Die Bundesrichter sind sich nicht einig

(Der Landbote)


Der Eingang des Bundesgerichts in Luzern: Kürzlich hatten die Richter dort einen Fall zu beurteilen, bei dem sich die IV und das kantonale Gericht über das Resultat der medizinischen Abklärung hinwegsetzten. Foto: Gaëtan Bally (keystone)

Der Umgang der IV mit Schmerzpatienten gibt erneut zu reden. Diesmal kommt die Kritik aus dem Innern des Bundesgerichts.

Der Juni 2015 brachte für Patienten mit chronischen Schmerzen eine gewichtige Änderung. In einem Leiturteil definierte das Bundesgericht damals eine neue IV-Praxis: Schmerzpatienten dürfen nicht mehr von vornherein von einer Rente ausgeschlossen werden. Die Betroffenen haben ein Anrecht, von der IV gründlich abgeklärt zu werden. Zudemmuss sich die IV auf das Resultat der Begutachtung stützen, wenn sie über eine Rente entscheidet.

Fast drei Jahre sind seit dem Grundsatzurteil vergangen. Bisher liess sich nicht feststellen, welche Wirkung es gehabt hat. Denn noch sind kaum strittige Fälle ans Bundesgericht gelangt, bei denen die neuen Regeln angewandt wurden. Kürzlich hatte das oberste Gericht nun aber einen Fall zubeurteilen, bei dem sich die IV und das kantonale Gericht über das Resultat der medizinischen Abklärung hinwegsetzten – und der Person die Rente verweigerten. Man war gespannt, wie das Bundesgericht urteilen würde.

Kein Anspruch auf eine Rente
Die Verhandlung fand am Bundesgericht in Luzern statt. Zu beurteilen war die Beschwerde eines Bauarbeiters aus dem Kanton Aargau, der an chronischen Schmerzen leidet. Um den Anspruch auf eine Rente zu prüfen, liess ihn die IV von zwei Ärzten begutachten. Beide attestierten dem Bauarbeiter eine 50 -prozentige Arbeitsunfähigkeit. Er habe auch nicht die nötigen körperlichen und psychischen Ressourcen, um in einer anderen, weniger belastenden Tätigkeit ein höheres Pensum zu leisten.

Die IV sah es anders. Ein invalidisierender Gesundheitsschaden sei nicht eindeutig belegt. Zudem gebe es mehrere Indizien im Gutachten, wonach der Bauarbeiter sozial gut integriert sei. Somit sei es ihm auch zuzumuten, 100 Prozent zu arbeiten. Ergo bestehe kein Anspruch auf eine Rente. Das kantonale Gericht stützte die IV, weshalb der Bauarbeiter ans Bundesgericht gelangte. Dort stiess er bei zwei Richtern auf offene Ohen. Beide kritisierten das Vorgehen der IV mit deutlichen Worten. Sie warfen der Versicherung vor, sie habe einzelne Elemente aus dem Gutachten herausgepickt und diese kurzerhand in ihrem Sinn uminterpretiert. Damit habe sich die IV selbst zur Gutachterin erhoben und ihre Kompetenzen überschritten. Und weiter: Wenn die IV der Ansicht sei, ein von ihr bestelltes Gutachten beantworte nicht alle Fragen, müsse sie bei den Ärzten nachfragen und die fehlenden Antworten einfordern. Sie dürfe nicht auf dem Buckel der

SCHMERZRECHTSPRECHUN

Die Antwort auf die Frage, ob Patienten mit chronischen Schmerzen invalid sind, fiel in den letzten rund 15 Jahren sehr kontrovers aus. Bis 2004 hatten Schmerzpatienten Anspruch auf eine IV-Rente. Oft genügte es schon, wenn der behandelnde Hausarzt sie arbeitsunfähig schrieb.

Weil dadurch die Zahl der Renten in die Höhe schnellte, schob das Bundesgericht dieser Rentenpraxis im Mai zoo4 einen Riegel vor. Nun hiess es: Chronische Schmerzen, die sich medizinisch nicht hinreichend erklären liessen, begründeten keine Invalidität. Vielmehr seien sie mit entsprechender Willensanstrengung überwindbar.

Die Überwindbarkeitsvermutung stiess von Anfang an bei einzelnen Fachärzten auf hefti- ge Ablehnung. Doch erst im Juni 2015 rückte das Bundesgericht davon ab. Seither gelten chronische Schmerzen nicht mehr von vornherein als überwindbar. Die IV muss auch Schmerzpatienten «ergebnisoffen» abklären lassen, bevor sie über eine Rente entscheidet. Die Gutachter ihrerseits sind verpflichtet, die medizinische Abklärung nach verbindlichen Regeln vorzunehmen. Die Regeln hat das Bundesgericht gleich selber in Form eines Indikatorenkatalogs vorgegeben.

Das Grundsatzurteil vom Juni 2015 hat die Rolle der medizinischen Gutachter im IV-Verfahren gestärkt. Damit habe das Bundesgericht auch signalisiert, dass die IV nicht einfach vom Resultat einer Begutachtung abweichen dürfe, wenn die Gutachter sich an die Vorgaben halten würden, sagt Thomas Gächter, Professor für Staats und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich. Gächter so wie andere Fachleute gingen damals davon aus, dass künftig zumindest vermehrt.

Teilrenten gesprochen würden. Dies hat sich bislang nicht bestätigt. Nach Ansicht von Thomas Gächter ist es aber noch zufrüh, bereits heute Schlüsse daraus zu ziehen, wie sich die geänderte Schmerzrechtsprechung auswirke. afi