Menschen mit einer geistigen Behinderung sollen bald abstimmen und wählen dürfen

(Neue Zürcher Zeitung)

Der Ständerat verlangt vom Bundesrat Grundlagen für eine Verfassungsrevision


Die politischen Rechte stehen gemäss Verfassung heute allen Schweizerinnen und Schweizern über 18 Jahre zu, die «nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt» sind. CHRISTIAN BEUTLER / KEYSTONE

 

von Daniel Gerny

Abstimmen und wählen – das war für die heute 54-jährige N. R. bis vor wenigen Jahren eine gesetzliche Tabuzone.Bis 2014 war die Bernerin wegen «Geistesschwäche» vollumfänglich bevormundet. Erst seit das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft getreten ist, kann sie politisch mitbestimmen. «Ich habe seither keine Wahl und keine Abstimmung verpasst», sagte N.R. gegenüber dem Magazin «Insieme», das sich mit dem Leben und dem Alltag mit einer geistigen Behinderung befasst.Weil anstelle der früheren Vormundschaft die massgeschneiderte Beistandschaft trat, erhielten damals Tausende von Schweizerinnen und Schweizer die politischen Rechte.

Doch noch immer sind rund 15 000 Personen in Bund und Kantonen von Abstimmungen und Wahlen ausgeschlossen – nämlich all jene, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter «umfassender Beistandschaft» stehen.Eine umfassende Beistandschaft wird errichtet, wenn eine Person sich durch selbstschädigende Handlungen gefährdet und ihr Schutz nicht auf andere Art erbracht werden kann. Die Bundesverfassung formuliert den Ausschluss vom politischen Leben ganz im Sprachgebrauch des frühen 20. Jahrhunderts und ziemlich ungehobelt so: Die politischen Rechte stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben «und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt» sind.

Undemokratisch und ungerecht

Doch was braucht es überhaupt, um politische Entscheidungen treffen zu können? Eine geistige oder psychische Behinderung führe zwar möglicherweise dazu, dass jemand nicht mehr in der Lage sei, seine Geschäfte zu erledigen oder Verträge abzuschliessen.Doch das bedeute nicht, dass der Betroffene sich in politischen Angelegenheiten keine Meinung bilden könne, sagt Georg Mattmüller. Der baselstädtische SP-Politiker ist Geschäftsführer des Behindertenforums Basel und wurde in seinem Kanton selbst aktiv.

Heute seien Personen mit autistischer Veranlagung, Trisomie 21 oder mit psychischen Problemen von politischen Entscheidungen pauschal ausgeschlossen, obwohl die Urteilsfähigkeit in Bezug auf politische Geschäfte sowie der Wille und das Interesse an der Mitbestimmung oftmals vorhanden seien,so Mattmüller: «Auch wenn davon nur wenige Personen betroffen sind, widerspricht das unserem Verständnis von Demokratie und Gerechtigkeit.»

Seit Jahren verlangen die Behindertenorganisationen eine Änderung des geltenden Rechts. Auch im Ausland geraten die Beschränkungen unter Druck:Bereits vor zwei Jahren hat der Deutsche Bundestag beschlossen, dass Behinderte von den Wahlen nicht mehr pauschal ausgeschlossen sind, nachdem das Bundesverfassungsgericht dies als verfassungswidrig eingestuft hatte. Am Dienstag hat der Ständerat zwei Vorstösse mit ähnlicher Stossrichtung überwiesen. Der Bundesrat muss nun die Diskussionsgrundlage für eine mögliche Verfassungsrevision liefern.

Hintergrund ist einerseits die internationale Rechtslage. So hat sich die Schweiz mit dem Beitritt zur Uno-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2014 dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung politische Rechte zu gewähren. Der Entzug des Stimmrechts sei laut einer strengen Auslegung konventionswidrig, erklärte Bundeskanzler Walter Thurnherr im Ständerat. Der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung erachtet einen Entzug der politischen Rechte wegen einer Behinderung sogar in jedem Fall als unzulässig.

