«Der Schlüsselbegriff ist Inklusion»

(Links / SP Schweiz)


„Der Schlüsselbegriff ist Inklusion „

 

Zum ersten mal überhaupt warb die sp schweiz beim co2-gesetz mit einem video in gebärdensprache für eine vorlage. Auf nationaler ebene reichte die sp mehrere vorstösse für eine bessere inklusion von gehörlosen ein. Doch für wen setzt sich die sp da ein? Eine annäherung mit fernanda falchi und andre marty, verantwortliche für public affairs beim schweizerischen gehörlosenbund.

Vorneweg, darf man heute noch «taub» sagen?

Fernanda Falchi: Wir sagen gehörlos. Der alte Begriff «taub» oder gar «taubstumm» ist diskriminierend. Gehörlose hören einfach nichts, sie verfügen aber über dieselben Fähigkeiten wie Hörende.

Auf eurer Website heisst es, auch geschriebene Texte seien für Gehörlose schwer verständlich. Wie lässt sich das erklären?

André Marty: Die Muttersprache von Gehörlosen ist die Gebärdensprache. Mit Bewegungen werden Wörter und ganze Sätze zusammengefasst. Buchstaben hingegen entsprechen einzelnen Lauten, die Gehörlose ja nie gehört haben. Der Zusammenhang entsteht über den Klang. Geschriebene Wörter sind für Gehörlose zufällig geordnete Buchstabenfolgen, die sie zunächst auswendig lernen und dann mit Inhalt füllen müssen. Das Wort «Tisch» zu erklären ist einfach,«Solidarität» schon schwieriger.

Fernanda Falchi: Erschwerend kommt das generell eher tiefe Bildungsniveau von Gehörlosen hinzu. In ihrer Muttersprache gab
und gibt es nur wenige Bildungsangebote. Ein grosser Teil der Bildung wird auch heute noch über die gesprochene Sprache vermittelt. Über das Lippenlesen werden aber nur 3o bis 4o Prozent der Inhalte verstanden. Dadurch entsteht ein Bildungsrückstand. Gebärdensprache sollte parallel mit der geschriebenen Sprache unterrichtet werden. Die geschriebene Sprache ist für Gehörlose eine Fremdsprache, die anstrengend zu lesen ist.

Was hat sich mit der Corona-Pandemie für Gehörlose verändert?

Fernanda Falchi: Seit die Medienkonferenzen des Bundesamts für Gesundheit immer in Gebärdensprache übertragen werden, hat sich das Verständnis in der breiten Bevölkerung erhöht. Früher war es beispielsweise im Zug unmöglich, vom Kondukteur eine Auskunft zu bekommen. Heute klappt die Verständigung irgendwie besser. Aber mit Masken ist das Lippenlesen unmöglich. Es gibt welche mit einem Fenster vor dem Mund. Das ist jedoch nicht optimal, denn sie beschlagen oder spiegeln die Umgebung. Am einfachsten ist es, genug Abstand zu halten und die Maske abzunehmen. Oder einfach auf Stift und Papier zurückzugreifen.

Welches Verhalten wünschen sich Gehörlose denn von Hörenden?

Fernanda Falchi: Der Schlüsselbegriff ist Inklusion, auch wenn die Welten wohl immer getrennt bleiben werden – Kultur und Sprache sind zu unterschiedlich. Es erleichtert die Verständigung, wenn Hörende deutlich Hochdeutsch sprechen und sich auch nicht scheuen, mal Hände und Füsse zu Hilfe zu nehmen. Auch Gehörlose müssen sich Mühe
geben. Das Wichtigste sind Austausch und Kontakte, damit Hörende einen Einblick in die Welt von Gehörlosen erhalten. Wenn man will, findet man immer einen Weg sich verständlich zu machen.

Der SP ist die Teilhabe von Gehörlosen ein grosses Anliegen. Wie lässt sich die Inklusion fördern?

André Marty: In der Schweiz leben 10 000 Gehörlose und rund eine Million Hörbehinderte. 2014 hat die Schweiz die Behindertenkonvention der UNO unterzeichnet, doch
mit der Umsetzung hapert es. Zentral ist die Anerkennung der Gebärdensprache als offizielle Landessprache. Dies würde unseren
Einsatz für gleiche Rechte und Chancen, fürzweisprachige Bildung und für den Abbau von Kommunikationsbarrieren erleichtern.
Konkret braucht es viel mehr DolmetschAngebote, sei es im Beruf, im Gesundheitswesen oder in der Politik.

Kannst du ein Beispiel machen?

Fernanda Falchi: Die Bundeskanzlei veröffentlicht nur eine kurze Zusammenfassung des Abstimmungsbüchleins in Gebärdensprache. Das reicht nicht und erschwert Gehörlosen den Zugang zur Politik enorm. Wir sind darum auch froh um die Vorstösse der SP-Nationalrätinnen Gabriela Suter und Valérie Piller Carrard. Die Dolmetsch-Angebote können Gehörlose nicht selbst finanzieren. Da sind Vereine, Parteien oder die öffentliche Hand in der Pflicht.

Werdet ihr gehört?

Fernanda Falchi: Barrieren lassen sich nicht von heute auf morgen abbauen. Dass die SP zusammen mit der FDP eine Vorlage in Gebärdensprache vorstellte, stimmt uns zuversichtlich. Sinnvollerweise erklärt die SP ihre Positionen und Werte ebenfalls in einem Gebärdensprache-Video. Heute macht die Partei einen ersten wichtigen Schritt, indem sie sich bewusst wird, welche Barrieren Gehörlose zu überwinden haben.


