Blinde wollen elektronisch wählen

(Der Bund)

Sehbehinderte Menschen brauchen Hilfe, um wählen zu können, was rechtlich heikel ist.Blindenorganisationen fordern daher von Bund und Kantonen rasch eine Lösung. Doch die Vorschläge sind umstritten.Celine Rüttimann


Daniela Moser ist praktisch blind. Am Computer könnte sie unabhängig wählen. Foto: Adrian Moser

 

Wenn Wahlen anstehen wie am kommenden Wochenende, fängt der Papierkrieg auf dem Küchentisch an: Zuerst muss man sich durch das Werbematerial der Kandidierenden kämpfen, anschliessend Listen studieren,eventuell panaschieren und kumulieren. Für Daniela Moser aus Walkringen ein unmögliches Unterfangen. Sie ist auf andere angewiesen, die ihr die Flyer vorlesen und den Wahlzettel nach ihren Anweisungen ausfüllen.Die 26-jährige Bernerin ist eine von 320 000 Schweizerinnen und Schweizern, die wegen ihrer Sehbehinderung die schriftlichen Abstimmungsunterlagen nur mit fremder Hilfe ausfüllen können. Problematisch dabei:Die Helfer und Helferinnen erfahren zwangsläufig, wie die blinden Personen wählen.

«Dass das Stimm- und Wahlgeheimnis für sehbehinderte Menschen nicht garantiert wird,ist nicht rechtens», sagt Judith Hanhart von Agile.ch, der Organisation von Menschen mit Behinderungen. Denn dadurch wird die UNO-Behindertenrechtskonvention unterlaufen, welche die gleichberechtigte politische Teilnahme von Menschen mit Behinderungen vorschreibt.Die Schweiz hat die Konvention anerkannt und regelt per Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR), dass sich Menschen mit Behinderung beim Wahlvorgang durch Drittpersonen helfen lassen dürfen. Dadurch wird jedoch das Wahlgeheimnis nicht gewahrt. Ein Teufelskreis.

Elektronisch wählen

Damit das geschilderte Dilemma nicht mehr besteht, fordert Agile.ch die möglichst rasche Einführung von E-Voting. Die elektronische Abstimmung sei eine Voraussetzung dafür, dass Menschen mit einer Sehbehinderung ins politische Geschehen integriert würden, sagt Hanhart. Dass E-Voting daher ein enormes Potenzial habe, findet auch Daniela Moser. Seit sie fünf Jahre alt ist, ist sie auf dem linken Auge komplett blind. Mit dem rechten Auge kann sie nur noch Farben erkennen und zwischen hell und dunkel unterscheiden. Mithilfe der Sprachausgabe, die Texte vorliest, oder der Braillezeile, der Blindentastatur, könnte sie am Computer unabhängig wählen und abstimmen. Denn auch bei ihrer Arbeitsstelle beim Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) kann sie mit eben diesen Hilfsmittel nohne Probleme ihrer Arbeit nachgehen. Für blinde Menschen sei es nicht einfach, eine Stelle zu finden, so Moser. Arbeitgeber könnten sich oft nicht vorstellen,dass eine nichtsehende Person eine Tätigkeit genauso zufriedenstellend ausüben könnte wie eine sehende. «Bei den Arbeitgebern herrscht noch eine grosse Berührungsangst», sagt sie.

Dass sich vor allem sehbehinderte Menschen E-Voting wünschen,ist nachvollziehbar. Allerdings steht die elektronische Abstimmung am 20. Oktober nicht zur Verfügung. Bis Anfang 2019 wurde sie in zehn Kantonen angeboten. Wegen erheblicher Sicherheitslücken musste die Post ihr E-Voting-System im Frühjahr wieder vom Netz nehmen. Und auch der Kanton Genf hat im Juni sein System, das auch im Kanton Bern genutzt wurde, noch vorden eidgenössischen Wahlen zurückgezogen.

Heftige Kritik an E-Voting

Kritiker der digitalen Wahlurne sehen ihre Bedenken dadurch bestätigt: «Das vergangene E-Voting-Debakel der Post hat gezeigt, dass umfassende Sicherheitslücken auch bei künftigen Systemen nie ausgeschlossen werden können», sagt Jorgo Ananiadis, Co-Präsident der Piratenpartei Schweiz.

Da sich die Sicherheitslücken summierten, hat der Bundesrat im Juni entschieden, die elektronische Stimmabgabe vorerst nicht als ordentlichen Stimmkanal zuzulassen. Damit sehbehinderte Personen trotzdem unabhängig abstimmen können,fordert der SBV von der Landesregierung eine Lösung. «Das muss jedoch nicht die elektronische Stimmabgabe sein», sagt Olivier Maridor vom SBV. Dieser fordere primär, dass sehbehinderte Personen einen autonomen Zugang zum politischen Geschehen erhalten. Wie dieser aussehe, sei Sache der zuständigen Behörde, so Maridor.

Schablonen in Deutschland

Auch Ananiadis sieht die Lösung nicht bei der Einführung von E-Voting, sondern darin, die Abstimmungsunterlagen gesamtschweizerisch zu vereinheitlichen. Denn so könne man die Hilfsmittel der Sehbehindertenauf die Abstimmungsunterlagen abgleichen. «Solange die Unterlagen von Gemeinde zu Gemeinde verschieden sind, ist das aber nicht möglich», sagt er.

Dass es eine solche analoge Alternative zum E-Voting gibt, zeigtein Blick ins Ausland. Wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) auf seiner Internetseite schreibt, werden in Deutschland zum Beispiel Schablonen für Stimmzettel angeboten. Diese können auf die auszufüllenden Felder auf dem Wahlzettel gelegt werden. Ob die Schablonen jedoch ohne Hilfe angewendet werden können, ist fraglich. Judith Hanhart von Agile.ch sieht die Zukunft eher im E-Voting: «Menschen mit Behinderungen profitieren enorm von der Digitalisierung.»

Die Behörden haben noch keine Lösung parat. Die Bundeskanzlei habe Verständnis für die Anliegen des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes und suche mit den Kantonen nach Lösungen, teilt Ursula Eggenberger, Leiterin Sektion Kommunikation, mit.