Sozialhilfe statt Rente

Die verschärfte IV-Praxis trägt vermutlich zu den Finanzproblemen der Zentrumsgemeinden bei. Ein GLP-Kantonsrat fordert den Regierungsrat auf, dagegen vorzugehen. Dieser sieht sich dazu ausserstande, auch bewertet er die IV-Praxis positiver.

Thomas Wunderlin

Behinderte finden nur schwer eine Stelle, besonders wenn sie sich aus psychischen Gründen mit einer geregelten Arbeit schwer tun. Nur wenige Arbeitgeber geben einem Bewerber eine Chance, der sich kaum durch Tugenden wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit auszeichnet.

Klein ist aber auch deren Chance eine Rente der Invalidenversicherung (IV) zu erhalten. Denn seit der 2008 in Kraftgetretenen 5. IV-Revision gilt die Devise «Eingliederung statt Rente». Nach Ansicht des Romanshorner GLP-Kantonsrats Hanspeter Heeb ist die Revision jedoch gescheitert. Der Rentenverlust oder die Ablehnung eines IV-Antrags bedeute in allzu vielen Fällen, dass sich die Betroffenen an die Sozialhilfe wenden mussen. Dabei bezieht sich Heeb auf die Psychiaterin Doris Brühlmeier-Rosenthal aus Schlieren, nach deren Erkenntnis ausgemusterte und von der IV zurückgewiesene Patienten dem «sozialen Tod» nahe rücken.

Gemäss einer Umfrage unter Berufskollegen in den Kantonen Zürich und Aargau, deren Ergebnis Brühlmeier in der «Schweizerischen Ärztezeitung» publizierte, führte die Aufhebunder IV-Rente in 93 Prozent der Fälle zu Sozialamtsabhängigkeit, vermehrter Krankheit, Hospitalisationen, Armut oder vollkommener Erwerbsunfähigkeit. Die Ablehnung eines Rentengesuchs hatte in 60 Prozent der Fälle ähnlich negative Folgen. Brühlmeier schreibt deshalb von einer «humanitären Katastrophe».

Laut Heeb ist die Umfrage bisher die einzige Quelle zum Thema. Aufgrund einer Interpellation von ihm und 47 Mitunterzeichnern hat der Regierungsrat kürzlich einige Zahlen zur Auswirkung der IV-Revision im Thurgau veröffentlicht. Demnach hat die 5. IV-Revision tatsächlich massive Auswirkungen. Im Jahr 2005 sind nur 28 Prozent von 1456 eingereichten Gesuchen abgelehnt, dafür 72 Prozent gutgeheisse worden. Im Jahr 2016 hat sich das Bild gründlich verändert: von 1823 Gesuchen sind 66 Prozent abgelehnt und lediglich 33 Prozent gutgeheissen worden. Die Gesamtzahl der IV-Rentner im Thurgau ist nach Regierungsangaben seit 2011 von 7345 auf 7119 leicht zurückgegangen. 360 Renten sind in dieser Zeit aufgehoben, 159 gekürzt worden.

Viele der von Heeb eingeforderten Zahlen sind laut Regierungsrat nicht verfügbar oder wären nur durch einen unverhältnismässig hohen Aufwand zuerhalten; dabei handelt es sich vor allem um die Aufschlüsselung nach Gemeinden. Rund 3300 verweigerte und aufgehobene Renten Ergänzt durch eigene Berechnungen kommt Heeb zum Schluss, dass im Thurgau heute 3200 bis 3300 Personen leben, deren IV-Gesuch abgelehnt oder deren Rente aufgehoben worden ist.

Wie viele davon den Weg zurück in den Arbeitsmarkt gefunden haben, ist offen. Der Analogschluss zur erwähnten Umfrage lässt annehmen, dass der grösste Teil in der Sozialhilfe gelandet ist. Für Heeb besteht weiterhin der Verdacht, dass die Thurgauer Zentrumsgemeinden aufgrund der restriktiven Praxis der IV-Stelle seit 2009 Millionenbeiträge aufwenden müssen. «Es ist ja augenfällig, dass genau ab diesem Zeitpunkt in allen Zentrumsgemeinden auch die Sozialkosten markant zugenommen haben.» Die aktuelle Praxis der IV-Stelle sei offensichtlich nicht zielführend und koste den Kanton und die Zentrumsgemeinden Millionenbeträge; Heeb rechnet dabei auch Steuerausfälle und höhere Ausgaben für Prämienverbilligungen ein.

Der Regierungsrat müssedeshalb auf die IV-Stelle einwirken, dass sie ihre Praxis ändere und sich um eine «echte Arbeitsintegration» bemühe. Dazu verpflichte auch die UN-Behindertenkonvention, die seit 2014 in Kraft sei und die Eingliederung Behinderter in den Arbeitsmarkt verlange. In seiner Interpellationsantwort weist der Regierungsrat ein solches Ansinnen zurück. Der Kanton habe keine Weisungsbefugnis gegenüber der IV-Stelle. Diese habe auch nur einen «sehr geringen Ermessensspielraum», denn sie sei ein «Durchführungsorgan des Bundes» und werde von diesem entsprechend überprüft. Heeb hält dem entgegen, dass die IV-Stelle «doch Teil der kantonalen Verwaltung» ist und der Regierungsrat und die Vorgesetzten «über Mitarbeitergespräche und Personalentscheide» Einfluss nehmen könnten.

Insgesamt bewertet der Regierungsrat die neue IV-Praxis deutlich positiver als der Interpellant. Früherfassung, Frühintervention und Integrationsmassnahmen hätten positive Wirkungen. Insbesondere Personen mit psychischen Problemen hätten vorher zu rasch eine Rente erhalten. Ein «eigentliches Erfolgsmodell» sei die Zusammenarbeit der Arbeitslosen- und der Invalidenversicherung. Der Regierungsrat weist auch auf ein statistisches Problem hin. Die IV- Stellen müssen seit der 5. IV-Revision auch bei einer erfolgreichen Eingliederung zu eine Rentengesuch Stellung nehmen, welches in solchen Fällen oft ab- gelehnt werde. Der Regierungsrat bestätigt, dass die Ausgaben für Ergänzungsleistungen zugenommen haben. Bei den individuellen Prä- mienverbilligungen kann er jedoch keine Auswirkungen der IV- Revision erkennen. Für einen verstärkten finanziellen Ausgleich zu Gunsten der Gemeinden sieht der Regierungsrat keinen Anlass. Der Kanton werde durch die höheren Ergänzungsleistungen finanziell ebenso belastet wie die Gemeinden.