DIE VORSTÖSSE

Damit Parlamentsdebatten verstanden werden

SP-Nationalrätin Gabriela Suter verlangt, dass die Live-Übertragungen aus dem National- und Ständerat mit Untertiteln versehen werden. Weiter sei zu prüfen, ob gewisse Debatten in Gebärdensprache übersetzt werden können.Heute ist es Gehörlosen nicht möglich, den nationalen Parlamentsdebatten online zu folgen. Mit der Untertitelung würde die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen Leben gefördert, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert.

Damit der Notruf klappt

Bei einem Notfall zählt jede Sekunde. Doch Gehörlose können heute per Telefon weder die Polizei noch die Ambulanz rufen. Für sie sind Telefonanrufe nur über eine langwierige Vermittlung möglich. Die Freiburger SP-Nationalrätin Val6rie Piller Carrard verlangt daher die Schaffung eines barrierefreien digitalen Notruf-Angebots. Technische Möglichkeiten wären vorhanden, doch fehlen die gesetzlichen Grundlagen.

Beide Vorstösse sind hängig.


ZUR PERSON

Fernanda Falchi, 24, gehörlos, ist beim Schweizerischen Gehörlosenbund für Public Affairs zuständig. Sie kam als 17-Jährige aus Brasilien in die Schweiz, lernte Deutsch in Schrift- und Gebärdensprache und absolvierte im Service eine Lehre, die sie als Kantonsbeste abschloss. Sie lebt im Kanton Aargau und setzt sich seit einem Jahr beim Gehörlosenbund für die Rechte der Gehörlosen ein.

Andre. Marty, 29, hörend, studierte Geschichte und Politik und ist beim Schweizerischen Gehörlosenbund für Public Affairs verantwortlich. Als er die Stelle antrat, musste er sich in Rekordzeit «und mit Begeisterung» die Gebärdensprache aneignen. André Marty ist Mitglied der SP und lebt im Kanton Luzern.

«Das ist ein tiefgreifender Wandel»

(suedostschweiz.ch)

Stefan Kühnis ist Geschäftsleiter der Pro Infirmis. Im Interview spricht er über Inklusion und was diese für die Gesellschaft bedeutet.

Engagiert:Stefan Kühnis setzt sich für die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention ein.
SABINE TSCHUDI

 

von Sabine Tschudi

Herr Kühnis, seit die Schweiz die UN Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, engagieren Sie sich in der dazu gegründeten kantonalen Projektgruppe für die Umsetzung dieses Paradigmenwechsels in der Begegnung mit beeinträchtigten Menschen. Wie sieht Ihre Arbeit in der Projektgruppe aus?

Stefan Kühnis: Durch Umfragen bei Menschen mit Beeinträchtigung, deren Angehörigen, sowie Fachleuten konnten wir deren Bedürfnisse erfassen und daraus einen Massnahmenplan zur Verbesserung der Situation erstellen. Es ging um Wünsche, Zufriedenheit, Verbesserungsvorschläge in Bezug auf Wohnen, Arbeit und Freizeit.

Wie sieht die weitere Entwicklung aus?

Nächstens wird dieser Massnahmenplan in der Regierung diskutiert, danach geht es an die Umsetzung. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention sind wir verpflichtet, Menschen mit Behinderung die gleichen Rechte und Pflichten einzuräumen wie allen anderen Menschen. Und zwar in allen Lebensbereichen. Das ist ein tiefgreifender Wandel. Aus meiner Sicht bräuchte es dafür eine Fachstelle, die den Auftrag hat, diesen Wandel voranzutreiben.

Wie stellen Sie sich diese Fachstelle vor?

Wenn Inklusion gelingen soll, ist es sicher zwingend, dass Menschen mit Beeinträchtigung in dieser Fachstelle vertreten sind. Um sie geht es, sie müssen also auch mitreden und mitentscheiden können.

Wie sehen Sie die konkrete Umsetzung der Inklusion?

Bestehende Möglichkeiten zum Austausch besser nutzen. Neue Begegnungsmöglichkeiten schaffen.

Damit meinen Sie?

Mich hat schon immer fasziniert, wie das Umfeld gestaltet sein muss, damit Menschen ihr Potenzial entfalten können. Die Behinderungen interessieren mich eigentlich gar nicht gross. Ich bin da auch zu wenig Fachmann. Mich interessiert, was es braucht in der Gesellschaft, um Stärken zu fördern. Das ist viel spannender, als mühsam zu versuchen, die Mankos zu vermindern.

Nehmen wir als Beispiel die Kletterwochen, die Pro Infirmis seit vielen Jahren anbietet. Als Erstes schauen wir immer, was die Teilnehmer können, wo ihre Stärken liegen. Und dann bauen wir eine Kletterwoche zusammen, wo sich die Teilnehmenden als kompetente Menschen erleben können. Hat zum Beispiel jemand zwanghafte Anteile, ist es für ihn eine gute Aufgabe, den anderen den Anseilknoten zu lehren. Alle können sich darauf verlassen, dass er das sehr gewissenhaft machen wird, und somit die Sicherheit beim Klettern gross ist.

Handkehrum setzen wir nicht jemanden zum «Rüebli schälen» ein, der grosse Mühe damit hat. Das mag jetzt sehr einleuchtend oder sogar banal klingen, aber achten sie mal in ihrem Umfeld darauf, wie oft nicht nur beeinträchtigten Menschen etwas beigebracht werden soll, das diesen überhaupt nicht liegt. Oder wie wir gewohnt sind, unsere Aufmerksamkeit auf die Schwächen zu legen und dort ansetzen. Es gehen wertvolle Ressourcen verloren, nebst dem schalen Gefühl des Trainierten, irgendwie nicht «richtig» zu sein.


