(Paracontact / deutsche Ausgabe)
Gabi Bucher
Joe A. Manser gründete 1981 im UNO-Jahr der Behinderten zusammen mit zwei Architektenkollegen die «Schweizer Fachstelle für behindertengerechtes Bauen» (neuer Name seit 2017 «Hindernisfreie Architektur- Die Schweizer Fachstelle»). Als Trägerin errichteten sie die «Stiftung zur Förderung einer behindertengerechten baulichen Umwelt», die unter Aufsicht des Bundes steht. Der Stiftungsrat setzt sich zu mindestens einem Drittel aus Betroffenen sowie weiteren Persönlichkeiten aus den Bereichen Architektur, Rehabilitation, Sozialwissenschaften und Behörden zusammen.
«Die Fachstelle fördert eine konsequent behindertengerechte Bauweise in der Schweiz. Als nationales Kompetenzzentrum für hindernisfreie Architektur befasst sie sich mit sämtlichen Belangen in diesem Fachbereich. Dazu zählen neben Zielsetzungen für die räumliche Gestaltung auch visuelle und akustische Anliegen. Ergänzend zum Engagement auf nationaler Ebene unterstützt die Schweizer Fachstelle ein Netz von kantonalen Beratungsstellen, um die Interessenvertretung für das Bauen vor Ort sicherzustellen.»(www.Hindernisfreie-Architekturch)
Herr Manser, was hat Sie dazu bewogen, die Schweizer Fachstelle für behindertengerechtes Bauen zu gründen? Als junger Rollstuhlfahrer infolge Polio mit zwei Jahren hatte ich das Gefühl, die vielen baulichen Hindernisse und Barrieren seien gottgegeben und wir müssten diese als ärgerliches Schicksal akzeptieren. Mit der Ausbildung zum Architekten habe ich dann gemerkt, dass durchaus anders gebaut werden könnte – wenn man wollte – und dass es sogar oft nur wenig dazu brauchen würde. 1979, an einem Hausfest, wo natürlich nichts rollstuhlgängig war, habe ich mit Susanne Kreis und Matthias Hürlimann, zwei nichtbehinderten Architekten, über die Thematik diskutiert. Hürlimann erzählte, dass er an der ETH an einem Forschungsprojekt über behindertengerechtes Bauen gearbeitet hatte, welches nun in einer Schublade liege. Susanne Kreis wiederum hatte mit der Thematik ebenfalls Erfahrungen als Begleiterin in Ferienlagern für Menschen mit Behinderung. Wir waren uns einig, dass etwas Konkretes gemacht werden muss, und so haben wir uns für ein erstes Brainstorming getroffen und die Sache kam ins Rollen.
Und wie sind Sie vorgegangen?
Juristen im Rollstuhl wie Dr. Victor Schultes hatten sich 1980 ebenfalls mit dem Thema beschäftigt und die Kantone zu den einschlägigen Bauvorschriften befragt. Wir haben noch 120 Schweizer Städte miteinbezogen. Aus diesen Umfragen hat sich ergeben, dass es in den Kantonen unterschiedlichste Vorschriften gab, von guten über weniger gute bis hin zu «Gummiparagrafen». Jetzt musste aus den «toten Buchstaben» etwas Konkretes geschaffen werden. Wir haben festgestellt, dass es ein Kompetenzzentrum braucht, eine Stelle, die sich der Thematik professionell eine solche Stelle. Das war kein Zufall, denn der damalige annimmt. Mit einem Konzept auf nur gerade fünf Seiten Baudirektor Godi Bürkie war selber stark gehbehindert! gelangten wir an verschiedene Organisationen und stiessen auf viel Interesse und Unterstützung. Die Finanzierung für die Gründung war dann relativ schnell gefunden.
Und wer sollte diese Stelle führen?
Für uns stellte sich die Frage, ob wir nun lediglich den kleinen Finger geben wollten oder die ganze Hand. Wir waren uns einig, dass wir eine solche Fachstelle selber auf die Beine stellen möchten, und zwar so, dass sie professionell wird. Matthias Hürlimann hat beim Aufbau mitgeholfen und ist heute noch im Stiftungsrat. Susanne Kreis hatte 1982 bei einer Reise nach Kanada geforscht, was dort gemacht wird in Sachen hindernisfreies Bauen. Dabei hat sie einen Architekten im Rollstuhl kennengelernt, der in Kanada auch diesbezüglich engagiert war. Später hat sie unsere Fachstelle verlassen, mit dem sympathischen Paraplegiker in Kanada eine Familie gegründet und in einer ähnlichen Fachstelle am Abbau von kanadischen Hindernissen gearbeitet. So habe ich ab 1992 die Fachstelle alleine geleitet und mit neuen Mitarbeitenden weiter ausgebaut. Welches waren die Aufgaben der Fachstelle? Einerseits ging es darum, Normen und Merkblätter zu erstellen, andererseits mehr Lobbying zu betreiben. Als früheres Mitglied der JUSO hatte ich wertvolle Erfahrungen im Organisieren gesammelt (lacht). Wir haben Richtlinien erarbeitet, welche später in die Schweizer Normen eingeflossen sind. Das meiste, was sich heute in Sachen hindernisfreiem Bauen in den SIA-Normen (Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein) und den VSS-Normen (Verein
Schweizer Strassenfachmänner) findet, ist in unserer Fachstelle erfunden worden, die «Software» kommt quasi von uns.
