IV spart auf Kosten der Sozialhilfe

(SonntagsBlick)

THOMAS SCHLITTLER
Sozialschmarotzer. Scheininvalide. Sozialdetektive. Seit Jahrzehnten streitet die Schweiz darüber, wer von der Invalidenversicherung (IV) Geld erhalten soll – und wie viel.

Diese Woche erhitzte diese Frage erneut die Gemüter. Das Bundesgericht hatte bekannt gegeben: Sucht ist eine Krankheit -also sollen Suchtkranke Aussicht auf eine IV-Rente haben.

Auf Blick.ch empörte sich ein Leser: «Der ganze Sozialstaat wird ausgenommen, auf alle Arten, bis nichts mehr übrig ist.» Und ein anderer: «Heute hat in diesem links-grünen Staat jeder Anspruch auf Sozialleistungen.»

Was die Kommentarschreiber vermutlich nicht wissen: In der Schweiz erhalten Jahr für Jahr weniger Menschen Geld von der Invalidenversicherung.2005 gab es 251 828 IV-Rentnerinnen und Rentner. Ende 2018 waren es noch 217 944: ein Rückgang von 13 Prozent – und das, obwohl die Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum um 15 Prozent gewachsen ist.

Harald Sohns, Sprecher des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), erklärt, aus welchem Grund: «Die IV ist bei der Zusprache von Renten strenger geworden,insbesondere ab 2008.» Zuvor sei die Rentenberechtigung zu leichtfertig vergeben worden, die IV habe enorme Schulden angehäuft. Als Reaktion darauf habe man den Leitsatz «Eingliederung statt Rente»eingeführt.

Die IV verkauft ihre Eingliederungsmassnahmen als vollen Erfolg. Am Freitag publizierte die SRF-Sendung «10 vor 10» neue Berechnungen zur «Wirtschaftlichkeit der 4., 5. und 6. IV-Revision». Fazit der Studie, in Auftrag gegeben von der IV- Stellen -Konferenz: «Dank wieder in den Arbeitsmarkt eingegliederten IV-Bezügern spart die Invalidenversicherung jährlich über 700 Millionen Franken.»

Aber: Das ist nicht die ganze Geschichte. Eine breite Allianz aus Ärzten Behindertenverbänden Lokalpolitikern und Versicherungs-anwälten kritisiert:Die hochgelobten Wiedereingliederungsmassnahmen seien bestenfalls für die Finanzender IV ein Erfolg.

Judith Hanhart von Agile.ch,der Organisation von Menschen mit Behinderungen,sagt: «Wer gemäss IV arbeitsfähig ist, verliert die IV-Rente – auch wenn er wegen der gesundheitlichen Probleme keine Chance hat auf dem Arbeitsmarkt.» Philippe Luchsinger (62), Präsident der Haus- und Kinderärzte Schweiz,beobachtet das-selbe: «Es ist sehr schwierig geworden, von der IV für erwerbsunfähig erklärt zu werden. Nach Ansicht der IV gibt es für praktisch jeden und jede einen Job, der machbar und zumutbar ist.»

Als Beispiel nennt er eine Person, die jahrzehntelang einen körperlich sehr anstrengenden Job machte und mit Mitte 50 starke Rückenbeschwerden bekam. «Die IV sagt dann: » In der Praxis finde jemand, der jahrelang auf dem Bau gearbeitet habe,kaum eine Stelle in einem anderen Bereich. Trotz Umschulung – und vor allem nicht mit Mitte 50.

Luchsinger:«Die IV sieht es aber nicht als ihr Problem an, dass die von ihr für erwerbsfähig erklärten Menschen in dem für sie neu definierten Arbeitsbereich chancenlos sind.»

Umstritten ist, was mit denen geschieht, die von der IV für gesund erklärt werden. Eindeutig auffällig jedoch: Im gleichen Zeitraum, in dem die Zahl der Bezüger um rund 34 000 Personen abnahm, stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger um 41 000 an. Fachleute aus der Praxis sind sich deshalb sicher: Viele, denen die IV-Rente gestrichen wird,landen über kurz oder lang in der Sozialhilfe.

«Die Erfahrungen aus dem Alltag deuten darauf hin, dass es viele solche Fälle gibt», sagt der Mediziner Philippe Luchsinger. Auch Nicolas Gallade, Vorsteher des Sozialdepartements der Stadt Winterthur ZH, stellt fest: «Zahlreiche Personen müssen Sozialhilfe beziehen,weil sie zu krank für den heutigen Arbeitsmarkt sind, aber für eine IV-Rente.»