Die Serie Was es heisst es, Inklusion zu leben? Das will die Gruppe «Mitsprache Glarnerland» zeigen. Die Serie «miteinander und mittendrin» stellte drei Mitglieder der Gruppe vor. Dieses Interview bildet den Abschluss. (red)


Ein hehres Ziel, das eigentlich für alle Mitglieder unserer Gesellschaft wünschenswert ist. Wie beurteilen sie die Chancen auf Erfolg?

Das ist eine gute Frage, denn tatsächlich beunruhigt mich die momentane Entwicklung einigermassen. Ich sehe, dass viele Errungenschaften in Richtung Selbstbestimmung heute wieder vermehrt in Richtung Fremdbestimmung laufen. Sehen Sie sich nur die letzten Abstimmungsresultate an. Mit Fremdbestimmung geht die Vielfalt verloren. Das ist sehr heikel für eine Gesellschaft. Andersdenkende und Andershandelnde dürfen nicht ausgeschlossen werden. Sonst entwickelt sich eine Gesellschaft nicht mehr weiter.

Wo sehen Sie, trotz eher eingeschränkter Aussichten, Ansatzpunkte für mehr Selbstbestimmung?

Die Vielfalt einer Gesellschaft ist für mich ein Schlüssel. In einer vielfältigen Gesellschaft zu leben, bringt für alle weniger «Chrampf», weniger Anpassung, weniger Perfektion, dafür mehr Spass und Begeisterung. Das wäre doch ein schöner Ansatz.

Bamerefreiheit auf dem Prüfstand

(Thurgauer Zeitung)

SP-Gemeinderatsmitglied Ralf Frei fordert, die Zugänglichkeit der Frauenfelder Webseiten zu analysieren.


Der barrierefreie Zugang an Inhalten auf den städtischen Websites soll überprüft werden Bild: Donato Caspari

 

Janine Bollhalder

«Die Websites der Stadt Frauenfeld und ihrer Betriebe prägen das Image der Stadt», schreibt SP-Gemeinderatsmitglied Ralf Frei in seiner Interpellation «Barrierefreies Frauenfeld – mindestens online». Es geht ihm um ein repräsentatives Aussehen dieser digitalen Visitenkarte Frauenfelds sowie darum,allen Anspruchsgruppen und Bevölkerungsschichten Zugang zu digital verfügbaren Informationen und Inhalten zu schaffen.Er ersucht deshalb den Stadtrat um Beantwortung von vier Fragen.

1 Wie ist der heutige Stand der Barrierefreiheit in Bezug auf die Web Content Accessibility Guidelines(WCAG)?

Die WCAG sind internationale Richtlinien für barrierefreie Webinhalte. Sie präsentieren Forderungen, um Personen mit sensorischen, motorischen, kognitiven oder altersbedingten Einschränkungen den Zugang zu Webinhalten zu ermöglichen.Frei hat in seiner Interpellation mehrere Beispiele der Unzulänglichkeiten der städtischen Websites aufgeführt, etwa die städtischen Filmpublikationen.Er schreibt, dass für Menschen mit schwachem Hörvermögen oder fremdsprachige Personen Untertitel hilfreich wären. Auch einzelne Farbkontraste zwischen der Schrift und dem Hintergrund seien nicht ausreichend. «Das schränkt die Lesbarkeit für sehbehinderte Personen ein.»

2 Welche Massnahmen zur Verbesserung des jetzigen Zustands sind geplant?

Da Menschen mit einer Behinderung das Internet deutlich häufiger nutzen als der Durchschnitt der Bevölkerung, wie Frei schreibt, müssen die geschilderten Unzulänglichkeiten der städtischen Websites angegangen werden. Die WCAG-Richtlinien sind in vier Prinzipien eingeteilt: «wahrnehmbar»,«bedienbar», «verständlich» und «robust».

3 Welche Massnahmen im Bezug auf Aufwand,Kosten und möglichen Zeitplan müssten für eine «AA+»-Zertifizierung der Stiftung «Zugang für alle» ergriffen werden?

Die Stiftung «Zugang für alle»ist eine unabhängige Zertifizierungsstelle für barrierefreie Websites in der Schweiz. Sie bietet Zertifikate mit unterschiedlichen Prioritäten an, die auf den WCAG-Richtlinien basieren. Es gibt drei Konformitätsstufen – A,AA, AAA – wobei die Stufe AA für Webangebote der öffentlichen Hand verbindlich vorgeschrieben ist.

Frei schreibt, dass die Stiftung die Stufe AA+ empfiehlt,um effektiv barrierefreien Zugang zu Websites zu schaffen sowie das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) einzuhalten. Diese Zertifizierung erfüllt alle Kriterien der Stufen A und AA sowie zusätzlich sinnvolle AAA-Kriterien und ist kompatibel mit den Richtlinien des Bundes für die Gestaltung barrierefreier Internetangebote.

4 Ist der Stadtrat bereit, die erwähnte Zertifizierung anzustreben und falls ja, bis wann?

Der effektive Umfang zur Erlangung des Zertifikats aufgrund der Komplexität der Websites der Stadt Frauenfeld sowie der Betriebe sei schwer abzuschätzen, schreibt Frei. Es bedürfe weiterer Abklärungen.Die Interpellation hat er am 16. Juni eingereicht. 28 Ratsmitglieder haben unterzeichnet. Interpellationen werden vom Stadtrat umgehend oder auf eine der nächsten Sitzungen beantwortet. Diese Antwort erfolgt meistens schriftlich.

«EinzelneFarbkontrasteschränkendie Lesbarkeit fürsehbehindertePersonen ein.»

Ralf Frei
SP-Gemeinderatsmitglied

 


Hinweis
Mehr Informationen unter www.access-for-all.ch

Verband kritisiert Richtungswechsel in der Behindertenpolitik

(Berner Landbote)

SPARMASSNAHMEN – Sozialdirektor Pierre Alain Schnegg kürzt der Kantonalen Behindertenkonferenz die finanzielle Unterstützung. Der Dachverband mit rund 40 Mitgliederorganisationen will sich wehren und startet eine Petition.