Source: ThurgauerZeitung

Erwachsene mit Behinderung Behindertenrechtskonvention

Die drei nationalen Verbände Curaviva, Insos (Dachorganisation der Institutionen für Menschen mit Behinderung) und vahs (Verband für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie) erarbeiten gemeinsam einen Aktionsplan, der die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, die in Institutionen leben, verbessern.

Bei der Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention gebe es «noch viel zu tun». Noch verhinderten «vielfältige Barrieren» eine echte Teilhabe von Behinderten an verschiedenen Lebensbereichen. Eine nationale Arbeitsgruppe soll einen Aktionsplan sowie einen Massnahmenkatalog erarbeiten. Menschen mit Behinderung sollen ihre Interessen in die Arbeitsgruppe einbringen können. Ziel sei es, dass behinderte Menschen «im institutionellen Kontext ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen können».

Source:curviva/sda

Nationalrat will Ursachen von ADHS systematisch auf den Grund gehen

Der Bundesrat soll die Ursachen, die sich hinter der Diagnose ADHS verbergen, systematisch prüfen müssen. Der Nationalrat hat am Montag einen entsprechenden Vorstoss von Verena Herzog (SVP/TG) angenommen.

Mit 90 zu 81 Stimmen bei 4 Enthaltungen stimmte die grosse Kammer der Motion zu.(Motion 15.4229 lesen) Über diese muss nun der Ständerat befinden. Stimmt auch er Ja, muss der Bundesrat die gemäss dem Vorstoss „viel zu hohe Verschreibungspraxis“ von Ritalin in der Deutsch- und Westschweiz reduzieren.

Sie wolle Ritalin „nicht verteufeln“, sagte Motionärin Herzog. „Im Einzelfall ist das Medikament hilfreich.“ Der Bundesrat solle aber weitere Massnahmen gegen das Syndrom ins Auge fassen.

Gesundheitsminister Alain Berset sagte, dass wegen der Komplexität und Individualität der jeweiligen Ursachen sich auch die Behandlung gezielt an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren müsse. In der Regel erfolge die Behandlung im Rahmen eines umfassenden Behandlungssettings, das sowohl medizinische wie auch psychische und sozialtherapeutische Interventionen umfasse.

Das gelte insbesondere auch für die Frage, ob und unter welchen Rahmenbedingungen Ritalin eingesetzt werden solle. „Diese Frage muss unter Berücksichtigung der individuellen Behandlungsbedürfnisse und situativen Gegebenheiten entschieden werden“, sagte Berset.

Er sieht indes keinen Anlass, in die ärztliche Behandlungsfreiheit einzugreifen. Für eine vertiefende Analyse wäre laut Berset eine systematische Kontrolle der Verschreibungspraxis erforderlich. Das sei jedoch Sache der Kantone.

Vor knapp drei Jahren hatte der Ständerat keinen Grund gesehen, die Verschreibung von Ritalin einzuschränken. Er lehnte einen Vorstoss ohne Gegenstimme ab, der im Nationalrat noch eine Mehrheit gefunden hatte. Gemäss der Motion sollte der Bundesrat dafür sorgen, dass Ritalin nur dann verschrieben wird, wenn es wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich ist sowie im Rahmen einer umfassenden Therapie und Behandlung verabreicht wird.

Vom Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) sind laut dem Bundesrat in der Schweiz rund 3 bis 5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Schulalter betroffen. Gemäss den verfügbaren Daten wird ein Viertel von ihnen mit Methylphenidat – am besten unter Ritalin bekannt – behandelt.

Source : sda/Das Schweizer Parlament

Eine Ärztin zählt die «Opfer» der IV-Sanierung

Dank einer drastischen Reduktion der neuen Rentenfälle wurde die Invalidenversicherung saniert. Doch einige Psychiater werfen der IV vor, sie schreibe Kranke gesund und verlagere die Kosten auf die Sozialhilfe.

Gemäss der Studienautorin wirkt sich eine Rente bei Schmerzpatienten stabilisierend aus. Foto: Getty Images

In den letzten sieben Jahren erhielt die Invalidenversicherung (IV) jährlich eine Milliarde Franken aus der Mehrwert- steuer und fand aus den roten Zahlen heraus. 2018 fällt nun die Finanzspritze weg, die IV ist saniert. Dazu beigetragen hat die verstärkte Arbeitsintegration, vor allem aber die verschärfte Renten-praxis. Seit 2003 halbierte sich die Zahl der Neurenten von 28 000 auf 14 000. Aus Sicht mancher Ärzte, vor allem Psychiater, zahlen jedoch gesundheitlich schwer angeschlagene Menschen und die Sozialämter den Preis für die IV-Sanierung. Doris Brühlmeier-Rosenthal, die eine psychiatrische Praxis in Schlieren führt, nennt als Beispiel einen depressiven Patienten, der nach drei Herzinfarkten noch über ein Drittel der ursprünglichen Herzleistung verfüge und dem ein Defibrillator eingesetzt wurde. Diesem Mann habe die IV beschieden, dass er bei angepasster Tätigkeit voll arbeitsfähig sei. Oder einer durch Inzest schwer traumatisierten, stark depressiven Patientin mit Schmerzstörungen sei nach zwölf Jahren die Rente innert Monatsfrist aufgehoben worden.

