Behindertes Stimmrecht

(Neue Zürcher Zeitung)

Mehrere tausend Schweizer dürfen wegen einer Geistesschwäche weder wählen noch abstimmen


Wer darf abstimmen? Die Praxis im Bund und in den meisten Kantonen schliesst geistig Behinderte heute aus.
ANNICK RAMP / NZZ

Wer nicht urteilsfähig ist, hatauch keine politischen Rechte. So sieht es die Bundesverfassung vor. Doch diese Regelung steht im Widerspruch zu völkerrechtlichen Bestimmungen. Ein Kanton könnte seine Praxis nun bald anpassen. LUKAS LEUZINGER

Was braucht es, um politisch entschei- dungsfähig zu sein? Die Bundesverfassung gibt auf diese Frage eine einfache Antwort: Erwachsene Schweizer, die «nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt» sind, erhalten das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene. Im einschlägigen Gesetz dazu heisst es: «Personen, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter um fassender Beistandschaft stehen», sind von den politischen Rechten ausge- schlossen. Betroffen davon sind mehrere tausend Schweizer Bürger.

Diese Regelung ist allerdings umstritten. Denn die Uno-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, welche die Schweiz 2013 ratifiziert hat, verpflichtet die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen politischen Rechte haben wie andere Bürger. Auch das erste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert Behinderten die politischen Rechte; dieses Protokoll hat die Schweiz allerdings nicht ratifiziert.

Den Einzelfall prüfen Die Interessenverbände der Behinderten fordern, dass die gesetzlichen Grundlagen angepasst werden, so dass sie den völkerrechtlichen Vorgaben ent- sprechen. «Hinter dem pauschalen Entzug des Stimmrechts steht die stereotype Vorstellung, dass jemand unter Vormundschaft auf keinen Fall einen politischen Entscheid fällen kann», kritisiert Caroline Hess-Klein, Leiterin der Abteilung Gleichstellung des Dachverbands Inclusion Handicap. «Eine Person mit psychischer Krankheit kann vielleicht ihre Rechnungen nicht selber bezahlen, aber das heisst nicht automatisch, dass sie nicht in der Lage wäre, sich eine politische Meinung zu bilden.» Es bedürfe daher zumindest einer individuellen Prüfung.

Der Uno-Ausschuss, der für die An-wendung der Behindertenrechtskonvention zuständig ist, geht noch weiter.

Er stellt sich auf den Standpunkt, dass jegliche Einschränkung des Stimmund Wahlrechts unzulässig ist. Der für die Auslegung der EMRK verantwortliche Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vertritt eine differenziertere Haltung: In einem Urteil anerkannte er 2010, dass es unter gewissen Umständen zulässig sei, Personen mit geistiger Behinderung von den politischen Rechten auszuschliessen. Es brauche aber auf jeden Fall eine individuelle Prüfung, ob eine Person tatsächlich nicht fähig ist, sich eine politische Meinung zu bilden. Im konkreten Fall rügten die Strassburger Richter daher den ungarischen Staat, weil er Bürger, die unter Vormundschaft stehen, pauschal vom Wahlrecht ausschloss. In der Folge änderte Ungarn 2012 seine Verfassung; diese schreibt seither eine Ein- zelfallprüfung durch ein Gericht vor, sollen einer Person die politischen Rechte entzogen werden.

Eine Einzelfallprüfung birgt Herausforderungen. Wie soll man konkret feststellen, ob eine Person politisch urteilsfähig ist oder nicht? FDP-Ständerat Andrea Caroni (Appenzell Ausserrhoden) gibt gegenüber der NZZ zu bedenken, dass in der Schweiz auch Minderjährige pauschal vom Stimmrecht ausgeschlossen werden, obschon wohl auch manche unter 18-Jährige durchaus die erforderliche Urteilsfähigkeit mitbringen, um sich an Abstimmungen zu beteiligen. Er sei aber offen für Vorschläge, wie bei Personen unter umfassender.

Beistandschaft mit vertretbarem Aufwand beurteilt werden könnte, ob die Urteilsfähigkeit für politische Belange gegeben sei oder nicht. Skeptisch gegenüber der Forderu ung der Behindertenverbände ist auch Nationalrätin Ruth Humbel (cvp., Aargau). Die heutige Regelung ist aus ihrer Sicht angemessen. «Wer nicht fähig ist, seine eigenen Angelegenheiten zu erledigen, also Rechte und Pflichten für sich selber wahrzunehmen, der ist auch nicht in der Lage, dies für den Staat und die Sozialgemeinschaft zu tun», sagt sie. Während der Bund für die politischen Rechte auf nationaler Ebene zuständig ist, können die Kantone in ihren Angelegenheiten eigene Regeln vorsehen. Beim Ausschluss von geistig Behinderten vom Stimmrecht übernehmen sie indes grösstenteils die bundesrechtlichen Bestimmungen. Ausnahmen sind die Kantone Waadt, Tessin und Genf, die eine Einzelfallprüfung kennen. Der Kanton Genf könnte nun sogar noch weiter gehen: Im Parlament ist ein Vorschlag von linken Abgeordneten hängig, der den Ausschluss von geistig Behinderten vom Stimmrecht ersatzlos streichen will. Die Regierung hat sich offen gegenüber dem Anliegen gezeigt; als Nächstes wird die zuständige Parlamentskommission darüber befinden.

Unterstützung nötig Bei der Gleichstellung von Behinderten geht es allerdings nicht allein um die rechtlichen Grundlagen, wie Andreas Rieder, Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, zu bedenken gibt. Sollten Menschen mit geistiger Behinderung die politischen Rechte erhalten, müsste man auch abklären, ob und in welcher Form sie Unterstützung benötigten, und diese zur Verfügung stellen. Laut Rieder geht es dabei auch um die unterstützte Entscheidungsfindung. Der Interessenverband Inclusion Handicap verlangt, dass das Abstimmungsbüchlein in leicht verständliche Sprache übersetzt wird. Eine Forderung, die wohl nicht nur im Sinne von Personen mit geistiger Behinderung wäre

Bundesrat prüft Erleichterungen

sprache für Gehörlose oder Audio-Angebote für Blinde. Behinderten verbände fordern aber weitere Schritte wie den Abbau von baulichen Hürden, beispiels weise in Urnenlokalen und in Rathäusern, oder die Übersetzung des Abstimmungsbüchleins in leichte Sprache. Diese ist für Gehörlose wie auch für Personen mit Lernschwäche besser verständlich. Der Bundesrat wird sich voraussichtlich im Frühling 2018 in seinem Bericht zur Behindertenpolitik mit dem Thema beschäftigen.

Gemäss Zahlen des Bundes leben in der Schweiz rund 470 000 Menschen mit einer schweren Behinderung. Unter ihnen sind viele, die das Stimmund Wahlrecht besitzen – die Ausübung dieses Rechtes ist allerdings oft hürdenreich. In der Wintersession hat der Ständerat mit einem Postulat den Bundesrat dazu ver- pflichtet, zu prüfen, wie die Ausübung des Stimmund Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen erleichtert werden kann. Zwar gibt es bereits heute Erleichte- rungen wie Erklärvideos in Gebärden