Regierungsrat Pierre Alain Schnegg(SVP) führt seinen Sparkurs fort. Dieses Mal trifft es die Kantonale Behindertenkonferenz (KBK), den Dachverband vonrund 40 Organisationen, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzen.

«Wir nehmen die Anliegen von Menschen mit Behinderungen auf, bündeln sie und vertreten sie in der Politik und in der Gesellschaft», erklärt Geschäftsleiterin Yvonne Brütsch die Tätigkeit der KBK. Der Verband bezeichnet sich als «die Stimme der Menschen mit Behinderungen» und vermittelt in Gremien zwischen Kanton und Betroffenen. Er arbeite eng mit den Mitgliederorganisationen zusammen, zu denen unter anderem die Vereinigung Cerebral, Pro Infirmis und das Psychiatriezentrum Münsingen gehören.

Diese Aufgaben würden künftig nicht mehr vom Kanton finanziert. Die Behindertenkonferenz hat deshalb eine Petition gestartet, in der sie den Regierungsrat auffordert, die Finanzierung der KBK sicherzustellen, um den Einbezug der Direktbetroffenen in die Politik zu gewährleisten und gesetzlich zu verankern.


Wer repräsentiert künftig Menschen mit Behinderungen in Politik und Gesellschaft? pixabay

 

Beat Wyser, Projektleiter bei der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI), teilt auf Anfrage mit,dass es nicht Aufgabe des Kantons sein könne, Verbände, die nicht mit einer konkreten Leistung in Zusammenhang stünden, zu subventionieren. Dies betreffe nicht nur die KBK.

Verliert Bern seine Vorreiterrolle?

Einzelne Projekte der KBK werden weiterhin vom Kanton unterstützt. Darunter ist die Ärgerbox, wo Anliegen, Barrieren und Hindernisse für Menschen mit Behinderung im Kanton Bern gemeldet werden können. Auch die Website Participa wird weiterhin unterstützt.Dort finden Menschen mit Beeinträchtigung Informationen, Kontaktadressen für den Alltag, Austausch und Beratung.Auch wird die Behindertenpolitik des Kantons barrierefrei in leichter Sprache und Gebärdensprache erklärt.

Seit mehr als zehn Jahren hat die KBK einen Leistungsvertrag mit dem Kanton Bern. «Bei der Ausarbeitung des Berner Modells haben wir intensiv mitgedacht und unser Fachwissen zur Verfügung gestellt.» Das Berner Modell – das neue,progressive Behindertenleistungsgesetz – soll 2023 in Kraft treten und sieht vor, dass Personen mit Behinderungen einen auf ihre Bedürfnisse angepassten Betrag erhalten, mit dem sie individuell Betreuungspersonen anstellen können.Bisher wurden Pauschalen an Institutionen bezahlt. Mit dem neuen Gesetz sollen die betroffenen Menschen selbst wählen können, ob sie in einer Institution oder privat wohnen möchten.

Im Gesetzesentwurf sei jedoch die Einschränkung dieser Wahlfreiheit vorgesehen. Menschen mit sehr hohem Betreuungsaufwand könnten dann nicht mehr wählen, wie sie wohnen möchten.Schnegg habe einen Richtungswechsel in der Behindertenpolitik eingeschlgen. «Er hält an den Grundsätzen fest,setzt sie aber nicht konsequent um», kritisiert Brütsch.

Kleine Organisationen überfordert

Viele Mitgliederorganisationen wären überfordert, wenn der Dachverband wegfiele, so Manuela Kocher von Autismus Bern. Viele würden ehrenamtlich funktionieren und könnten den Verband nicht mitfinanzieren. Brütsch:«Für kleine Organisationen ist es oft schwierig, das nötige Know-how aufzubauen und am richtigen Ort zum richtigen Moment einzubringen.» Laut Wyser von der GSI könnten die Mitgliederorganisationen ihre Anliegen jederzeit beim Kanton deponieren. «Etliche werden bereits durch die GSI finanziert.»

Viele Menschen mit Behinderungen fühlten sich im Stich gelassen, schreibt die KBK. Sie wolle sich deshalb mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den regierungsrätlichen Entscheid wehren.
Sarah Wyss

Typisch Asperger? Gibts nicht!

(tagesanzeiger.ch)

Warum unsere Autorin die Berichterstattung rund um Tesla-CEO Elon Musk’s Autismus-Diagnose verletzend findet.

von Marah Rikli

Tesla-CEO Elon Musk ist ein umstrittener Visionär. Er baut aktuell mit seinem Raumfahrtunternehmen SpaceX in Texas eine Raketenstation und will Menschen auf den Mars bringen. Sein Vermögen wird auf über 150 Milliarden Dollar geschätzt. Sicherlich ist ein kritischer Blick auf seine Person angebracht. Doch die Art und Weise, wie im Artikel: «Elon Musk sagt, er habe Asperger. Kann das sein?» der «Neuen Zürcher Zeitung» in Zusammenhang mit dem Milliardär im Allgemeinen über eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) berichtet wird, ist befremdend.

«Nie ohne uns, über uns!»

«Überall, wo man über uns redet oder bestimmt, wollen wir auch miteinbezogen werden», forderte 2017 Nationalrat und Pro-Infirmis-Vize-Präsident Christian Lohr mit seiner Interpellation an den Bundesrat. Dies sollte nicht nur in der Politik, sondern auch in Berichterstattungen ernst genommen werden. Eine Mutter, die selbst sowie ihre beiden Söhne von ADHS und ASS betroffen sind, sagt mir im Gespräch am Telefon: «Nie ohne uns, über uns». Im Artikel der «NZZ» kommt hingegen kein einziger Mensch im Autismus-Spektrum zu Wort.