Die Psychiaterin empörte sich so über den Umgang der IV mit manchen ihrer Patienten, dass sie eine Umfrage unter Berufskollegen machte. Mithilfe von Fragebogen analysierte sie 402 Fälle aus den Kantonen Zürich und Aargau und identifizierte 177 «IV-Opfer». Die Auswertung publizierte sie in der «Schweizerischen Ärztezeitung». Bei 43 der 177 wurde die Rente annulliert, bei 134 wurde sie trotz chronischer Krankheit verweigert. «Rente ist ein Segen» Bei fast allen, denen die IV-Rente verweigert oder annulliert worden sei,habe sich in der Folge die Krankheit verstärkt. Viele Betroffenen seien bei der Sozialhilfe gelandet, sagt Brühlmeier. Sie spricht von «sozialem Tod». «Dass Rentenverweigerung zu Erwerbstätigkeit führt, wie vom Bundesgericht und der IV behauptet, ist in meiner Umfrage 177-fach widerlegt.» Bei psychiatrischen und neurologischen Patienten sowie Schmerzpatienten wirke gerade die Rente häufig stabilisierend, ermögliche Erwerbstätigkeit und sei deshalb «ein Segen». Dies zeige sich in den anderen 225 der total 402 Fälle. Ein Drittel bis die Hälfte dieser Patienten sei teilweise berufstätig. Die Kosten der psychiatrischen Betreuung betrügen bei diesen Patienten nur noch 10 Prozent der Kosten vor der Berentung. Von ihren Patienten mit einer IV-Teilrente seien 87 Prozent erwerbstätig, von den Vollrentnern habe fast die Hälfte ein kleines Arbeitspensum, sagt Brühlmeier. Die Streichung der IV-Rente führe hingegen oft dazu, dass Betroffene die Arbeitsfähigkeit verlören. Brühlmeier räumt ein, dass es sich bei ihrer Umfrage nicht um eine wissenschaftliche Studie handle. Aber die Auswertung habe eine «gewisse Aussagekraft». Sie fordert eine Abkehr der IV von der «Rentenverweigerungs praxis». Bei Rentenentscheiden und beruflichen Integrationsmassnahmen solle auf die Empfehlungen der behandelnden Ärzte eingegangen werden. Allerdings teilen nicht alle Brühlmeiers Kritik. Die Neuausrichtung der IV sei richtig gewesen, sagt Niklas Baer, Leiter der Fachstelle für psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland. Vereinzelt hätten die Rentenüberprüfungen sicher zu Härtefällen geführt. «Natürlich ist es problematisch, jemandem nach Jahren eine Rente wieder abzusprechen.» Umso wichtiger sei es, bei den Neuberentungen sehr kritisch zu sein. Baer findet die pauschale Aussage, dass psychisch Kranke dank einer IV- Rente arbeitsfähig würden,falsch.

Manchmal könne auch ein gewisser Integrationsdruck Ressourcen freisetzen.«Da wird ein Bild vom glücklichen Rentenbezüger gezeichnet, der nur deshalb arbeiten kann, weil er eine Rente bekommt. Oft sind die Zusammenhänge viel komplexer.» Baer begrüsst es, wenn solche Daten vermehrt erhoben werden.
«Es ist aber unklar, ob die hier vorhandenen Daten und Auswertungen derartige Schlussfolgerungen zulassen.» Auch für das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) lässt «die Art und Weise» von Brühlmeiers Erhebung keine allgemeinen Schlüsse auf die Rentenpraxis zu. Möglicherweise habe die Psychiaterin vor allem Rückmeldungen von Ärzten bekommen, die mit entsprechenden Fällen konfrontiert seien. Einzelne Patienten mit psychischen Störungen könnten zwar auf den Verlust der Rente sensibel reagieren. Dennoch handle es sich um Einzelfälle, in denen sich die psychische Gesundheit wegen einer Rentenreduktion verschlechtert habe, sagt BSV-Vizedirektor Stefan Ritler. In erster Linie müsse die ärztliche Behandlung zur Stabilisierung führen. In vielen Fällen sei die Rente keine Lösung.

Die Praxis der IV verursache Sozialfälle, sagt der Präsident der Sozialhilfekonferenz. Die IV bestreitet dies. Mit der 4. und 5. IV-Revision verstärkte die Invalidenversicherung (IV) ihre Inte- grationsmassnahmen. Mit der 6. und bislang letzten Revision setzte sich die IV das Ziel, rund 17000 Rentner in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Prioritär überprüft und annulliert wurden die Renten von Schmerzpatienten und Patienten mit Schleudertrauma, die keinen Anspruch mehr auf eine Rente haben. Eine abschliessende Bilanz der IV darüber, wie viele Renten annulliert und wie viele Rentner integriert wurden, steht noch aus. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) wirft der IV indes vor, mit der strengeren Rentenpraxis Menschen zur Sozialhilfe abzuschieben. Diesen Effekt bestreitet die IV: Weiterhin wechselten mehr Menschen von der Sozialhilfe in die IV als umgekehrt, heisst es beim zuständigen Bundesamt.

Felix Wolffers, Co-Präsident der Skos und Leiter des Stadtberner Sozialamtes, kritisiert allerdings, dass die IV-Statistik die Verlagerung auf die Sozialhilfe nur teilweise wiedergebe. Die Sozialämter seien immer häufiger mit Menschen konfrontiert, die keine Chance auf einen Arbeitsplatz hätten. Sie seien oft zwar zu krank für den Arbeitsmarkt, allerdings zu gesund für die Invalidenversiche- rung. «In vielen Fällen, in denen die IV eine Arbeitsfähigkeit attestiert, wirkt dies angesichts des Gesundheitszustands unrealistisch, in Einzelfällen sogar zynisch.» Weil die Verfahren der IV oft mehrere Jahre dauerten, seien viele Antragsteller während der Abklärungsphase auf Sozialhilfe angewiesen, sagt Woffers. Werde ihnen dann eine Rente zugesprochen, weise die IV dies als Verlagerung von der Sozialhilfe in die IV aus. Dies sei einer der Gründe, weshalb die IV-Statistik die wahren Effekte nicht wiedergebe. Zudem würden viele Personen nicht mehr bei der IV angemeldet, weil angesichts der Rentenpraxis keine Chance auf eine Rente bestehe. Und nach einer Aufhebung der IV-Rente dauere es oft mehrere Jahre, bis Betroffene zur Sozialhilfe kämen, weil sie zuerst das Vermögen aufbrauchen müssten oder die Familie zunächst für sie aufkomme.

source: Der Bund

«Nicht nur Spielerei» – Wie Smartphone-Apps helfen

Sie weisen den Weg, sie übersetzen, sie informieren über zugängliche Orte: Smartphone-Apps eröffnen Menschen mit Behinderung neue Möglichkeiten der Teilhabe. Sozialverbände fordern mehr davon.

