Liebe Leserin, lieber Leser

(SonntagsBlick)

Man könnte meinen,das Kürzel IV stehe für«immens verdächtig».

Als Bundesbern im Sommer 1959 die Einrichtung der Invalidenversicherung diskutierte, befürchtete die Ärztevereinigung FMH: «Rentenneurotiker und Asoziale stürzen sich auf alle erreichbaren Unterstützungsgelder.»

Mit Verweis auf diese Bedenken plädierte der zuständige Bundesrat Philipp Etter, die Hürden für den Bezug einer Rente nicht zu tief anzusetzen. Unter dieser Bedingung wurde die Invalidenversicherung auf den 1. Januar 1960 hin eingeführt.

Im Wahlkampf 2003 importierte die SVP aus Deutschland das Wort «Scheininvalide». Es war der politische Coup des Jahrzehnts. Erst räumte die Partei bei den Wahlen ab, später verordneten Bundesrat, Parlament und Stimmbevölkerung der IV ein sehr viel strikteres Regime.Insbesondere Menschen mitpsychischem Leiden haben esseither schwerer, als krank an-erkannt zu werden.

Dass die Zahl der IV-Empfänger zurückgeht, erstaunt da nicht.Sozialminister Alain Berset freut sich – und lässt öffentlich verkünden: «Die IV hat sich erfolgreich von einer Renten zu einer Eingliederungsversicherung gewandelt.»In der Tat hat das Bundesamtfür Sozialversicherungen ein paar Instrumente eingeführt,um Personen mit Invaliditätsrisiko frühzeitig zu erkennen und in der Arbeitswelt zu halten.

Dagegen kann niemand etwas einwenden.Im Gegenteil! Wie wirksam diese Bemühungen aber sind, inwiefern die IV effektiv zu einer Eingliederungsversicherung geworden ist: Diese Frage kann der Bund nicht beantworten.

Es ist ein starkes Stück: Die Behörden haben über Jahre bewusst auf ein professionelles und umfassendes Controlling ihrer Massnahmen verzichtet. Man wollte gar nicht wissen,welches die individuellen, welches die gesellschaftlichen Folgen der jüngsten Verschärfungen bei der IV sind. Hauptsache,es hat weniger Bezüger.

Dabei gab es früh Anzeichen dafür, dass es mit der Integration in den Arbeitsmarkt nicht so weit her ist. Seit langem mehren sich die Hinweise, dass viele Betroffene nun einfach in der Sozialhilfe landen. Dass die ganze Ubung letztlich also kaum mehr ist als ein Nullsummenspiel. Schon 2014 schrieb die OECD in einem Bericht über das Schweizer Sozialsystem:«Der jüngste Anstieg der Sozialhilfebezüger ist teilweise eine Folge des restriktiveren Zugangs zu IV-Leistungen.»

Natürlich kam und kommt Missbrauch bei den Sozialwerken vor. Ebenfalls klar ist: Missbrauch darf nicht toleriert wer-den. Das gibt dem Bund jedoch nicht das Recht, seinerseits mit gezinkten Karten zu spielen und Erfolge zu bejubeln,die sich gar nicht nachweisen lassen.

Das sind zynische Tricksereienauf Kosten der Schwächsten.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen gelobt jetzt Besserung. Offenbar arbeitet man an einer umfassenden Analyse über den Zusammenhang zwischen IV und Sozialhilfe.

Bis tatsächlich Resultate vorliegen, gelten die verantwortlichen Behörden als«immens verdächtig».


Einen schönen Sonntagwünscht Ihnen Gieri Cavelty