Immer für die behinderte Tochter da

(Tages-Anzeiger)

Hilfe für Angehörige Über eine halbe Million Personen übernehmen in der Schweiz Betreuungsaufgaben in der Familie. Manche stossen dabei an ihre Grenzen.

Andrea Söldi

Konzentriert blickt Christine Stoffel (Name geändert) auf den Tisch mit dem fast vollendeten Puzzle. Sie nimmt ein Teilchenin die Hand und sucht nach der passenden Lücke. «Ich kann das gut», sagt sie immer wieder. Mithilfe ihres Stiefvaters Jso Mäder gelingt es der jungen Frau, das Puzzleteil richtig zu platzieren.«Dummer Hagel», stösst sie nun hervor und lacht verschmitzt.Als ihr Stiefvater sie liebevoll ermahnt, etwas freundlicher zu sein, legt sie gleich noch malsnach: «Sauhund!»

Die 36-Jährige hat eine diebische Freude an Schimpfwörtern,die sie irgendwo aufschnappt.Als Folge eines Sauerstoffmangels während der Geburt ist sie mehrfach körperlich und geistig behindert. Sie benötigt Hilfe bei fast allem: der Körperpflege,dem Essen, dem Toilettengang.Nachts hat sie häufig epileptische Anfälle. Die Eltern lassen die Tür zu ihrem Schlafzimmer offen, damit sie in solchen Fällen schnell bei ihr sind. Die Betreuung der behinderten Tochter nehme bestimmt 200 Stunden im Monat in Anspruch, schätzt ihre Mutter Astrid. «Ein eigenes Leben kann man vergessen.»

Ein Grossteil sind Frauen

Die Mäders aus Zürich leisten einen enormen Aufwand für ihre behinderte Tochter. Damit sind sie nicht allein. Gemäss einer Umfrage im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit von2019 übernehmen in der Schweiz nahezu 600’000 Personen Betreuungsaufgaben, der Grossteil davon sind Frauen. Angehörige leisten 80 Prozent der Betreuung, während auf professionelle Helferinnen nur 20 Prozent entfallen. Am stärksten eingebunden sind Menschen zwischen 50 und 60 Jahren, die typischerweise ihre betagten Eltern betreuen und gleichzeitig oft auch noch berufstätig sind. Bei denüber 80-Jährigen ist der häufigste Fall, dass ein Partner für den anderen sorgt. Doch auch etliche Kinder und Jugendliche kümmern sich als sogenannte «young carers» bereits um ihre Eltern, Grosseltern oder eine andere Person.

Die Betreuenden sind für ihre Angehörigen einfach da, beobachten ihr Wohlergehen, übernehmen finanzielle, administrative und Koordinationsaufgaben sowie andere Hilfestellungen im Alltag. Eine Minderheit leistet pflegerische oder sogar medizinische Hilfe. Die meisten von ihnen investieren weniger als 10 Stunden pro Woche. Mehr als 10 Prozent gaben in der Umfrage jedoch an, über 30 Stunden zu betreuen oder sogar rund um die Uhr wie die Mäders.

Betreuung findet oft im Stillen und Verborgenen statt. «Viele Angehörige kommen ziemlich an den Anschlag», sagt Patrick Hofer, Vorstandsmitglied der Angehörigen-Organisation Pro Aidants.«Einige übernehmen sich und werden selber krank.»Viele würden unter fehlender Wertschätzung leiden und seien schlecht informiert, wo sie sich Entlastung organisieren können, erklärt Hofer, der selbst während einiger Zeit für seine Grossmutter gesorgt hat, damit sie zu Hause bleiben konnte. Zudem sei Betreuungsarbeit eine Armutsfalle, wenn Berufstätige ihre Arbeit aufgeben oder das Pensum reduzieren und darunter auch ihre Altersvorsorge leide.«Angehörige brauchen dringend mehr Unterstützung.»