«Ich möchte dem Entwickler dieser App meine tiefe Dankbarkeit aussprechen. Trotz meiner Sehbehinderung bin ich immer ein unternehmungsfreudiger Mensch gewesenjetzt ermöglicht mir diese App, noch viel besser spazieren zu gehen», schreibt der Nutzer «Daiseeh» aus den USA. Und «Richard» aus Grossbritannien kommentiert im Internet: «Diese App ist brillant. Jetzt kann ich Orte in meiner Stadt erkunden und Dinge kennenlernen, die ich bisher nicht kannte. Es ist einfach befreiend.»

Die Rede ist von einem kleinen Programm für ein kleines Gerät, dessen Prinzip so einfach wie einleuchtend ist. Die Smartphone-App mit dem Namen «Ariadne GPS» bietet eine Navigationshilfe, die dem Nutzer an jedem Ort erklärt, was vor, neben und hinter ihm liegt: Strassennamen, Lokale, Museen und vieles mehr. Die von einem italienischen Informatiker entwickelte Sprachanwendung ist auch auf Deutsch verfügbar, läuft bislang aber nur auf dem iPhone. Für Blinde und Sehbehinderte ist die App nicht weniger als eine kleine Revolution.

Eine sehr wirkungsvolle Idee hatte auch der Berliner Inklusions-Aktivist Raul Krauthausen. Er sitzt im Rollstuhl und ist regelmäs sig mit dem Problem mangelnder Barrierefreiheit konfrontiert. «Ein Freund hatte sich beschwert, dass wir uns immer in demselben CaM treffen müssen. Wir beide wussten aber nicht, in welchem anderen Cafdein Treffen überhaupt möglich wäre, ohne eine Stufe am Eingang zu haben», berichtete Krauthausen. Er startete die App «Wheelmap» für Android, iPhone und Windows 10. «Wheelmap» basiert auf dem Prinzip des «Usergenerated content»: Jeder Nutzer kann neue Orte hinzufügen. Je nach Barrierefreiheit erhalten die Orte eine Ampelfarbe: Grün steht für «vollrollstuhlgerecht», gelb markierte Orte haben höchstens eine Treppenstufe und rot gekennzeichnete Orte sind für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich. Die Schweiz ist zwar noch wenig erfasst, aber es wird immer mehr.

Dass Smartphone-Apps immer häufiger eine wichtige Hilfe für Menschen mit Behinderung darstellen, betont auch Sozialhelferin Cornelia Jurrmann. «Apps sind für sehr viele Menschen längst fester Bestandteil ihres Alltags. Mobile Anwendungen zur Barrierefreiheit sind da auf keinen Fall nur einfach eine nette Spielerei», erklärt sie. Neben Navigationshilfen gibt es eine Vielzahl von Apps, beispielsweise solche, die Speisekarten vorlesen, Durchsagen in Zügen verschriftlichen oder autistischen Menschen eine Kommunikation mit Bildern ermöglichen.

Bislang sind viele der Apps, die Menschen mit Behinderung im Alltag helfen, von Privatpersonen oder von sozialen Initiativen ins Leben gerufen worden. Behindertenverbände fordern darum, dass sich auch die Wirtschaft mehr um das Thema kümmert. «Von Seiten der App-Entwickler muss ein Umdenken stattfinden, dass Barrierefreiheit nicht nur einem kleinen Personenkreis nützt, sondern sehr vielen Menschen. Denn eines steht fest: In Sachen Barrierefreiheit gibt es noch viel zu tun. Und Apps werden dabei in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen.

Source: Südostschweiz/sda

Seltene Krankheiten – Ansprechstellen für Patienten dringend notwendig!

Für Menschen mit seltenen Krankheiten gibt es kaum Anlaufstellen. Patienten und Angehörige sind deshalb oft auf sich alleine gestellt. Im Rahmen der Umsetzung des Nationalen Konzepts Seltene Krankheiten sollen auch so genannte Referenzzentren eingerichtet werden.

Patienten wie auch Fachpersonen sollen sich dort informieren können. Im Wallis wurde auf Initiative einer Patientenorganisation bereits eine Ansprech- und Betreuungsstelle für Patienten mit seltenen Krankheiten eingerichtet.

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In der Sendung praxis gsundheit „Seltene Krankheiten – Hilfe dank Kompetenzzentren “ spricht Geri Staudenmann mit Prof. Dr. med. Matthias Baumgartner, Ordinarius für Stoffwechselkrankheiten, Universitäts-Kinder Spital Zürich sowie Christine de Kalbermatten, Präsidentin Vereinigung „MaRaVal“ über die grosse Bedeutung von Ansprechstellen für Menschen mit Seltenen Krankheiten.

Wir sind nun daran, ein Pilot-Referenzzentrum aufzubauen, das kommt hoffentlich im Laufe des nächsten Jahres

Prof. Dr. med. Matthias Baumgartner, Ordinarius für Stoffwechselkrankheiten, Universitäts-Kinderspital Zürich

In der Schweiz leben Patienten mit seltenen Krankheiten, von denen beispielsweise in der Schweiz nur gerade zwei Fälle bekannt sind. Dies stellt eine immense Herausforderung für Patienten und Angehörige dar. Die Seltenheit einer Krankheit führt dazu, dass es nicht – wie bei vielen anderen Krankheiten – erprobte Behandlungs- und Betreuungsmethoden gibt. Patienten und Angehörige haben heute noch keine institutionalisierten Stellen oder Kompetenzzentren zur Verfügung, an die sie sich wenden können und Hilfe erhalten. Hilfe heisst u.a. Zugang zu spezialisierten Ärzten, aber auch Hilfe bei Fragestellungen rund um die Vergütung von Medikamenten, rechtliche Fragen oder Hilfe bei der Organisation der Betreuung von Patienten. Verschiedene Patientenorganisationen bieten Hilfestellungen, diese sind jedoch bei weitem nicht ausreichend. Geplante, so genannte Referenzzentren im Rahmen des Nationalen Konzepts Seltene Krankheiten sollen Verbesserungen bringen. Im Moment ist das Konzept jedoch nur auf dem Papier vorhanden.