«Asperger ist eine Art von Autismus. Und Autismus kommt in vielen verschiedenen Ausprägungen …», schreibt die Autorin. Im Text wird daraufhin anhand von stereotypen Beispielen das Spektrum erklärt, ein Psychiater kommt auch noch zu Wort. Doch Erklärungen bleiben oberflächlich und fachlich unerklärt.

Die wichtigsten ASS-Varianten:

Dabei wäre erst einmal wichtig zu wissen, welches die drei wichtigsten Varianten der Autismus-Spektrums-Störungen sind:

  • der Frühkindliche Autismus
  • das Asperger-Syndrom, auch hochfunktionaler Autismus genannt (HFA)
  • der Atypische Autismus

Forschungen zeigen, dass die Varianten häufig nicht klar voneinander abzugrenzen sind. Deshalb spricht man heute nicht mehr von dem Asperger-Syndrom sondern von Autismus-Spektrums-Störung(en) (ASS) mit fliessenden Übergängen. Die Ausprägungsformen reichen von milden bis hin zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen.

Typisch und untypisch Asperger?

«Typischerweise verhalten sich Asperger-Autisten im Beisein von anderen Menschen immer mal wieder unangebracht. Vielleicht sagen sie zur Nachbarin: ‹Jetzt hast du aber hässliche neue Vorhänge gekauft›», schreibt die Autorin weiter. «Typisch Asperger» erklärt sie so: «Sie mögen bisweilen unangemessen direkt, tollpatschig oder respektlos scheinen, aber sie investierten oft viel Energie, um Fettnäpfchen möglichst zu umgehen.» Und als «untypisch Asperger» bezeichnet sie Episoden in Musks Leben, in denen er viel umzog, neue Arbeitsstellen antrat und Flexibilität zeigen musste.

«Weg vom Schubladendenken, hin zu mehr Toleranz und Individualität.»

Betroffene erleben immer wieder, wie verbreitet ein solch einseitiges und verallgemeinerndes Bild von Autismus-Spektrum-Störungen ist. «Eine Lehrperson sagte mir in einem Elterngespräch, mein Kind könne gar keinen Autismus haben, es gebe mir ja zum Abschied schliesslich die Hand», erzählt mir eine Mutter. Das ist zermürbend und verletzend. Und sie fügt an: «Solche Berichterstattungen in den Medien verstärken diese Vorurteile immer wieder».

Dabei sind Menschen im ASS genauso vielfältig, wie neurotypische Menschen. Das schreibt nicht nur der Verein Autismus Deutsche Schweiz auf seiner Website. Sara Satir, Coach, Kolumnistin und selbst Mutter eines jungen Mannes im Spektrum, antwortet mir auf meine Frage hin, was Sie sich von Berichterstattungen wünschte: «Wenn du einen Menschen mit Autismus-Spektrum kennst, kennst du genau nur einen. Anstatt immer wieder aufs Neue Stereotype abzubilden, würde ich mir als Mutter eines Kindes mit Autismus-Spektrum wünschen, dass der Fokus mehr auf den einzelnen Bedürfnissen der betroffenen Menschen liegt. Weg vom Schubladendenken, hin zu mehr Toleranz und Individualität.»

Halbwissen über Therapien

«Um möglichst ‹normal› zu scheinen, besuchen sie Kurse, wo sie lernen, die Gefühle ihrer Mitmenschen auf eine individuelle Weise zu lesen…», schreibt die «NZZ» zur Hilfe für Menschen im ASS. Therapien und Seminare sindkein «Crash-Kurs»: Heilpädagogische Früherziehung, Ergo-, Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Physio-, Musik- und Hypotherapie geführt und begleitet durch Fachpersonen sind intensiv und verlangen von allen Beteiligten viel ab

Zudem brauchen nicht alle Menschen im ASS eine Therapie. Auch hier herrscht eine grosse Bandbreite. Sara Jonah Utopia (17) ist selbst autistisch und hat kürzlich das Buch veröffentlicht: «Wie es sich lebt» – eine Textsammlung über das Leben mit Autismus. In einem Brief an die «NZZ» schreibt Sara dazu: «Ich habe noch nie von solchen‹Kursen› gehört. Vielen von uns merkt man gar nicht an, dass wir neurodivers sind, da wir seit Jahren gelernt haben,wie die Gesellschaft will, dass wir uns verhalten».

Betroffene und Angehörige stehen unter Generalverdach

Diagnosen können und sollen kritisch hinterfragt werden – auch ich bin skeptisch, wenn beispielsweise kleine Kinder immer mehr und immer früher pathologisiert werden. Doch das Hinterfragen verlangt Achtsamkeit und Empathie. Indem er Musks ASS-Diagnose anzweifelt, zementiert dieser Artikel, was ich selbst immer wieder erlebe:die Diagnose meiner Tochter wird ohne Rücksicht auf unsere Gefühle infrage gestellt. Vielleicht ist doch die schlechte Erziehung oder ein ungesunder Lebensstil der Grund? Andere Betroffene erzählen mir, wie sie schon hörten, sie wollten sich mit ihrer Diagnose «wichtig» machen. Zudem stehen viele IV-Bezügerinnen unter Dauerbeobachtung oder in einer Beweispflicht, erleben eine gesellschaftliche Stimmung des Misstrauens.

«Mit der richtigen Therapie blühen Betroffene bisweilen auf. Von Elon Musk können sich wohl einige etwas abschauen. Und sei es nur der Wille, gewisse Menschen auf den Mars zu schiessen», schreibt die Autorin in ihrem Artikel weiter über ASS-Betroffene. Ich frage mich: Was will die Autorin damit sagen? Dass Menschen im ASS, wenn sie schon so sind, wie sie sind, mindestens etwas Besonderes leisten müssten, um gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten?

