Immer für die behinderte Tochter da

(Tages-Anzeiger)

Hilfe für Angehörige Über eine halbe Million Personen übernehmen in der Schweiz Betreuungsaufgaben in der Familie. Manche stossen dabei an ihre Grenzen.

Andrea Söldi

Konzentriert blickt Christine Stoffel (Name geändert) auf den Tisch mit dem fast vollendeten Puzzle. Sie nimmt ein Teilchenin die Hand und sucht nach der passenden Lücke. «Ich kann das gut», sagt sie immer wieder. Mithilfe ihres Stiefvaters Jso Mäder gelingt es der jungen Frau, das Puzzleteil richtig zu platzieren.«Dummer Hagel», stösst sie nun hervor und lacht verschmitzt.Als ihr Stiefvater sie liebevoll ermahnt, etwas freundlicher zu sein, legt sie gleich noch malsnach: «Sauhund!»

Die 36-Jährige hat eine diebische Freude an Schimpfwörtern,die sie irgendwo aufschnappt.Als Folge eines Sauerstoffmangels während der Geburt ist sie mehrfach körperlich und geistig behindert. Sie benötigt Hilfe bei fast allem: der Körperpflege,dem Essen, dem Toilettengang.Nachts hat sie häufig epileptische Anfälle. Die Eltern lassen die Tür zu ihrem Schlafzimmer offen, damit sie in solchen Fällen schnell bei ihr sind. Die Betreuung der behinderten Tochter nehme bestimmt 200 Stunden im Monat in Anspruch, schätzt ihre Mutter Astrid. «Ein eigenes Leben kann man vergessen.»

Ein Grossteil sind Frauen

Die Mäders aus Zürich leisten einen enormen Aufwand für ihre behinderte Tochter. Damit sind sie nicht allein. Gemäss einer Umfrage im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit von2019 übernehmen in der Schweiz nahezu 600’000 Personen Betreuungsaufgaben, der Grossteil davon sind Frauen. Angehörige leisten 80 Prozent der Betreuung, während auf professionelle Helferinnen nur 20 Prozent entfallen. Am stärksten eingebunden sind Menschen zwischen 50 und 60 Jahren, die typischerweise ihre betagten Eltern betreuen und gleichzeitig oft auch noch berufstätig sind. Bei denüber 80-Jährigen ist der häufigste Fall, dass ein Partner für den anderen sorgt. Doch auch etliche Kinder und Jugendliche kümmern sich als sogenannte «young carers» bereits um ihre Eltern, Grosseltern oder eine andere Person.

Die Betreuenden sind für ihre Angehörigen einfach da, beobachten ihr Wohlergehen, übernehmen finanzielle, administrative und Koordinationsaufgaben sowie andere Hilfestellungen im Alltag. Eine Minderheit leistet pflegerische oder sogar medizinische Hilfe. Die meisten von ihnen investieren weniger als 10 Stunden pro Woche. Mehr als 10 Prozent gaben in der Umfrage jedoch an, über 30 Stunden zu betreuen oder sogar rund um die Uhr wie die Mäders.

Betreuung findet oft im Stillen und Verborgenen statt. «Viele Angehörige kommen ziemlich an den Anschlag», sagt Patrick Hofer, Vorstandsmitglied der Angehörigen-Organisation Pro Aidants.«Einige übernehmen sich und werden selber krank.»Viele würden unter fehlender Wertschätzung leiden und seien schlecht informiert, wo sie sich Entlastung organisieren können, erklärt Hofer, der selbst während einiger Zeit für seine Grossmutter gesorgt hat, damit sie zu Hause bleiben konnte. Zudem sei Betreuungsarbeit eine Armutsfalle, wenn Berufstätige ihre Arbeit aufgeben oder das Pensum reduzieren und darunter auch ihre Altersvorsorge leide.«Angehörige brauchen dringend mehr Unterstützung.»

Plötzlich pflegebedürftig

Mit einer sehr belastenden Situation sah sich letztes Jahr auch Helen Girardier aus Winterthur konfrontiert. Im Frühling erlitt ihr Vater einen Schlaganfall. Seither ist der 88-Jährige halbseitig gelähmt und hat grosse Mühe,sich sprachlich auszudrücken.Nach Spitalaufenthalt und Rehabilitation kehrte er ins Einfamilienhaus in einem Dorf im Kanton Zürich zurück, wo ihn seine 80-jährige Frau pflegte.Die vier erwachsenen Kinder organisierten Hilfsangebote wie Spitex, Mahlzeitendienst und Therapien; ein Sohn zog sogar bei den Eltern ein, um sie zu unterstützen. Trotzdem wurde klar, dass es auf lange Sicht so nicht gehen würde. «Es war die totale Überforderung für meine Mutter und uns alle», erzählt Girardier. Deshalb machte sie sich schnellstens auf die Suche nach einer altersgerechten Wohnform und wurde zum Glück fündig.

