(Neue Zürcher Zeitung)
Der Gemeinderatskandidat Islam Alijaj
will das Thema Behinderung sexy machen
Islam Alijaj leidet seit seiner Geburt an einer Zerebralparese. Das hält ihn nicht davon ab, für die SP für den Zürcher Gemeinderat zu kandidieren.
Eigentlich sprach im Leben von Islam Alijaj wenig für eine Laufbahn in der Zürcher Politik. Der gebürtige Kosovare leidet aufgrund einer Zerebralparese seit seiner Geburt an einer Sprachstörung und einer eingeschränkten Bewegungsfreiheit. Manchmal fragt er sich selber:
«Wie komme ich bloss auf diese Idee?» Doch zwei Schlüsselmomente in Alijajs Biografie führten dazu, dass sein Name heute auf der SP-Kandidatenliste für die Gemeinderatswahlen steht. Der erste dieser Momente machte Alijaj bewusst, dass er anders ist als die anderen. Im Teenageralter arbeitete er an Hausaufgaben aus der Sonderschule. Neben ihm sassen sein jüngerer Bruder und seine Cousins, ebenfalls mit Schularbeiten beschäftigt. Alijaj blickte auf die Arbeitsblätter und stellte fest: Mit 16 Jahren löste er Matheaufgaben für 12-Jährige. «Da habe ich eine Krise bekommen», sagt Alijaj rückblickend. Doch «Lomi», wie seine Freunde ihn nennen, liess sich nicht unterkriegen – im Gegenteil. Auf die Krise folgte ein Ent-wicklungsschub, der ihn für sein weiteres Leben prägen sollte.
Unbeirrte Hartnäckigkeit
Innert zwei Jahren holt er den Stoff von drei Schuljahren nach. Er gewinnt Selbstvertrauen, wird unabhängiger, lernt als Jugendlicher ohne Gehhilfe zu laufen. Denn: «Wie will man mit einem Rollator eine Frau kennenlernen?» Die Entwickung geschieht nicht ohne Druck von aussen. «Man wollte mich in eine geschützte Werkstatt versorgen. Ich wusste: Wenn ich jetzt nicht Gas gebe, komme ich nicht mehr heraus aus diesem Kreis.» Stattdessen absolviert er gemeinsam mit Jugendlichen ohne Behinderung eine KV-Lehre. Es ist die Zeit, in der Alijaj eine unbeirrte Hartnäckig keitentwickelt, die beinahe trotzig wirken kann. Er merkt, dass jeder sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen kann. Und er lernt, seinen Körper zu akzeptieren: «Mir ist bewusst, dass ich in einem Gefängnis gefangen bin», sagt er heute. «Doch meine Schwäche, meine Behinderung, ist zu meiner Stärke geworden.»
Bei seiner Geburt in Kosovo hatte er Glück im Unglück, wie er es knapp 32 Jahre später ausdrückt. Ein Sauerstoffmangel führte zu Schäden im Gehirn. Die kognitiven Fähigkeiten wurden nicht beeinträchtigt, doch wird er zeitlebens an einer Sprach- und Bewegungsstörung leiden. Als Einjähriger kam er zusammen mit der Mutter und seinen zwei älteren Brüdern in die Schweiz, wo der Vater seit den achtziger Jahren als Saisonnier gearbeitet hatte. Albisrieden wurde die neue Heimat der Familie Alijaj.
Verhindertes Studium
Der zweite Schlüsselmoment brachte Alijaj in die Politik. Nach seiner KV-Lehre wollte er ein Studium beginnen. Wirtschaft oder Wirtschaftsinformatik, so sein Plan. Mit einem Hochschulabschluss und entsprechenden Hilfestellungen hätte er eine Chance im ersten Arbeitsmarkt gehabt, war der damals 22-Jährige überzeugt. Doch Vertreter seiner Lehrfirma und der Invalidenversicherung überredeten ihn, dass eine IV-Rente und eine geschützte Arbeitsstelle besser für ihn seien, erinnert sich Alijaj. Erst im Nachhinein erfuhr er, dass Betriebe für jeden besetzten ArbeitsplatzBeiträge von der IV bekommen. Zudem hängt die Höhe der IV-Rente vom Ausbildungsgrad ab. Alij aj fühlte sich hintergangen.