Sara Jonah stellt klar: «Nicht alle Menschen mit einer ASS machen eine Therapie. Nicht für alle ist dies nötig. Wir blühen auch sonst auf.» Und führt an: «Wir müssen uns nicht anpassen lernen, um leistungsfähig zu sein. Ich verstehe nicht, was ich mir von Elon Musk abschauen sollte. Wie wir Betroffenen mit unserem Autismus umgehen,ist uns allen selbst überlassen, es gibt keinen falschen, und keinen richtigen Weg dafür.»

Klein gehaltene Minderheiten

Es ist nicht neu, dass man Menschen aus sogenannten Minderheiten nicht für «voll» nimmt. Bedürfnisse von Queers beispielsweise werden von gewissen Medien, von Politikerinnen und Politikern immer wieder heruntergespielt und ins Lächerliche gezogen (Coming-Outs sind doch nur ein Trend).

Nun ist Elon Musk nicht ein Mensch, um den ich mich sorge: Er ist männlich, heterosexuell, weiss, reich und mächtig. Das legitimiert für mich jedoch nicht den verächtlichen Ton, der im Artikel mitschwingt, wenn die Autorin schreibt: In typisch amerikanischer Manier feiere das Publikum die Offenbarung, als wäre Asperger eine Auszeichnung. Und dabei gleich auch noch stereotype Männlichkeitsbilder bedient: «Ein harter Typ zeigt eine verletzliche Seite».

Sara Jonah Utopia bringt es auf den Punkt: «Was ist falsch daran, zu applaudieren, wenn ein Mensch sich traut, zusich zu stehen? Ein solcher Schritt braucht Mut. Klar ist eine Autismus-Spektrums-Störung keine Auszeichnung,jedoch auch keine ‹verletzliche Seite›. Sie ist ein Teil von jedem Menschen mit ASS – ein Teil, der zu diesem Menschen gehört, wie die Haare oder der Finger».


Machte seine Autismus-Diagnose jüngst publik: Elon Musk.Foto: Getty Images

 

Marah Rikli leitet eine Buchhandlung und ist freie Autorin und Journalistin. Sie ist in einer Patchworkfamilie mit sechs Geschwistern aufgewachsen und lebt heute mit ihrem Mann, ihrem Sohn (16) und ihrer beeinträchtigten Tochter (6) in Zürich.


Marah Rikli

 

Finanzhilfe für den Einbezug von Behinderten

(Freiburger Nachrichten)

80000 Franken stellt der Kanton zur Verfügung, um gemeinschaftliche Projekte zur Inklusion von Menschen mit Behinderung zu unterstützen.

FREIBURG Die Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und ihren Einbezug in die Gesellschaft fördern: Das ist das Ziel der kantonalen Politik für Menschen mit Behinderung.
Der dafür vom Staatsrat ausgearbeitete Massnahmenplan 2018-2022 sieht unter anderem vor, deren Teilnahme an Vereins- und Gemeinschaftsaktivitäten mit 80 000 Franken zu unterstützen. Ab sofort können Projektträger einen Antrag auf finanzielle Unterstützung einreichen. Eine siebenköpfige Jury, in welcher Menschen mit und ohne Behinderung vertreten sind, wird entscheiden, welche Projekte unterstützt werden, schreibt die Direktion für Gesundheit und Soziales in einer Mitteilung.

Alle können sich melden

Eine solche finanzielle Hilfe beantragen können Gemeinden, Sportvereine, Pfadfindergruppen,Quartiervereine,Chöre, Theatergruppen oder andere im Kanton ansässige Vereinigungen, welche es Menschen mit und ohne Behinderungen ermöglichen, sich zu
begegnen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen und vom Austausch untereinander profitieren. Im Rahmen der Projekte sei es auch möglich, angepasste Informations- und Kommunikationsmittel zu finanzieren.

Interessierte Personen und Gruppen können ihre Projekte mit den Unterlagen bis zum 30 September beim Sozialvorsorgeamt einreichen. Weitere Infos gibt auch die Website des Sozialvorsorgeamtes.
uh

« Das Problem ist, dass wir an den Regelschulen zu wenig Möglichkeiten haben»

(Schweiz am Wochenende/Aarau)

Nachgefragt Im Aargau gibt es 28 kantonale Einrichtungen – Schulen, Kindergärten und Heime – für beeinträchtigte Kinder und Jugendliche, die keine Regelschule besuchen. Dass speziell an jenen, welche kognitiv beeinträchtigte Kinder schulen, der Platz knapp ist,merkt auch die Beeinträchtigten-Organisation Pro Infirmis. Auch bei ihr wer den verzweifelte Eltern vorstellig, wenn für ihr Kind kein Platz an einer Schule gefunden werden kann.

Pro Infirmis setzt sich für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen in der Regelschule ein. Der Leiter der Geschäftsstelle Aargau-Solothurn, John Steggerda, erzählt, warum Pro Infirmis daran festhält.

Die Sonderschulen im Aargau sind,trotz hoher Sonderschuldichte,überbelegt. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Es ist ein Zeichen dafür, dass noch im-mer nicht genügend Kinder mit Beeinträchtigung in der Regelschule integriert sind. Man schöpft das Potenzial der «Schule für Alle» nicht voll aus,obwohl das Konzept vorhanden wäre.Die Haltung von Pro Infirmis ist klar:Kinder mit einer Behinderung sollen nach Möglichkeit in der Regelschule unterrichtet werden. Wir sind Verfechter einer inklusiven Bildung, und das sieht auch die UNO-Behindertenrechtskonvention so vor. Solange es eine Sonderschule gibt, werden Kinder ausgegrenzt.

Warum?