Im Wallis wurde vor drei Jahren in Zusammenarbeit mit einer Patientenorganisation und der Mutter eines Kindes mit einer sehr seltenen Krankheit das Projekt ABK „Ausbilden – Begleiten – Koordinieren“ aufgebaut. Patienten mit seltenen Krankheiten erhalten dort Informationen über ihre Rechte. Sie werden informiert über bestehende Angebote, damit der Alltag besser bewältigt werden kann und Strukturen geschaffen werden, die für Patienten wie für Angehörige ein den Umständen entsprechend bestmögliches Leben ermöglichen. Das Projekt mit Pioniercharakter wurde durch die Organisation „MaRaVal“ abgelöst, die im Oktober 2017 ihre Arbeit aufgenommen hat. Für die meisten anderen Kantone in der Schweiz sind grössere Strukturen notwendig.

Ein wichtiger Schritt in Richtung verbesserter Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten ist die Gründung des Trägervereins zur Koordination bei seltenen Krankheiten „kosek“. Der Verein ist nun beauftragt, Referenzzentren aufzubauen.

Pädophilen-Initiative: Räte streiten über Ausnahmen für Täter

In gewissen Fällen dürfen einschlägig vorbestrafte Sexualstraftäter auch in Zukunft mit Kindern und Abhängigen arbeiten. National- und Ständerat sind sich einig, dass die Pädophilen-Initiative mit einer Härtefallklausel umgesetzt werden soll.

Die kleine Kammer hatte die Änderung des Strafgesetzbuches in der Herbstsession behandelt. Der Nationalrat befasste sich am Montagabend mit der Umsetzung der Pädophilen-Initiative. Im Zentrum der Diskussion stand die Ausnahme für „besonders leichte Fälle“.

In solchen Fällen muss der Richter nicht automatisch ein Verbot für die Arbeit mit Kindern und Abhängigen verhängen. Ziel der Härtefallklausel ist es, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit einhalten zu können. Dieser sei mit der Annahme der Initiative nicht ausser Kraft gesetzt worden, sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga.

Notbremse für Richter

Wie der Ständerat hat auch der Nationalrat der Härtefallklausel deutlich zugestimmt – gegen den Widerstand von SVP und BDP. „Es gibt keinen einzigen Grund, weshalb ein Täter, der wegen sexueller Handlungen mit Kindern oder Abhängigen verurteilt worden ist, wieder mit solchen arbeiten können soll“, sagte Natalie Rickli (ZH). Es sei besser, wenn er einen anderen Beruf ausübe.

Die übrigen Fraktionen waren anderer Meinung. Die Bedingungen der Härtefallklausel seien extrem streng, sagte SP-Sprecher Jean Christophe Schwaab (VD). Zudem gebe es auch in leichten Fällen keine Ausnahme, wenn der Täter im klinischen Sinn pädophil sei.

Die Härtefallklausel trage dazu bei, absurde Fälle zu vermeiden, sagte Christa Markwalder (FDP/BE). Mit Beispielen taten sich die Befürworter allerdings schwer. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Räte für die Jugendliebe eine explizite Ausnahme ins Gesetz aufgenommen haben.

Einig sind sich die Räte auch bezüglich der Aufhebung einmal ausgesprochener Tätigkeitsverbote. Obwohl diese gemäss der neuen Verfassungsbestimmung „endgültig“ sein sollten, schlug der Bundesrat die Möglichkeit der Überprüfung nach zehn Jahren vor. Wenn von einem Täter kein Risiko mehr ausgehe, solle dies nicht von vornherein ausgeschlossen werden, sagte Sommaruga.

Der Ständerat hatte das abgelehnt. Im Nationalrat setzte sich nur eine vorwiegend linke Minderheit für die Möglichkeit einer Aufhebung ein. Damit werde dem Verfassungsgrundsatz nach verhältnismässigem Handeln nachgelebt, sagte Alexander Tschäppät (SP/BE). Auch lebenslängliche Strafen würden überprüft.

Keine weiteren Ausnahmen

In der Frage, welche Delikte zu einem Tätigkeitsverbot führen sollen, sind sich die Räte jedoch nicht einig. Es handelt sich vor allem um schwere Sexualstraftaten wie sexuelle Handlungen mit Minderjährigen, Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung. Der Ständerat hat jedoch leichtere Straftaten wie Exhibitionismus und sexuelle Belästigung, aber auch den Konsum von Kinderpornografie aus dem Deliktkatalog gestrichen.

Dagegen setzte sich Rickli erfolgreich zur Wehr. „Möchten sie dass ihr Kind zu einem Lehrer in die Schule geht, der Kinderpornos konsumiert?“, frage sie. Markwalder erinnerte daran, dass es um Automatismen gehe. Es gelte abzuwägen. Der Konsum von Kinderpornografie dürfe nicht mit Menschenhandel auf eine Stufe gestellt werden. Die Mehrheit war anderer Meinung und lehnte die vom Ständerat beschlossenen Streichungen ab.

Eine Differenz gibt es auch bei der Altersgrenze. Nach den Beschlüssen des Ständerats muss das Opfer der Sexualstraftat unter 16 Jahre alt sein, damit dem Täter die Arbeit mit Kindern verboten werden kann. Der Nationalrat hat die Altersgrenze bei 18 Jahren festgelegt. Nach Ansicht der Mehrheit wäre deren Senkung ein Rückschritt gegenüber dem geltenden Recht.

