Werwird hier behindert?

(St. Galler Nachrichten)


Die Integration von Menschen mit Handicap soll möglichst natürlich passieren. Ist eine Quote das Richtige ?

Die Frauenquote ist in aller Munde und wird von linken Kreisen oft befürwortet. Die Behindertenquote ist ebenfalls immer wieder ein Thema, doch sie hat auch einen vehementen Gegner unter den Betroffenen: Den Inldusionsagenten Cem Kirmizitoprak. Während er die Frauenquote befürwortet, sieht er bei der Behindertenquote Diskriminierungspotenzial.

Behindertenquote Cern Kirmizitoprak ist Inklusionsagent bei der Beratungsstelle für Inklusion und Mitglied der JUSO St.Gallen. Ihn kennt man mittlerweile, bei der letzten Wahl ins Stadtparlament machte er 665 Stimmen und kam von 30 Kandidaten auf den guten 12. Platz. Wo sitzt er in zehn Jahren? «Im Stadtparlament natürlich», lacht er. Im Moment beschäftigen ihn die neuen Züge der SBB. «Leider sind diese Züge nicht behindertengeCem Kirmizitoprak setzt sich recht, unter anderem sind die Rampen von Türe zu Perron für Rollstühle zu steil und die Türöffner sind aus dem Rollstuhl unmöglich zu erreichen.»


Cem Kirmizitoprak setzt sich für Gleichtellung auf allen Ebenen ein

Das Schweizer Behindertengleichstellungsgesetz wurde im Jahr 2004 verabschiedet und die UN-Men schenrechtskonvention 2014 ratifiziert. Problem dabei: Die SBB bauen nach den EU-Richtlinien, das Behindertengleichstellungsgesetz wird nach Meinung des Inklusionsagenten nicht beachtet. Er übt scharfe Kritik am Bund und Bundesrätin Doris Leuthard. «Macht es euch Spass zuzusehen, wie Menschen mit Behinderungen bei Zugfahrten immer noch auf Drittpersonen angewiesen sind? Ich weiss, was ihr braucht, um das alles endlich zu verstehen: Einen Rollstuhl oder einen Blindenstock». Klarer Fall also: «Habt ihr euch mal vorgestellt, wie ihr reagieren würdet, wenn ihr auch jeweils eine Stunde vor Zugabfahrt anrufen müsstet, um in den Zug ein und aussteigen zu können trotz gültigem Ticket? Das, was hier passiert, hat nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun. Ich wünsche euch gute Besserung!»

Auch andere Probleme 2010 wollte die Sozialkommission des Nationalrats, dass Betriebe mit mehr als 250 Angestellten ein Prozent ihrer Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap reservieren müssen. Diese Quote soll als Teil der Wie dereinglie derungs-M assnahmen möglichst viele IV-Rentner wieder in den Arbeitsmarkt zurück bringen. Der Schweizerische Arbeitgeberverband lehnte die Einführung einer Quote dezidiert ab. Zwang und Quoten würden schlechte Voraussetzungen schaffen, um Handicapierte in eine für sie angenehme Arbeitsumgebung zu integrieren. Betroffene würden in Betrieben als «Quoten-Integrierte» geduldet und ausgegrenzt. Sie würden nicht als vollwertige Mitarbeitende in die Belegschaft aufgenommen. Die Bürgerlichen versenkten die Quote – auch mit der Argumentation, dass alle Erfahrungen aus dem Ausland negative Resultate gebracht hätten. Cern Kirmizitoprak steht nicht im Verdacht, bürgerlich zu sein. Doch für ihn ist klar: «Ich möchte nicht aufgrund meiner Behinderung, sondern aufgrund meiner Fähigkeiten eingestellt werden.» Er sieht auch Konfliktpotenzial aufgrund möglicher Doppelquoten. «Was passiert bei einer behinderten Frau? Sind das dann gleich zwei Quoten, die man beachten muss?» Für ihn ist das Ganze nicht durchdacht. Kirmizitoprak findet die Quote als «Anschub» für die Arbeitgeber zwar gut, bei Nominationen für Parteiämter hingegen findet er es daneben. Eine Etikettierung? «Ich habe das Gefühl, dass Menschen mit Behinderung etikettiert würden», meinte der lebensfrohe St.Galler. «Wenn die Fähigkeiten nicht vorhanden sind, soll man einen Behinderten auch nicht einstellen. So einen Bonus braucht niemand und ist auch nicht zielführend.» Menschen mit Behinderung hätten Rechte, aber auch Pflichten. «Man muss aufpassen, dass man die Menschen nicht behinderter macht, als sie sind», zeigt sich der umtriebige Jungpolitiker überzeugt. Und er sieht auch grundsätzliche Probleme. «Warum heisst die IV eigentlich so? Invalid heisst bekanntlich ungültig. Das ist sprachliche Diskriminierung.» Also ist für ihn eines klar: «Eine Quote ist keine Inklusion.» Denn er sei auch ohne Quote auf die Liste bei den Stadtratswahlen gekommen. Eines ist klar: Cem Kirmizitoprak geht seinen Weg weiter. Seine Vision einer barrierefreien Welt verfolgt er konsequent weiter. Dass am liebsten ohne Quote, denn die Fähigkeiten von behinderten Menschen sollen für ihn für sich sprechen. Und da würde eine Quote nur behindern, ist er sich sicher.

Andrea Scheck, Parteikollegin von Kirmizitoprak, würde eine allfällige Quote aber unterstützen. «Quoten können ein gutes Mittel sein, um die Förderung und Sichtbarkeit gewisser Gruppen sicherzustellen. Besonders bei Gruppen, die in der Politik untervertreten sind und diskriminiert werden, sind solche Massnahmen auch heute noch notwendig. Darum vertritt die JUSO etwa die Frauenquote.» Selbstbestimmung ist allerdings auch für sie ein entscheidender Faktor. «Allerdings müssen die Direktbetroffenen immer selber bestimmen können. Menschen mit einer Behinderung wissen am besten, welche Mass nahmen ihnen helfen, darum dürfen diese nicht über ihre Köpfe hinweg beschlossen werden. Falls eine Quote gefordert wird, werde ich diese Forderung solidarisch unterstützen.» Bei der JUSO St.Gallen sind derzeit zwei Menschen mit Behinderung aktiv. «Da sind wir wohl auch schlicht zu wenig Betroffene», meint der engagierte Inklusionsagent. «Und leider ist es schwierig, Menschen mit Handicap für Politik zu begeistern.»