Wenn die Menschen sich nicht begegnen, gibt es keine Inklusion. Wenn Kinder mit Beeinträchtigungen eine andere Schule besuchen als die anderen Kinder im Dorf, ist es für sie schwierig,sich unter Gleichaltrigen zu integrieren.Das fängt damit an, dass sie keinen gemeinsamen Schulweg mit den Gspänli aus dem Quartier haben. Die Vernetzung ist für sie dann eine ganz andere.

Diese Inklusion kann auch in der Freizeit stattfinden, warum wird der Fokus so auf die Schule gelegt?

An der Schule wird mehr vermittelt als Lerninhalte, es geht auch um soziale Kontakte, Gruppendynamiken und darum, Teil einer Gesellschaft zu sein. Sozialkompetenzen werden gefördert,wo Kinder mit einer Behinderung eine Regelschule besuchen, das hat man beispielsweise an Schulen in Basel festgestellt – schulisch waren die Kinder dabei auf dem gleichen Stand wie Klassen der gleichen Stufe ohne integrierte Kinder. Die Inklusion ist also für alle bereichernd und ein grosser Gewinn.


John Steggerda, Leiter der kantonalen Geschäftsstelle von Pro Infirmis. Bild: sz

 

Doch ist es überhaupt realistisch,dass dereinst alle Kinder mit Beein-trächtigungen eine Regelschulebesuchen können?

Es wird immer Kinder geben, welche die intensive Betreuung der Sonderschule brauchen. Heute bekommen sie aber teilweise keinen Platz, weil andere Kinder, die inkludiert werden könnten,in der Sonderschule sind. Das führt unter Umständen sogar dazu, dass in Einzelfällen Kinder für eine gewisse Zeit gar keine Schule besuchen können.Das Problem ist eben nicht, dass wir zu wenig Plätze an den Sonderschulen haben, sondern zu wenig Möglichkeiten an der Regelschule. An der Sonderschule werden Ressourcen gebunden, die für die Inklusion in der Regelschule aufgewendet werdenkönnten. (evaO

Menschen mit einer geistigen Behinderung sollen bald abstimmen und wählen dürfen

(Neue Zürcher Zeitung)

Der Ständerat verlangt vom Bundesrat Grundlagen für eine Verfassungsrevision


Die politischen Rechte stehen gemäss Verfassung heute allen Schweizerinnen und Schweizern über 18 Jahre zu, die «nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt» sind. CHRISTIAN BEUTLER / KEYSTONE

 

von Daniel Gerny

Abstimmen und wählen – das war für die heute 54-jährige N. R. bis vor wenigen Jahren eine gesetzliche Tabuzone.Bis 2014 war die Bernerin wegen «Geistesschwäche» vollumfänglich bevormundet. Erst seit das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft getreten ist, kann sie politisch mitbestimmen. «Ich habe seither keine Wahl und keine Abstimmung verpasst», sagte N.R. gegenüber dem Magazin «Insieme», das sich mit dem Leben und dem Alltag mit einer geistigen Behinderung befasst.Weil anstelle der früheren Vormundschaft die massgeschneiderte Beistandschaft trat, erhielten damals Tausende von Schweizerinnen und Schweizer die politischen Rechte.

Doch noch immer sind rund 15 000 Personen in Bund und Kantonen von Abstimmungen und Wahlen ausgeschlossen – nämlich all jene, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter «umfassender Beistandschaft» stehen.Eine umfassende Beistandschaft wird errichtet, wenn eine Person sich durch selbstschädigende Handlungen gefährdet und ihr Schutz nicht auf andere Art erbracht werden kann. Die Bundesverfassung formuliert den Ausschluss vom politischen Leben ganz im Sprachgebrauch des frühen 20. Jahrhunderts und ziemlich ungehobelt so: Die politischen Rechte stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben «und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt» sind.

Undemokratisch und ungerecht

Doch was braucht es überhaupt, um politische Entscheidungen treffen zu können? Eine geistige oder psychische Behinderung führe zwar möglicherweise dazu, dass jemand nicht mehr in der Lage sei, seine Geschäfte zu erledigen oder Verträge abzuschliessen.Doch das bedeute nicht, dass der Betroffene sich in politischen Angelegenheiten keine Meinung bilden könne, sagt Georg Mattmüller. Der baselstädtische SP-Politiker ist Geschäftsführer des Behindertenforums Basel und wurde in seinem Kanton selbst aktiv.

Heute seien Personen mit autistischer Veranlagung, Trisomie 21 oder mit psychischen Problemen von politischen Entscheidungen pauschal ausgeschlossen, obwohl die Urteilsfähigkeit in Bezug auf politische Geschäfte sowie der Wille und das Interesse an der Mitbestimmung oftmals vorhanden seien,so Mattmüller: «Auch wenn davon nur wenige Personen betroffen sind, widerspricht das unserem Verständnis von Demokratie und Gerechtigkeit.»

Seit Jahren verlangen die Behindertenorganisationen eine Änderung des geltenden Rechts. Auch im Ausland geraten die Beschränkungen unter Druck:Bereits vor zwei Jahren hat der Deutsche Bundestag beschlossen, dass Behinderte von den Wahlen nicht mehr pauschal ausgeschlossen sind, nachdem das Bundesverfassungsgericht dies als verfassungswidrig eingestuft hatte. Am Dienstag hat der Ständerat zwei Vorstösse mit ähnlicher Stossrichtung überwiesen. Der Bundesrat muss nun die Diskussionsgrundlage für eine mögliche Verfassungsrevision liefern.