Papier allein bringt aber nichts und ein Schweizer Kompetenzzentrum allein reicht nicht. Bauen liegt in der Kompetenz der Kantone und jeder Kanton funktioniert anders. Es war uns bewusst, dass wir nicht von Zürich aus steuern und überwachen können, ob z. B. die Normen in Genf, Bern oder im Tessin eingehalten werden. Darum war unser Ziel, zur Ergänzung der Schweizer Fachstelle regionale Betungsstellen zu kreieren. Der Kanton Bern z. B. hatte bereits Im Jahr 1982 organisierten wir ein erstes Treffen mit den bestehenden Beratungsstellen und Interessierten, damals kamen zirka 10 Personen. Heute gibt es in jedem Kanton eine Beratungsstelle. Diese sind vor Ort verankert und organisiert. Oft sind sie bei Sektionen von Procap oder Pro Infirmis angegliedert. Diese Stellen kümmern sich um die Beratung und Umsetzung vor Ort, während das Erstellen von Planungsgrundlagen weiterhin ein Schwerpunkt unserer Schweizer Fachstelle bildet.
Welches sind die wichtigsten Anliegen heute?
Wir müssen immer wieder einzelne Details neu festlegen. Die Zeiten ändern sich, dem müssen wir Rechnung tragen. Unser Massstab war anfänglich der Handrollstuhl. Mit der steigenden Zahl von Elektrorollstühlen mussten wir einige Anforderungen neu überprüfen. Ein anderes Beispiel: Bis vor 20 Jahren war es wichtig, zu wissen, wie gross eine Telefonkabine sein muss, das hat sich durch die Mobiltelefone erledigt. Dann müssen in einigen Kantonen dringend die Bauvorschriften verbessert werden. Die Standards wären vorhanden, einige Kantone haben gute gesetzliche Vorgaben. Das grösste Problem ist und bleibt die Umsetzung. Die Gesetze und Vorschriften werden teilweise nich ernst genommen. Ein Informationsproblem kann es nicht sein, alle Architekten können sich diese heutzutage problemlos beschaffen. Aber die Planenden scheuen den Denk-und Planungsaufwand oder sträuben sich, weil sie finden, die Hindernisfreiheit beeinträchtige die Ästhetik. Unser Hauptproblem ist meist die Akzeptanz, daran müssen wir arbeiten. Da braucht es Lobbying. Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich immer noch im Zürcher Parlament bin (Manser ist seit 28 Jahren im Gemeinderat Zürich).
Wo sehen Sie die wichtigsten Entwicklungen in den letzten Jahren?
Neben kontinuierlichen Verbesserungen bei den kantonalen Bauvorschriften über die Jahre hinweg war vor allem das Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) 2004 ein grosser Schritt. Weiter war es in Sachen Akzeptanz ein grosser Schritt, dass viele Planungsrichtlinien, welche wir im Laufe der Jahre entwickelt haben, im Jahr 2009 in die SIA-Norm 500 des Schweizerischen Ingenieur und Architekten-Verbands und 2015 in die VSS-Norm 640 075 des Vereins Schweizer Strassenfachmänner eingeflossen sind. Damit gehört hindernisfreies Bauen heutzutage zu einem anerkannten Baustandard. Die Architekten und Planer wissen, dass sie diese Normen einhalten müssen, es ist jetzt nicht mehr nur ein Wunschzettel der Behindertenorganisationen. Das BehiG selber beinhaltet zwar keine Bauvorschriften und das Bauen steht immer noch in der Hoheit der Kantone. Aber die Grundgebote des
BehiG dürfen in den kantonalen Regelungen nicht unterschritten werden. Das hat sich vor allem bei Bauten mit Publikumsverkehr positiv ausgewirkt. Beim Wohnungsbau gibts kantonal leider immer noch sehr grosse Unterschiede, weil dort auch das BehiG schwach ist.
Mit «Bauten mit Publikumsverkehr» meinen Sie öffentlich zugängliche Bauten?