In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat die Gesetzesänderung einstimmig gut. Diese geht nun zurück an den Ständerat.

Autor : sda/Parlamentsdienste

Die Invalidität von Teilerwerbstätigen soll ausgewogener berechnet werden

Für die Festlegung des Invaliditätsgrades von Teilerwerbstätigen führt der Bundesrat ein neues Berechnungsmodell ein. Dieses verbessert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und erfüllt die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 1. Dezember 2017 beschlossen, die entsprechende Verordnungsänderung per 1. Januar 2018 in Kraft zu setzen.

Für teilerwerbstätige Personen wird der Invaliditätsgrad nach der gemischten Methode festgelegt, d.h. die gesundheitliche Einschränkung im Erwerbsbereich (Beruf), und im Aufgabenbereich (z.B. Haushalt) wird separat ermittelt. Die Teilzeitarbeit im Erwerbsbereich wird dabei heute überproportional berücksichtigt, was in der Regel zu tieferen Invaliditätsgraden führt, verglichen mit der allgemeinen Methode für vollerwerbstätige Personen. Davon betroffen sind zu einem Grossteil Frauen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Urteil vom 2. Februar 2016 diese Berechnungsmethode als diskriminierend bezeichnet, weil sie Frauen benachteiligt, die nach der Geburt von Kindern ihr Arbeitspensum reduzieren.

Neu sollen für die Festlegung des Invaliditätsgrades von Teilerwerbstätigen die gesundheitlichen Einschränkungen in der Erwerbstätigkeit und im Aufgabenbereich gleich stark gewichtet werden. Für die Ermittlung des Invaliditätsgrads in Bezug auf die Erwerbstätigkeit soll auf eine hypothetische Vollerwerbstätigkeit abgestellt werden. In Bezug auf den Aufgabenbereich (z.B. Haushalt) soll gleich gerechnet werden wie bei versicherten Personen, die sich vollständig dem Aufgabenbereich widmen. Damit wird die Haus- und Familienarbeit besser berücksichtigt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert.

Mit dem neuen Berechnungsmodell können teilerwerbstätige Personen in Zukunft eine höhere Rente erhalten, weil ihr Invaliditätsgrad neu bemessen und berechnet wird. Aus diesem Grund sind alle laufende Viertelsrenten, halbe Renten und Dreiviertelsrenten, welche nach der bisherigen gemischten Methode berechnet wurden, von den IV-Stellen von Amtes wegen zu prüfen. Eine allfällige Erhöhung der Rente wird in diesen Fällen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der vorliegenden Änderung gewährt werden. Das vorgeschlagene Berechnungsmodell führt zu Mehrkosten für die IV von etwa 35 Millionen Franken pro Jahr.

Für Personen, die bisher nach der aktuellen gemischten Bemessungsmethode einen IV-Grad von unter 40 Prozent erreichten, kann aufgrund der vorgeschlagenen Berechnungsweise ein IV-Grad von 40 Prozent und höher resultieren, was neu zu einem Anspruch auf eine Rente führen würde. Da in diesen Fällen keine Revision von Amtes wegen erfolgt, müssen sich die betroffenen Personen erneut bei der IV anmelden. Es empfiehlt sich daher eine möglichst rasche Neuanmeldung bei der zuständigen IV-Stelle. In diesem Bereich kann keine Schätzung der Mehrkosten gemacht werden, weil hierzu auswertbaren Grundlagen fehlen.

Die vorliegende Änderung der Verordnung über die Invalidenversicherung tritt auf den 1. Januar 2018 in Kraft.

Änderungen der IVV und Erläuterungen (PDF)

Vernehmlassungsbericht (PDF)

Source: Der Bundesrat

Tag «Menschen mit Behinderung» Kampagne macht auf «unsichtbare » Behinderte aufmerksam

Jeder Fünfte in der Schweiz lebt mit einer Behinderung. Oft verstecken Behinderte ihr Handicap – besonders in derArbeitswelt. Die Kampagne «unsichtbar – Irritation in Schwarz» will Angst und Stigmatisierung entgegentreten. Am Sonntag startete sie in Basel.

Gemäss dem Bundesamt für Statistik leben 1,8 Millionen Menschen in der Schweiz mit einer Behinderung, wie der Verein Impulse in einer Mitteilung schreibt. Mehrere Studien zeigten, dass nur rund sieben Prozent aller Behinderungen sichtbar seien.

Andere Behinderungen sind nicht auf den ersten Blick zu sehen: etwa Gehörlosigkeit, psychische Erkrankungen, Hirnverletzungen oder chronische Erkrankungen wie die Multiple Sklerose oder rheumatische Erkrankungen. «Stigmatisierung, Vorurteile oder unsichtbare Mauern lassen Menschen, die davon betroffen sind, häufig ohnmächtig zurück», schreibt Impulse weiter.

Sag ich es dem Arbeitgeber?

Viele Betroffene wollten bewusst unsichtbar bleiben. Gerade in der Arbeitswelt sei die Frage ein grosses Thema, obein Betroffener oder eine Betroffene gegenüber dem Arbeitgeber die Behinderung benennen solle. Viele schweigenaus Angst vor einem Stellenverlust.

«Meiner Meinung nach ist es Aufgabe eines Arbeitgebers, einem Bewerber zu signalisieren, dass er Bewerbungen chancengerecht beurteilt», wurde der Basler Regierungsrat Christoph Brutschin (SP) in der Mitteilung zitiert. Brutschin war zum Kampagnenstart auf dem Theaterplatz in Basel mit dabei.

Schattenmenschen treten ans Licht

Die Kampagne «unsichtbar – Irritation in Schwarz» zeigt schwarze, lebensgrosse Silhouetten. Auf jeder der elfSilhouetten steht ein Zitat der Persönlichkeit hinter dem Schatten sowie ein QR-Code. Mittels des Codes könnenPassanten die persönliche Geschichte der Personen auf einer Website entdecken. Damit treten die Porträtierten aus ihrem Schatten ans Licht und werden sichtbar.