Hintergrund ist einerseits die internationale Rechtslage. So hat sich die Schweiz mit dem Beitritt zur Uno-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2014 dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung politische Rechte zu gewähren. Der Entzug des Stimmrechts sei laut einer strengen Auslegung konventionswidrig, erklärte Bundeskanzler Walter Thurnherr im Ständerat. Der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung erachtet einen Entzug der politischen Rechte wegen einer Behinderung sogar in jedem Fall als unzulässig.

Auch auf kantonaler Ebene wird die Frage diskutiert. Als erster Kanton hat Genf seine Kantonsverfassung im vergangenen November angepasst. Drei Viertel der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stimmten damals einer Reform zu, wonach die rund 1200 Betroffenen im Kanton politische Rechte erhalten. In Neuenburg, dem Tessin, der Waadt und Basel-Stadt steht das Thema ebenfalls auf der Traktandenliste. Dass das Thema in der Westschweiz und im Tessin höhere Aufmerksamkeit geniesst, ist kein Zufall:Zwei Drittel aller Fälle von umfassender Beistandschaft betreffen die romanische Schweiz, was auf eine unterschiedliche Praxis in Bezug auf die Erwachsenenschutz-Massnahmen hindeutet.

Der Blick in die Regionen zeigt indes auch, dass das Anliegen nicht unumstritten ist. So sind in den Kantonen Wallisund Freiburg Vorstösse bereits auf parlamentarischer Ebene gescheitert. Vor allem die Angst vor Missbrauch wird von Gegnerinnen und Gegnern ins Feld geführt. Wie gross die Chancen für eine Verfassungsrevision auf Bundesebene wären,ist deshalb zum heutigen Zeitpunkt völlig offen. Die grösste Befürchtung lautet,dass Drittpersonen das Stimmrecht anstelle von behinderten Personen ausüben und auf diese Weise knappe Abstimmungen beeinflussen könnten.

Für Mattmüller ist diese Gefahr gemessen am sonstigen Missbrauchspotenzial bei den politischen Rechten allerdings geradezu vernachlässigbar:Die Hälfte aller Stimmunterlagen lande heute im Müll. Es lasse sich deshalb viel leichter manipulieren, indem man unbenutzte Formulare im familiären Umfeld ausfülle, erklärt er. Schon allein zahlenmässig sei das Risiko zusätzlichen Missbrauchs äusserst gering: In Basel-Stadt wären von einer Änderung nur gerade rund 130 Personen betroffen.

Thurnherr machte im Ständerat auf eine weitere Inkonsistenz der geltenden Rechtslage aufmerksam: So erhalten bereits heute Personen mit dauernder Urteilsunfähigkeit regelmässig Stimmunterlagen. Dies ist dann der Fall, wenn sie nicht umfassend verbeiständet sind,weil ihr Schutz auf andere Weise sichergestellt werden kann.

Was ist mit Demenzkranken?

Offen ist allerdings, wie der Einbezug umfassend verbeiständeter Personen in die politische Entscheidung im Detail aussehen soll. In Genf ist die Bestimmung, wonach Personen unter umfassender Beistandschaft von den politischen Rechten ausgeschlossen sind, vollumfänglich gestrichen worden – mit der Folge, dass in Zukunft möglicherweise auch Personen an die Urne gehen könnten, die dazu tatsächlich nicht unbedingt in der Lage sind. Denkbar wäre es deshalb auch, dass im bestimmten Fällen geprüft wird, ob die Urteilsfähigkeit in Bezug auf die politische Willensbildung vorhanden ist.

Allerdings stellen sich auch bei einer solchen Variante schwierige Fragen. Sowäre es schwer erklärbar, weshalb einTeil der Bevölkerung den Nachweis der Urteilsfähigkeit erbringen muss – während der andere voraussetzungslos abstimmen darf. Vor allem im Falle von schweren Demenzerkrankungen würde sich die Frage stellen, ob ein Verfahren zum Entzug oder zur Sistierung der politischen Rechte eingeführt werden müsste -ein politisch wohl aussichtsloses Unterfangen. Dasselbe würde für Jugendliche unter 18 Jahren gelten, die heute ebenfalls pauschal vom Stimmrecht ausgeschlossen sind – obwohl viele von ihnen bereits politisch interessiert und aktiv sind.

Menschen mit Behinderungen fordern heute mehr Rechte ein

(Walliser Bote)

Nach 21 Jahren übergibt Fux-campagna-Präsident Rene Bayard das Zepter an Patrick Schmidt. Das Umfeld ist im Wandel

 

«Unsere Palliativpflege ist fast schon mit dem Standard im Spital vergleichbar», sagt Jeizinerdeshalb.


Heimleiter Donat Jeiziner (Mitte), flankiert von den alten und neuen Stiftungsratspräsidenten Rene Bayard (links) und Patrick Schmidt.Bild: zvg

 

Leistungen für 450000 Personen im Jahr 2020

(Schweizer Personalvorsorge Aktuell)

Die Eidgenössische Invalidenversicherung (IV) richtete 2020 an rund 450 000 Personen Leistungen aus. Sie schloss 2020 bei Ausgaben von 9.6 Milliarden miteinem Defizit von 0.4 Mrd. Franken (Umlageergebnis).

Den grössten Ausgabenteil bildeten die Renten mit 5.3 Mrd. Franken. Von 247 000 Invalidenrenten wurden rund 218 000 in der Schweiz und 29 000 im Ausland ausgerichtet. Die individuellen Massnahmen kosteten rund 2 Mrd. Franken und kamen 211 000 Versicherten zugute. Mit 110 000 Leistungen standen die medizinischen Massnahmen (vor allem bei Kindern mit Geburtsgebrechen) an der Spitze, es folgte die Abgabe von Hilfsmitteln an 65 000 Personen. Für rund 47 000 Personen vergütete die IV Massnahmen zur beruflichen Eingliederung im Umfang von 790 Mio. Franken,wie aus der IV-Statistik 2020 hervorgeht.