für eine umfassende Behindertenpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik“. Als zentrale Handlungsfelder nennt der Bericht die Gleichstellung in der Arbeitswelt, die Förderung eines selbstbestimmten Lebens sowie die barrierefreie digitale Kommunikation. Der Bundesrat antwortet mit diesem Bericht das Postulat „Kohärente Behindertenpolitik“ von Pro Infirmis-Vizepräsident Christian Lohr.

Medienmitteilung von Inclusion Handicap, Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz

Medienmitteilung des Bundesrates

Bundesrat verstärkt seine Behindertenpolitik

(Der Bundesrat)

In der Schweiz ist es noch nicht allen Menschen mit Behinderungen möglich selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Der Bundesrat will dies ändern. An seiner Sitzung vom 9. Mai 2018 hat er einen entsprechenden Bericht zur Stärkung der Behindertenpolitik verabschiedet. Priorität haben die Gleichstellung in der Arbeitswelt, die Förderung eines selbstbestimmten Lebens sowie die barrierefreie digitale Kommunikation. Zudem wird die Zusammenarbeit von Bund und Kantonen verstärkt.

Für eine Gesellschaft, an welcher Menschen mit Behinderungen teilhaben, müssen Bund und Kantone stärker zusammenarbeiten. Der Nationale Dialog Sozialpolitik Schweiz übernimmt künftig die dazu notwendige Steuerung. Auch auf Bundesebene wird die Zusammenarbeit über die Departemente hinweg verstärkt.

Inhaltliche Vertiefung in prioritären Bereichen

Der Bundesrat schlägt in seinem Bericht prioritäre Bereiche vor. Mit dem Schwerpunktprogramm «Gleichstellung und Arbeit» des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) soll ein allen zugängliches Arbeitsumfeld gefördert werden. Hierfür sollen beispielsweise Arbeitgeber dazu gewonnen werden, Gleichstellungsmassnahmen auszuprobieren. Das Programm beinhaltet auch die Begleitung und Förderung von Gleichstellungsprojekten, welche aus der «Nationalen Konferenz zur Arbeitsmarktintegration» entstanden sind, die 2017 stattgefunden hat.

Um einfacher ein autonomes Leben führen zu können, setzen Bund und Kantone zudem das Programm «Selbstbestimmtes Leben» um. Dabei sollen Dienstleistungen und Angebote vermehrt auf den individuellen Bedarf ausgerichtet werden. Schliesslich sieht der Bericht in Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung zusätzliche Massnahmen im Bereich barrierefreie Kommunikation vor.

Zur Umsetzung dieser Massnahmen hat der Bundesrat zwei zusätzliche Stellen für das EBGB bewilligt.

Gleichstellung in vielen Lebensbereichen noch mangelhaft

Der Bericht zur Behindertenpolitik gibt einen Überblick über den aktuellen Stand, die laufenden Entwicklungen und die anstehenden Herausforderungen. Die Situation von Menschen mit Behinderung hat sich in der Schweiz in den letzten Jahren stark verbessert. So sind etwa Bauten und der öffentliche Verkehr besser zugänglich geworden und die Invalidenversicherung hat die berufliche Integration verstärkt. In vielen Lebensbereichen wie zum Beispiel Arbeit, Bildung, Gesundheit, Wohnen, Freizeit oder Kultur können Menschen mit Behinderung aber noch nicht gleichberechtigt teilnehmen, so wie es die Bundesverfassung festlegt. Die vorgeschlagenen Massnahmen tragen dazu bei, diesem Ziel einem Schritt näher zu kommen. Sie wurden zusammen mit den Kantonen, dem Bund, den Sozialpartnern und Behindertenorganisationen erarbeitet.

Mit dem Bericht beantwortet der Bundesrat das Postulat 13.4245 «Kohärente Behindertenpolitik» von Nationalrat Christian Lohr.

Bericht des Bundesrates vom 09.05.2018

Ein Teil landet in der Sozialhilfe

(Tages-Anzeiger / Fernausgabe)

Von Markus Brotschi

Jedes Jahr werden fast 2000 unter 30-Jährige mit psychischen Diagnosen wie Persönlichkeits- störungen, ADHS oder Schizophrenie zu IV-Rentnern. Oft haben sie bereits eine jahrelange Behandlungskarriere hinter sich. Die Invalidenversicherung versucht, mit Ausbildungen und Integrationsmassnahmen einen Teil wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Doch die Erfolge halten sich in Grenzen, weil die IV mehr tun könnte und sich für Junge mit psychischen Störungen schwer Stellen finden lassen.

Doch nun wollen bürgerliche Sozialpolitiker solchen unter 30-Jährigen keine IV-Rente mehr gewähren. Ziel dieses radikalen Schnitts sei die Integration in den Arbeitsmarkt, statt diese Menschen lebenslang mit einer Rente abzuspeisen. Tatsächlich bietet eine Rentnerkarriere keine erbauliche Lebensperspektive. Die Zielsetzung ist also richtig. Das Problem ist aber, dass das Ziel – wenn überhaupt – nur mit einem gigantischen Betreuungsaufwand zu erreichen ist. Die Betroffenen müssen nicht nur einige Jahre, sondern allenfalls ein Jahrzehnt begleitet, geschult und mit Taggeldern versorgt werden, was für die IV viel teurer ist als die Berentung. Für die IV zahlt es sich nur aus, wenn die Integration im grossen Stil gelingt.

Doch ob die Nationalräte zu einem solch teuren Investitions-programm bereit sind, ist fraglich. Denn die gleichen Politiker fordern, dass die IV weiter sparen müsse. So lehnt etwa die SVP nur schon bescheidene zusätzliche IV-Integrationsmassnahmen für Junge ab. Aber auch die Wirtschaft müsste ihre Bereitschaft erhöhen, angeschlagene Menschen anzustellen. Falls das Parlament den Rentenausschluss für unter 30-Jährige beschliesst, drohen jährlich Hunderte junge Erwachsene zur Sozialhilfe abgeschoben zu werden. Dort gehören sie nicht hin.

Denn die Sozialhilfe verfügt nicht über Instrumente, um sie in den Arbeitsmarkt zu bringen. Zudem würden Kantonen und Gemeinden noch höhere Soziallasten aufgebürdet, als sie heute schon haben, weil auch Ältere, körperlich Angeschlagene und Niedrigqualifizierte auf dem Arbeitsmarkt schlechte Chaticen haben.