Ich bevorzuge den Ausdruck «mit Publikumsverkehr», das bringt automatisch zum Ausdruck, dass ein Zugang für alle gemeint ist. Mich interessiert nicht, ob das öffentliche Steueramt zugänglich ist, sondern ob dies bei jedem Restaurant oder Einkaufsladen der Fall ist. Laut BehiG müssen alle
Bauten mit Publikumsverkehr zugänglich gemacht werden, nicht nur Neubauten, sondern auch alle Umbauten im Rahmen der Verhältnismässigkeit. Als es darum ging, was als verhältnismässig gilt, habe ich 2002 in National und Ständerat intensiv lobbyiert. Nach vielen Diskussionen darüber, ob man das BehiG nur bei grossen Umbauten anwenden muss, machten wir einen konkreten Vorschlag, um die Verhältnismässigkeit für sämtliche, d. h. auch für kleine Umbauten, festzulegen. Nach einigem Feilschen um die konkreten Werte, wo auch die damaligen Nationalräte Guido A. Zäch und Marc F. Suter mitgeholfen haben, hat sich das Parlament geeinigt, dass Kosten für bauliche Anpassungen bis zu 200/o der Bausumme oder 50/0 des Gebäudewertes als zumutbar gelten! Es hilft sehr, dass dies heute so im Gesetz verankert ist, so muss man nicht bei jedem Umbauprojekt neu diskutieren, was als verhältnismässig gilt. Das ist einer der erkämpften Meilensteine, auf den ich besonders stolz bin.
Worauf sind Sie sonst noch stolz?
Auf die Schweizer Fachstelle an sich und auf all das, was wir damit seit 35 Jahren bewirken konnten. Ganz wichtig war und ist nach wie vor das Lobbying. Als vor Jahren z. B. der Baudirektor des Kantons Zürich neu gewählt wurde, haben wir ihn zu einer Tagung eingeladen und um ein Grusswort gebeten. Er ist gekommen, hat auch mitdiskutiert, das wirkt sich für unser Thema bis heute positiv aus. Auch beim öffentlichen Verkehr, der als Thema eigentlich nicht zu unseren Hauptaufgaben gehört, haben wir einiges erreicht. Für einen brauchbaren Behindertentransport habe ich 1980 als Samichlaus im Rollstuhl den Zürcher Gemeinderat aufgesucht und dort klargemacht, dass die Stadt einen Behindertentransport bereitstellen muss, da 1981 das UNO-Jahr der Behinderten sein werde. 1982 erhielten wir die ersten finanziellen Unterstützungsbeiträge und 1991 wurde dann die Stiftung Behinderten-Transporte Zürich BTZ gegründet, wo ich heute noch im Stiftungsrat bin.
Sie werden bald pensioniert.
Was mach ein Joe Manser dann?
Ich höre nicht ganz auf mit meinem Engagement, habe aber bereits mit Abbauen angefangen. Ich verbleibe noch in der Geschäftsleitung unserer Fachstelle und reduziere mein Pensum von 90% auf 40%. Unsere langjährige Mitarbeiterin, die Architektin Eva Schmidt, übernimmt meine Nachfolge. Sie ist mit ihrer breiten Erfahrung hervorragend dafür quaifiziert. Stellvertreterin und zuständig für die französische
Und was machen Sie mit den restlichen 50%?
Ausschlafen (lacht). Nein, ich werde mich vor allem um Dinge kümmern, die liegen geblieben sind, weil wir keine Zeit hatten dafür. Ein Problem z. B. sind die EU-Normen. Die hebeln je länger, je mehr die Schweizer Normen aus. So hat die Post z. B. neu diese «My Post 24»-Automaten, von welchen man Pakete und eingeschriebene Briefe rund um die Uhr empfangen und versenden kann. Diese sind suboptimal für Rollstuhlfahrer und für Blinde nicht benutzbar. Ein Vorstoss wurde gemacht, um die Bedienung dieser Apparate auf Rollstuhlhöhe zu bringen. In der Zwischenzeit ist aber eine neue europäische Norm für Automaten in Kraft getreten. Darin wird eine Bedienungshöhe von 1,20m erlaubt. Bei uns in der Schweiz gelten aber 1,10 m als Maximum. Oder früher hatten wir eine Schweizer Norm für Lifte. Heute gilt auch in der Schweiz die europäische Lift-Norm, und dort wäre einiges zu verbessern. Die europäischen Normen werden mehr und mehr bestimmend, z. B. auch bei den Eisenbahnen. Bis jetzt hatten wir nicht genug Kapazität, um da einzuwirken. Vielleicht werde ich nun vermehrt an
Sitzungen zu diesen Themen in Brüssel, Madrid oder Wien teilnehmen und dies gleich mit ein paar Tagen Ferien verbinden. Aber auch in der Schweiz werde ich mich gewissermassen als Aussenminister der Fachstelle beim einen oder anderen Projekt noch engagieren. Ich werde aber zeitlich nicht mehr so gebunden sein und trage weniger Verantwortung. In den Sommermonaten werde ich sicher vermehrt
bei mir um die Ecke am See in meiner Lieblingsbadi «Tiefenbrunnen» anzutreffen sein!
Die SPV führt seit Ja hren als eigenen Bereich das Zen- trum für hindernisfreies Bauen in Muhen AG (ZHB), wel- ches eine vom Bundesamt für Sozialversicherungen an- erkannte, private Fachstelle ist. Diese arbeitet mit Joe Manser bzw. der im Interview beschriebenen Fachstelle zusammen. Die acht Mitarbeitenden kümmern sich vor allem um Beratung, Planung, Projektmanagement sowie um die Dokumentation und Information externer Partner zu behindertenspezifischen Aspekten beim Bauen.Sie beraten Kunden in allen Regionen der Schweiz.