Die Silhouetten sind bis zum 10. Dezember in Basel zu sehen. Danach geht die Ausstellung auf Wanderschaft durch mehrere Schweizer Städte. Der Kampagnenstart erfolgte zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung

Source srf/sda/hesa:bisv

«Arbeit stutzt den Selbstwert»

Gesellschaft / Interview mit Claudia Wyer-Niederberger zum
«Tag der Menschen mit Behinderung» vom 3. Dezember

OBERWALLIS Menschen mit Behinderung sollen möglichst selbstbestimmt leben und eine sinnvolle Tätigkeit aus üben können.

Frau Wyer, Sie leiten bei der Stiftung Emera die Sozialberatung für Menschen mit Behinderung (SMB) im Oberwallis. Was bringt Ihnen der «Tag der Menschen mit Behinderung»? «Es geht den im Bereich Behinderung tätigen Institutionen darum, auf die berechtigten Anliegen und Rechte unserer Klienten hinzuweisen.
Die Herausforderung ist, dass sie selbstbestimmter werden können. Dafür müssen sie die Mög lichkeit haben, sich zu äussern z.B. auch in den Medien.»

Wie viele Leute betrifft das bei uns ganz direkt?
«Im Oberwallis werden rund 850 Menschen mit einer Behinderung durch die SMB beraten. Ich gehe davon aus, dass das rund 10 Prozent sind. Längst nicht alle Menschen mit Behinderungen benötigen unsere Hilfe. Für die, die aber Rat brauchen, sind wir gerne da. Die SMB arbeitet vernetzt mit den spezialisierten Institutionen im Behindertenbereich und mit Procap Oberwallis.»

«Jede Situation anders» Was können Sie für jene tun, die Sie brauchen?
«Die Palette ist sehr breit. Jede ist je nach Behinde rungsart und Kompetenzen des Klienten verschieden. Familiäres Umfeld und soziales Netzwerk spielen dabei eine grosse Rolle. Menschen mit physischen Behinderungen sind etwa froh um vernetzende Hilfe bei einem Wohnungsumbau, solche mit psychischen Krankheiten dankbar bei der Unterstützung für eine Platzierung. Oft sind unsere Klienten auch dankbar, wenn man sie in den administrativen Aufgaben unterstützt. Bei geistig Behinderten haben wir mehr mit den Eltern zu tun. Da geht es etwa um unterstützende Beratung, beispielsweise, um eine Behinderung anzunehmen.

Sie sind seit 26 Jahren in diesem Bereich tätig. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
«Vieles. Und zwar zum Besseren. Aus dem ersten kantonalen Behindertengesetz 1992 entstand die politische Machbarkeit. Konzeptionelle Planung führte von den bereits bestehenden Angeboten zu verbesserten Eingliederungsmassnahmen in Form von adäquaten Plätzen in geschützten Wohngruppen, Werkstätten und Ateliers bis zur integrativen Sonderschulung. Das Wallis nahm bei diesem Aufbau im interkantonalen Vergleich eine Pionierrolle wahr. Unter dem damaligen Leiter der Dienststelle für Sozialwesen (DSW), Simon Darioli, wurde wegweisende Arbeit geleistet.»

«Entscheidend ist, dass die Betroffenen selber mitreden können
(Claudia Wyer-Niederberger)
Das heutige Angebot stimmt also?
«Die Integration in Schule, Beruf und Arbeit macht ständig Fortschritte. Jede Situation liegt anders. Entscheidend ist, dass die Direktbetroffenen selber mitreden – und auch etwas ausprobieren können.»

In der Arbeitswelt dürfte das schwierig sein.
«Oft müssen unsere Klienten die Arbeit annehmen, die da ist.
Die Auswahlmöglichkeit ist begrenzt. In Städten und Agglomerationen hat es sicher mehr Möglichkeiten als bei uns imOberwallis.»

«Alle wollen wertgeschätzt werden»
Was wünschen Sie sich von potenziellen Arbeitgebern?
«Das Bewusstsein, dass Arbeit für Menschen mit Behinderung extrem wichtig ist. Eine sinnvolle Tätigkeit ist für deren Selbstwert zentral. Alle wollen wertgeschätzt werden und ihren Beitrag an eine funktionierende Gesellschaft leisten. Ich kann also Arbeitgeber nur ermutigen, Beschäftigungen anzubieten und Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben.»

Was können Sie dabei tun?
«Gute Informationsarbeit leisten, Berührungsängste abbauen. Und den Chefs empfehlen, nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben. Es braucht eine permanente Gesprächsbereitschaft. Dabei bin ich mir bewusst, dass Menschen mit Behinderung nicht die Leistung erbringen können wie gesunde Arbeitnehmer. Betroffene Arbeitnehmer sind in den meisten Fällen aber mit grossem Engagement an ihrer Arbeit. Ihr Handicap verlangt von ihnen dabei zusätzliche Energie – eine enorme Leistung.»

Wo sehen Sie einen Gewinn für den Arbeitgeber?
«Die Erfahrung zeigt, dass es ein besonderes Engagement braucht. Es kann aber auch sehr dankbar und erfüllend sein, jemand konkret zu helfen. Der Umgang mit handicapierten Menschen muss letztlich gelebt werden. Was man nicht wegdis- kutieren kann. Psychische Einschränkungen sind im Arbeitsalltag schwieriger zu handhaben als physische.»

«Die Gesellschaft reagiert recht offen»
Was liesse sich verbessern?
«Arbeitgeber, die Menschen mit einer Behinderung persönlich kennen, sind für das Thema offener. Junge Menschen auch. Deshalb wünsche ich mir, dass bereits in der Schule mehr getan wird. Ein jährlicher Thementag wäre ein grosser Fortschritt. Ich stelle auch fest, dass
Kindern mit Behinderungen geholfen wird, dagegen die Bedürfnisse von Kindern mit z. B. psychisch erkrankten Eltern oft vergessen werden.»