Markus Kaufmann ist Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos), der viele Städte und Gemeinden angehören. Mitglieder melden ihm regelmässig, dass sie mehr gesundheitlich belastete Personen unterstützen müssen. Er ist daher überzeugt:«Es landen immer mehr Menschen auf dem Sozialamt, die ursprünglich wegen ihrer Gesundheit in Not geraten sind.»Kaufmanns Fazit: «Die IV wird zumindest teilweise auf Kosten der Sozialhilfe saniert.»

Der Bund wehrt sich gegen diese Vorwürfe. BSV-Sprecher Sohns stellt kategorisch fest: «Die IV erklärt niemanden willkürlich für gesund, sondern klärt die gesundheitlichen Einschränkungeneines Menschen sowie die daraus resultierende Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in jedem Einzelfall gründlich ab.»

Und wie erklärt das Bundesamt für Sozialversicherungen die Tatsache,dass sich die Zahl der IV-Bezügerund Sozialhilfeempfänger gegenläufig entwickelt? Sohns: «Das sagt nichts darüber aus, ob es einen Zusammenhang, eine Kausalität gibt.» Dafür gebe es keine Belege.

Allerdings kann der Bund auch keine wissenschaftlich fundierten Daten präsentieren, die einen Zusammenhang ausschliessen.

Sohns gesteht deshalb ein: «Die Datenlage ist unbefriedigend.» Das Problem sei, dass die Einkommensquellen von einer grossen Anzahl Personen über lange Zeit detailliert verfolgt werden müssten, um aussagekräftige Daten zu erarbeiten.

Doch Besserung ist in Sicht: «Das BSV arbeitet an einem Forschungsprojekt, das uns erlauben soll,aussagekräftigere Aussagen zu machen über die effektiven Vorgänge zwischen IV und Sozialhilfe.»Vorläufige Ergebnisse seien für das erste Halbjahr 2020 zu erwarten.

Nächste IV-Revision kommt

Kommende Woche debattiert die zuständige Ständeratskommission über die «Weiterentwicklungder IV». Im Fokus stehen Kinder,Jugendliche und psychisch Kranke. Der Bundesrat will neue Massnahmen ergreifen, um deren Invalidität zu vermeiden und Eingliederung zu fördern.Jungen Menschen soll künftig erst dann eine Rente zugesprochen werden, wenn alle Massnahmen zur Eingliederung ausgeschöpft sind. Es geht um eine Steigerung von Anreizen zur Erwerbstätigkeit und weniger Anreize für einen Rentenbezug. Der Bundesrat hatte die Vorlage ausdrücklich nicht als Sparvorlage angelegt – was allerdings nicht nach dem Geschmack des Nationalrats war, der sie im Frühjahr als Erstrat behandelte: Die grosse Kammer beschloss, die Zahlungen für Kinder von IV-Bezügern empfindlich zu kürzen. Sollte der Ständerat mitziehen, würden die durchschnittlichen sogenannten Kinderrenten künftig bei 400 liegen statt heute 530 Franken.

THOMAS SCHLITTLER
Marianne Zumstein* (61) lebt in der Agglomeration von Zürich. Sie hat sich mit SonntagsBlick an einem ruhigen Plätzchen an der Limmat verabredet. Die klein gewachsene Frau wirkt etwas nervös, zündet sich eine Zigarette an.«Das Päckchen kostet nur 5.50 Franken!», sagt sie, als müsste sie sich rechtfertigen.


«BehindertenangepassteTätigkeit zu 100 Prozentzumutbar»: MarianneZumstein.

 

Zumstein erhielt 2003 eine volle IV-Rente zugesprochen.2015 – mehrere IV-Revisionenspäter – wird ihr Fall neu beurteilt.

In einem Brief hält die zuständige IV-Stelle fest: Zumstein sei nur eine Tätigkeit «ohne Zeitdruck und ohne hohe Anforderungen an das Konzentrations-und Durchhaltevermögen» zuzumuten. Eine «körperlich schwere und mittelschwere Tätigkeit»,das «Gehen auf unebenem Gelände» sowie das «Führen eines Fahrzeugs und Bedienen von gefährlichen Maschinen» komme ebenfalls nicht infrage.Den noch kommen die Behörden zum Schluss: «Eine behinderungsangepasste Tätigkeit ist zu 100 Prozent zumutbar.»Ihre IV-Rente wird komplett gestrichen.

Tausenden anderen Schweizern ging es in den vergangenen Jahren genauso. Was bei solchen Entscheidungen häufig vergessen wird: Hinter jeder einzelnen gestrichenen Rente steckt ein persönliches Schicksal, eine einzigartige Biografie.