«Meine Schwäche, meine Behinderung, ist zu meiner Stärkegeworden.»
Islam Alijaj Kandidat der SP für den Gemeinderat.
Weder sein Arbeitgeber noch die Invalidenversicherung hätten Inteesse an seinen Ausbildungsplänen gehabt, sagt er. «Finanzielle Fehlanreize aufseiten der Institutionen haben mich um mein Studium gebracht», ist Alijaj überzeugt. «Dieses Ereignis hat mich schlagartig politisiert.»
Mit derselben Hartnäckigkeit, die ihn von der Sonderschule zum KV-Abschluss gebracht hat, verfolgt er fortan eine politische Karriere. Sein Hauptaugenmerk richtet er auf die Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung. Mit seinen Frontalangriffen gegen Behindertenorganisationen machte er sich dabei nicht nur Freunde. Diemgrössten Hürden für eine politische Tätigkeit von Behinderten sieht er in den fehlenden Strukturen und im mangelnden Bewusstsein der Leute. Man müsse akzeptieren, dass Politikerinnen und Politiker mit einer Behinderung Unterstützung brauchten, um eine faire Chance im Wettbewerb zu haben. Alijaj selbst hat eine Verbal-assistentin, die bei Anlässen seine Reden vorliest. Zudem spüre er die Unterstützung der Parteileitung. Ganz gleichwertig behandelt fühlt er sich trotzdem nicht. Bei einer Delegiertenversammlung wollte er beispielsweise neben seiner Assistentin am Rednerpult stehen. Wegen einer Treppe konnte er die Bühne aber nicht erklimmen.
«Das Thema Behinderung ist immer noch nicht sexy. Ich will es endlich sexy machen», sagt Alijaj, der sich als Zugpferd für eine gesellschaftliche Verändrung sieht, die durchaus vergleichbar mit der Emanzipationsbewegung der Frauen sei. Behinderte Menschen gälten weitherum als arm, hilflos und asexuell. Andiesem Bild will er rütteln. Spricht er über sein eigenes politisches Engagement, fallen reihenweise Wörter wie «Erfolg», «Leistung» und «Ambitionen». Doch seine Zielstrebigkeit wirkt uneigennützig, er denkt über die Grenzen der eigenen Biografie hinaus. «Mit meiner eigenen Karriere ist noch nichts erreicht», sagt Alijaj. Für eine Gleichstellung von Menschen mit Behinderung müsse sich die gesamte Gesellschaft wandeln. «Alleine schaffe ich das nicht.»
Tabuthema Sexualität
Neben seiner politischen Tätigkeit ist Alijaj Initiator eines Fördervereins, der Menschen mit Behinderung bei der Verwirklichung ihrer Karriereträume helfen soll. Die Suche nach Investoren ist in vollem Gang. Energie für diese Doppel-belastung tankt er bei seiner Familie. Als Vater von zwei gesunden Kindern sorge er mit seiner Behinderung immer wieder für verwunderte Blicke. «Das Thema Sexualität und Behinderung ist nach wie vor ein Tabu», sagt er. «Ich bin jetzt schon gespannt auf die Reaktionen beim ersten Elternabend.»
Politik sei ein Strategiespiel, sagt Alijaj, der Emmanuel Macron (für seine Mentalität und sein politisches Geschick), Pascale Bruderer (für ihre Offenheit und ihre kommunikativen Fähigkeiten) oder Alfred Escher (für seine Visionen) als politische Vorbilder bezeichnet. Auch wenn er selber dem Stereotyp des Reden schwingenden, aal- glatten Politikers nicht entspricht: Hinter den hellwachen Augen und dem spitzbübischen Lachen steckt ein Politiker durch und durch. Alijaj ist ein kritischer Geist, der seine Ansichten mit Nach druck vertritt. Er hat keine Probleme anzuecken – auch nicht in der eigenen Partei. Sein Selbstvertrauen und seine Direktheit sind entwaffnend. Ohne zu zögern, fordert er für den Zürcher Gemeinderat eine Behindertenquote von 10 bis 20 Prozent. Er ist Realist genug, um den Wunschtraum als solchen zu er- kennen. Aber auch dickköpfig genug, um ihn trotzdem auszusprechen.