Auch auf kantonaler Ebene wird die Frage diskutiert. Als erster Kanton hat Genf seine Kantonsverfassung im vergangenen November angepasst. Drei Viertel der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stimmten damals einer Reform zu, wonach die rund 1200 Betroffenen im Kanton politische Rechte erhalten. In Neuenburg, dem Tessin, der Waadt und Basel-Stadt steht das Thema ebenfalls auf der Traktandenliste. Dass das Thema in der Westschweiz und im Tessin höhere Aufmerksamkeit geniesst, ist kein Zufall:Zwei Drittel aller Fälle von umfassender Beistandschaft betreffen die romanische Schweiz, was auf eine unterschiedliche Praxis in Bezug auf die Erwachsenenschutz-Massnahmen hindeutet.

Der Blick in die Regionen zeigt indes auch, dass das Anliegen nicht unumstritten ist. So sind in den Kantonen Wallisund Freiburg Vorstösse bereits auf parlamentarischer Ebene gescheitert. Vor allem die Angst vor Missbrauch wird von Gegnerinnen und Gegnern ins Feld geführt. Wie gross die Chancen für eine Verfassungsrevision auf Bundesebene wären,ist deshalb zum heutigen Zeitpunkt völlig offen. Die grösste Befürchtung lautet,dass Drittpersonen das Stimmrecht anstelle von behinderten Personen ausüben und auf diese Weise knappe Abstimmungen beeinflussen könnten.

Für Mattmüller ist diese Gefahr gemessen am sonstigen Missbrauchspotenzial bei den politischen Rechten allerdings geradezu vernachlässigbar:Die Hälfte aller Stimmunterlagen lande heute im Müll. Es lasse sich deshalb viel leichter manipulieren, indem man unbenutzte Formulare im familiären Umfeld ausfülle, erklärt er. Schon allein zahlenmässig sei das Risiko zusätzlichen Missbrauchs äusserst gering: In Basel-Stadt wären von einer Änderung nur gerade rund 130 Personen betroffen.

Thurnherr machte im Ständerat auf eine weitere Inkonsistenz der geltenden Rechtslage aufmerksam: So erhalten bereits heute Personen mit dauernder Urteilsunfähigkeit regelmässig Stimmunterlagen. Dies ist dann der Fall, wenn sie nicht umfassend verbeiständet sind,weil ihr Schutz auf andere Weise sichergestellt werden kann.

Was ist mit Demenzkranken?

Offen ist allerdings, wie der Einbezug umfassend verbeiständeter Personen in die politische Entscheidung im Detail aussehen soll. In Genf ist die Bestimmung, wonach Personen unter umfassender Beistandschaft von den politischen Rechten ausgeschlossen sind, vollumfänglich gestrichen worden – mit der Folge, dass in Zukunft möglicherweise auch Personen an die Urne gehen könnten, die dazu tatsächlich nicht unbedingt in der Lage sind. Denkbar wäre es deshalb auch, dass im bestimmten Fällen geprüft wird, ob die Urteilsfähigkeit in Bezug auf die politische Willensbildung vorhanden ist.

Allerdings stellen sich auch bei einer solchen Variante schwierige Fragen. Sowäre es schwer erklärbar, weshalb einTeil der Bevölkerung den Nachweis der Urteilsfähigkeit erbringen muss – während der andere voraussetzungslos abstimmen darf. Vor allem im Falle von schweren Demenzerkrankungen würde sich die Frage stellen, ob ein Verfahren zum Entzug oder zur Sistierung der politischen Rechte eingeführt werden müsste -ein politisch wohl aussichtsloses Unterfangen. Dasselbe würde für Jugendliche unter 18 Jahren gelten, die heute ebenfalls pauschal vom Stimmrecht ausgeschlossen sind – obwohl viele von ihnen bereits politisch interessiert und aktiv sind.