Heute leben ihre betagten Eltern in einer Wohnung, die einem Pflegeheim angeschlossen ist, und essen mittags im hauseigenen Restaurant. Nach einer Zeit des Eingewöhnens sind sie zufrieden mit der Lösung. Helen Girardier und ihre Geschwister mussten das Einfamilienhaus räumen und verkaufen und sich um das Geschäft des Vaters kümmern. «Das alles war mit sehr viel Arbeit, Verantwortung und Emotionen verbunden», sagt die 54-Jährige zurückblickend.

«Einige übernehmen sich und werden selber krank.»
Patrick Hofer Organisation Pro Aidants

Auch Christine Stoffels Eltern haben vor einigen Jahren versucht, ihre behinderte Tochter in einem Heim zu platzieren. Doch sie habe sich dort nicht wohlgefühlt, sagt Jso Mäder, der als freischaffender Künstler zeitlich flexibel ist und einen Grossteil der Betreuung übernimmt. Von Montag bis Freitag besucht Tochter Christine eine Tagesstrukturin einem nahen Wohnheim. Und auch der leibliche Vater und der Bruder kümmern sich an den Wochenenden oft um sie.

Mutter Astrid ist heute im Pensionsalter. Als gelernte Pflegefachfrau arbeitet sie aber noch immer mit einem halben Pensum in einem Spital. Einerseits,weil es ihr Spass macht, andererseits aber auch aus finanziellen Gründen: Wegen der Betreuungsaufgabe konnte sie stets nur Teilzeit arbeiten, was sich nun im Guthaben ihrer Altersvorsorge bemerkbar macht. Hätte sie ihre Tochter in ein Heim gegeben, hätte das die öffentliche Hand rund 14’000 Franken monatlich gekostet, sagt sie. Übernehmen jedoch Angehörige die Betreuung, erhalten sie meist nur die Hilflosenentschädigung der IV, die in der Regel weniger als 2000 Franken beträgt. «Das ist unerhört», ereifert sie sich.«Behinderte und ihre Angehörigen haben einfach keine Lobby.»

Viel Lebenssinn gegeben

Die jahrelange Betreuung hat das Paar stark beansprucht. «Wenn man in so einer Situation ist,denkt man nicht lange nach, sondern funktioniert einfach», blickt Astrid Mäder zurück. «Ein Burn-out kann man sich gar nicht leisten.» Trotz allem habe ihr die Aufgabe auch viel Lebenssinn gegeben. Christine drücke ihre Dankbarkeit immer wieder auf ihre ganz eigene Art aus.

Jetzt hat sie gerade das letzte Teilchen ins Puzzle eingefügt.Mit ihrem Stiefvater betrachtet sie das fertige Bild mit den Tieren und dem Zwerg. «Jetzt hast du bestimmt Durst. Willst du etwas trinken?», fragt Jso Mäder.«Ja, holen, alter Drache!», antwortet die junge Frau und verdrückt sich wieder ein Lachen.


Betreuung findet oft im Stillen und Verborgenen statt: Jso Mäder mit seiner Stieftochter Christine beim Puzzlespielen. Foto, Urs Jauda

 


Hier finden Angehörige Unterstützung

Erste Anlaufstelle für Menschenmit einer Behinderung und ihre Angehörigen ist die Invalidenversicherung (IV) ihres Wohnkantons. Neben der Hilflosenentschädigung können dort auch Assistenzentschädigungen beantragt werden. Und in gewissen Fällen erhalten Angehörige eine Betreuungsgutschrift von der Alters und Hinterlassenenversicherung.

Darüber hinaus gibt es vieleprofessionelle und ehrenamtliche Unterstützungsangebote wie etwa die Spitex und Kinderspitex(www.kinderspitex-zuerich.ch; www.spitexbe.ch oder www.spitexbasel.ch),Pro Senectute, Pro Infirmis, Entlastungsdienste, Gemeindeinitiativen sowie Vereinigungen für bestimmte Krankheiten und Behinderungen.

Hilfestellung bietet auch die Angehörigen-Organisation ProAidants: Speziell für die CoronaZeit hat sie einen Notfallplanentwickelt. Darin können betreuen-de Angehörige alle nötigen Angaben festhalten für den Fall, dass sie selber plötzlich nicht mehr verfügbar sind. Weiter stellt die Organisation ab Januar eine App zur Verfügung, über die Angehörige und Professionelle ihre Leistungen koordinieren können. Erfahrene Mitglieder bieten zudem Beratung an(www.proaidants.ch).

Von staatlicher Seite kommt es nun zumindest zu einer Entlastung: Ab dem nächsten Jahr gibtes einen bezahlten Betreuungsurlaub für Arbeitnehmende, die sich um kranke Angehörige kümmern (maximal 10 Tage pro Jahr),wie auch für Eltern schwer kranker Kinder (14 Wochen). Diese vom Parlament beschlossene Neuregelung gilt allerdings nur für Neuerkrankungen und nicht für bleibende Behinderungen. (asö/sae)