Wie benimmt sich die Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit Behinderung?
«Recht offen. In unserer Region hilft da sicher die Überschaubarkeit. Man kennt einander. Die Barrieren für Kontakte liegen tiefer als etwa in der Anonymität einer Stadt.»

Ist die Unterstützung seitens der Politik genügend?
«Der gesetzliche Rahmen steht. Der Kanton hilft im Rahmen seiner Möglichkeiten. Die Sozialarbeit der SMB hat hier relativ gute Konditionen. Können wir ein Anliegen gut begründen, werden wir wenn möglich unterstützt. Für dieses Verständnis verdient die zuständige Staatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten ein grosses Lob. Ich hoffe, dass sich das durch Sparübungen nicht verändert. Rein materiell gesehen geht es Menschen mit einer Behinderung in den meisten Fällen besser als Sozialhilfebezügern.»

«Das Wallis nimmt die Betreuung ernst»
Wo steht das Wallis bei der Behindertenbetreuung im nationalen Vergleich?
«Unser Kanton nimmt den Umgang mit Menschen mit Behinderung ernst. Andere Kantone sehen diese Arbeit noch weniger prioritär.»

Und wo steht die Schweiz international?
«Es gibt sicher noch fortschritt- lichere Länder. In Holland etwa ist das Thema Selbstbestimmung sehr wichtig, in einigen europäischen Ländern können die in der UN-Behinderten rechtskonvention definierten Rechte sogar eingeklagt werden. Die Schweiz wartete bis zur Unterschrift der Konvention länger. Nun geht es an die Umsetzung, wozu eine nationale Koordination sicher sehr hilfreich wäre.»

Interview: tr

«Tag der Menschen mit Behinderung»
Der 3. Dezember gilt international als Tag, an dem die Gesellschaft an die besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung erinnert wird. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass Würde, persönliche Rechte und Wohlergehen jeden Menschen betreffen. Der künftige Fokus liegt auf der beruflichen Eingliederung. Gemäss Bundesamt für Statistik sind 72 Prozent der Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt aktiv. Bei den Menschen ohne Behinderung macht dieser Anteil 85 Prozent aus.
Der «Tag der Menschen mit Behinderung» wurde von der UNO am 3. Dezember 1992 initiiert und 2003 erstmals gefeiert. Schon 1981 war von der UNO das Jahr der Behinderten ausge- rufen worden. Seit 2006 organisiert im Oberwallis eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Insieme Oberwallis, Atelier Manus, Schlosshotel Leuk, der Stiftung Emera und der HES-SO jeweils Aktivitäten zu diesem Tag

Das Recht auf Arbeit
Ein entscheidendes Anliegen der Menschen mit Behinderung
ist das Recht auf Arbeit. Dieses wird ihnen in Artikel 27 («Arbeitund Beschäftigung») der UN-Behindertenrechtskonvention zugesprochen. Die Vertragsstaaten, darunter die Schweiz, verpflichten sich, Diskriminierungen in der Arbeitswelt gegenüberMenschen mit Behinderung zu verbieten. Dazu zählt unter anderem das gleiche Entgelt für gleichwertige Arbeit.
1992 wurde in der Schweiz ein Behindertengesetz geschaffen, zehn Jahre später folgte das Behindertengleichstellungsgesetz. Für die Umsetzung sind seit 2008 weitgehend die Kantone verantwortlich. Der Bund hat diese Aufgabe im Rahmen der Neugestaltung des NFA an die Kantone delegiert.
Das «Recht auf Arbeit – auch mit Behinderung», ist und bleibt eine theoretische Forderung. In der Praxis fehlen oft die Beschäftigungsmöglichkeiten. Dies trotz Unterstützung durch verschiedene soziale Hilfseinrichtungen. In einer zentralen Funktion ist dabei die Invalidenversicherung. Im Oberwallis werden Menschen mit Behinderung durch Institutionen wie Emera, Insieme Oberwallis, Atelier Manus, Fux campagna und Schlosshotel unterstützt. Massgeblich bleibt die Bereitschaft der Arbeitgeber, auf dem ersten Arbeitsmarkt Menschen mit Behinderungen eine Chance zu geben.

Gesellschaft / Visper Weihnachtsmarkt zugunsten behinderter Mitmenschen Im Zeichen der Solidarität VISP Die 29. Auflage des Visper Weihnachtsmarktes fand zugunsten behinderter Mitmenschen statt. Jung und Alt traf sich auf dem Kaufplatz in Visp. Der Erlös des nicht kommerziellen Marktes fliesst vollumfänglich Behindertenorganisationen im Oberwallis zu.

Die Stimmung war herzlich, die Solidarität greifbar. Besucherinnen und Besucher kamen aus dem ganzen Oberwallis. Das OK dankt im Namen der Oberwalliser Behinderten aus gan- zem Herzen. Der OK-Präsident des traditionellen, nicht kommerziellen Weihnachtsmarktes, Hans Keller, zeigte sich am Samstagabend zufrieden: «Die Stimmung am Markt war wie immer sehr herzlich, das Wetter ideal. Da es ja um einen guten Zweck geht und sich viele Menschen engagieren, entsteht so etwas wie eine grosse Familie. Ich danke allen Besucherinnen und Besuchern, die mit ihrer Anwesenheit behinderte Mitmenschen in grosszügiger Weise unterstützt haben. Der Markt ist einfach etwas
Besonderes!»

Seit vielen Jahren dabei
Ob am Kuchenstand, als Kuchenlieferantin, Raclettestreicher, Polentaschöpferin, Marronibrater, Bastlerin, Lismerin oder Geschirrabräumerin, Abzeichenverkäufer, Kranzverkäuferin, Kranzmacherin – viele ungenannte Menschen arbeiten Jahr für Jahr in einer bestimmten Funktion am Markt. Ein grosses Gemein- schaftswerk, geprägt von Solidarität mit den behinderten Mitmenschen. Der OK-Präsident Hans Keller: «Mein Dank geht auch an die zahl- reichen Musik- und Unterhaltungsgruppen sowie an die vielen Helferinnen und Helfer sowie an die Sponsoren.» wb

Source: WalliserBote