Plötzlich pflegebedürftig

Mit einer sehr belastenden Situation sah sich letztes Jahr auch Helen Girardier aus Winterthur konfrontiert. Im Frühling erlitt ihr Vater einen Schlaganfall. Seither ist der 88-Jährige halbseitig gelähmt und hat grosse Mühe,sich sprachlich auszudrücken.Nach Spitalaufenthalt und Rehabilitation kehrte er ins Einfamilienhaus in einem Dorf im Kanton Zürich zurück, wo ihn seine 80-jährige Frau pflegte.Die vier erwachsenen Kinder organisierten Hilfsangebote wie Spitex, Mahlzeitendienst und Therapien; ein Sohn zog sogar bei den Eltern ein, um sie zu unterstützen. Trotzdem wurde klar, dass es auf lange Sicht so nicht gehen würde. «Es war die totale Überforderung für meine Mutter und uns alle», erzählt Girardier. Deshalb machte sie sich schnellstens auf die Suche nach einer altersgerechten Wohnform und wurde zum Glück fündig.

Heute leben ihre betagten Eltern in einer Wohnung, die einem Pflegeheim angeschlossen ist, und essen mittags im hauseigenen Restaurant. Nach einer Zeit des Eingewöhnens sind sie zufrieden mit der Lösung. Helen Girardier und ihre Geschwister mussten das Einfamilienhaus räumen und verkaufen und sich um das Geschäft des Vaters kümmern. «Das alles war mit sehr viel Arbeit, Verantwortung und Emotionen verbunden», sagt die 54-Jährige zurückblickend.

«Einige übernehmen sich und werden selber krank.»
Patrick Hofer Organisation Pro Aidants

Auch Christine Stoffels Eltern haben vor einigen Jahren versucht, ihre behinderte Tochter in einem Heim zu platzieren. Doch sie habe sich dort nicht wohlgefühlt, sagt Jso Mäder, der als freischaffender Künstler zeitlich flexibel ist und einen Grossteil der Betreuung übernimmt. Von Montag bis Freitag besucht Tochter Christine eine Tagesstrukturin einem nahen Wohnheim. Und auch der leibliche Vater und der Bruder kümmern sich an den Wochenenden oft um sie.

Mutter Astrid ist heute im Pensionsalter. Als gelernte Pflegefachfrau arbeitet sie aber noch immer mit einem halben Pensum in einem Spital. Einerseits,weil es ihr Spass macht, andererseits aber auch aus finanziellen Gründen: Wegen der Betreuungsaufgabe konnte sie stets nur Teilzeit arbeiten, was sich nun im Guthaben ihrer Altersvorsorge bemerkbar macht. Hätte sie ihre Tochter in ein Heim gegeben, hätte das die öffentliche Hand rund 14’000 Franken monatlich gekostet, sagt sie. Übernehmen jedoch Angehörige die Betreuung, erhalten sie meist nur die Hilflosenentschädigung der IV, die in der Regel weniger als 2000 Franken beträgt. «Das ist unerhört», ereifert sie sich.«Behinderte und ihre Angehörigen haben einfach keine Lobby.»

Viel Lebenssinn gegeben

Die jahrelange Betreuung hat das Paar stark beansprucht. «Wenn man in so einer Situation ist,denkt man nicht lange nach, sondern funktioniert einfach», blickt Astrid Mäder zurück. «Ein Burn-out kann man sich gar nicht leisten.» Trotz allem habe ihr die Aufgabe auch viel Lebenssinn gegeben. Christine drücke ihre Dankbarkeit immer wieder auf ihre ganz eigene Art aus.

Jetzt hat sie gerade das letzte Teilchen ins Puzzle eingefügt.Mit ihrem Stiefvater betrachtet sie das fertige Bild mit den Tieren und dem Zwerg. «Jetzt hast du bestimmt Durst. Willst du etwas trinken?», fragt Jso Mäder.«Ja, holen, alter Drache!», antwortet die junge Frau und verdrückt sich wieder ein Lachen.