Dies hier ist die Geschichte von Marianne Zumstein:«Mein Vater war ein Satan.Meine jüngere Schwester und ich wurden von ihm regelmässig in eine Kammer eingesperrt und mit der Pistole bedroht. Als ich elf Jahre alt war, hat er sich umgebracht. Gott sei Dank! Ich war glücklich, dass er weg war.

Mit 24 zog ich vom Land in den Raum Zürich. Ich heiratete, bekam einen Buben, kurz darauf eine Tochter.

Die Ehe hielt nur wenige Jahre. Nach der Scheidung hattemein Mann die Kinder nur noch am Wochenende.

Eines Tages erzählte die damals siebenjährige Tochter ihrem Lehrer, sie werde vom Vater gestreichelt.Ein Schock. Ich zeigte diesen Sauhund sofort an. Doch er wurde freigesprochen –.

Das Schlimmste daran: Ich musste ihm die Kinder danach wieder rausgeben. Wie kann ein Staat so etwas von einer Mutter verlangen? Der Bub hat nach den Wochenenden beim Vater immer geweint. Das Mädchen war ebenfalls komisch. Zwei, drei Jahre ging das so. Bis ich der Tochter irgendwann gesagt habe:Jetzt rede endlich mit mir! Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest!

Irgendwann hat sie mir dann gesagt, dass zwischen ihr und dem Vater noch immer etwas laufe. Ich konnte es nicht glauben, war mit den Nerven endgültig am Ende.

Es kam erneut zur Anzeige.Doch dieses Mal besorgte ich mir vor der Gerichtsverhandlung eine Pistole. Ich wollte den Siech erschiessen.Sie haben mich aber vor dem Gericht abgetastet und die Waffe entdeckt.

Dieses Mal wurde er verurteilt.Wegen guter Führung sass eraber nur dreieinhalb Jahre. Ich lernte in dieser Zeit einen neuen Mann kennen, einen Ausländer.Die zweite Ehe.

Doch auch das ging nicht lange gut.

Meine Tochter machte überall Probleme, hatte ein völlig gestörtes Sexualverhalten.Sie war ständig auf der Suche nach Sex – und machte sich an meinen neuen Mann ran. Dieser liess sichdarauf ein.

Meine Tochter erzählte es meinem ersten Mann, dieser der Polizei. Mein neuer Mann wurde verurteilt und ausgewiesen.

Ich war am Boden, brauchte Hilfe. Die Tochter kam in ein Jugendheim, der Sohn ein Jahr nach Italien in ein neues Umfeld.Ich habe drei Monate lang nur gesoffen, war nervlich am Ende.So oft es ging, arbeitete ich noch als Nachtchauffeurin.

Irgendwann hat mich mein Arzt bei der IV angemeldet. Ich bekam eine Rente zugesprochen.Trotzdem ging es mir nach wie vor schlecht.

Früher war ich für jeden Spass zu haben. Nun sagten mir die Leute: Du bist nicht mehr die Gleiche. Ich kam in psychiatrische Behandlung, muss bis heute Psychopharmaka nehmen.

Auch körperlich ging es bergab.In den vergangenen vier Jahren, seit dem IV-Stopp, hatte ich acht Operationen.Eine Magenspiegelung,ein Darmtumor, ein Netz im Bauch, Knieprobleme – ich habe den Überblick verloren. Bei einer OP hatte ich einen Herzinfarkt. Zwei Stents wurden nötig.

Ich bin fertig. Ich mag nicht mehr. Mein Verstand ist kaputt.

Mit den Kindern habe ich ein gutes Verhältnis, auch wenn es nicht immer einfach ist. Die Tochter hat mittlerweile zwei Kinder, das dritte ist unterwegs.Ich kann sie nur selten besuchen,das Zugbillett ist zu teuer.

Mit der IV hatte ich 2900 Franken pro Monat. Nun muss ich mit 2000 Franken auskommen.Nach Abzug der Miete bleiben 900 Franken zum Leben. Das Telefon und der Strom sind da noch nicht bezahlt.

Ich fresse jeden Tag Teigwaren. Eine Berechtigung für das habe ich nicht bekommen, da alle vorhandenen Gutscheine schon vergeben waren.

Man hat mir auch schonge sagt, ich müsse halt meine beiden Hunde abgeben, wenn es finanziell nicht reiche.

Doch das mache ich sicher nicht. Ohne die Hunde würde ich schon lange unter dem Boden liegen.» * Name geänder