Betreuung findet oft im Stillen und Verborgenen statt: Jso Mäder mit seiner Stieftochter Christine beim Puzzlespielen. Foto, Urs Jauda

 


Hier finden Angehörige Unterstützung

Erste Anlaufstelle für Menschenmit einer Behinderung und ihre Angehörigen ist die Invalidenversicherung (IV) ihres Wohnkantons. Neben der Hilflosenentschädigung können dort auch Assistenzentschädigungen beantragt werden. Und in gewissen Fällen erhalten Angehörige eine Betreuungsgutschrift von der Alters und Hinterlassenenversicherung.

Darüber hinaus gibt es vieleprofessionelle und ehrenamtliche Unterstützungsangebote wie etwa die Spitex und Kinderspitex(www.kinderspitex-zuerich.ch; www.spitexbe.ch oder www.spitexbasel.ch),Pro Senectute, Pro Infirmis, Entlastungsdienste, Gemeindeinitiativen sowie Vereinigungen für bestimmte Krankheiten und Behinderungen.

Hilfestellung bietet auch die Angehörigen-Organisation ProAidants: Speziell für die CoronaZeit hat sie einen Notfallplanentwickelt. Darin können betreuen-de Angehörige alle nötigen Angaben festhalten für den Fall, dass sie selber plötzlich nicht mehr verfügbar sind. Weiter stellt die Organisation ab Januar eine App zur Verfügung, über die Angehörige und Professionelle ihre Leistungen koordinieren können. Erfahrene Mitglieder bieten zudem Beratung an(www.proaidants.ch).

Von staatlicher Seite kommt es nun zumindest zu einer Entlastung: Ab dem nächsten Jahr gibtes einen bezahlten Betreuungsurlaub für Arbeitnehmende, die sich um kranke Angehörige kümmern (maximal 10 Tage pro Jahr),wie auch für Eltern schwer kranker Kinder (14 Wochen). Diese vom Parlament beschlossene Neuregelung gilt allerdings nur für Neuerkrankungen und nicht für bleibende Behinderungen. (asö/sae)

Besserer Einbezug der Behindertenorganisationen bei der Pandemiebekämpfung

(Inclusion Handicap.ch)

Inclusion Handicap begrüsst, dass der Ständerat ein Postulat seiner Co-Präsidentin Maya Graf angenommen hat, dass den besseren Einbezug der Leitungserbringer und Behindertenorganisationen bei der Pandemiebewältigung verlangt.

«Stärkerer Einbezug der Leistungserbringer und der Behindertenorganisationen im Bereich der sozialen Betreuung und der Langzeitpflege bei der Vorbereitung auf und Bewältigung von Pandemien» heisst das Postulat, das der Ständerat am 15. Dezember überwiesen hat.

Der Bundesrat hatte bereits die Annahme des Vorstosses empfohlen. Er muss nun in einem Bericht darlegen, «wie Dienstleister und Behindertenorganisationen im Bereich der Pflege und Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf bei der Vorbereitung auf und Bewältigung von Pandemien zu Branchenfragen in die nationalen und kantonalen Krisenstäbe einbezogen werden können».

Zu den Leitungserbringern gehören z.B. Alters- und Pflegheime, soziale Institutionen, die Menschen im Alter oder mit einer Behinderung betreuen oder Behindertenorganisationen, die Leistungen in der Pflege erbringen. «Sie sollen bei der Vorbereitung auf und in der Bewältigung von Pandemien miteinbezogen werden», sagte Maya Graf im Ständerat. Bundesrat Alain Berset unterstrich, dass die Klärung der offenen Fragen von grosser Bedeutung sind.

LINKS

Teilrevision des Gesetzes über die Rechte unddie Inklusion von Menschen mit Behinderungen (GRIMB)

(Bulletin off.du canton du Valais /Amtsblatt Wallis)

Auf Vorschlag des Departements fûr Gesundbeit, Soziales und Kultur(DGSK) hat der Staatsrat den Entwurf der Teilrevision des Gesetzes über die Rechte und die Inklusion von Menschen mit Behinderungen(GRIMB) genehmigt und das Dossier dem Grossen Rat zur Behandlung überwiesen. Die Teilrevision dieses Gesetzes ist notwendig, um den Anforderungen des Ubereinkommens liber die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UNO-BRK) gerecht zu werden, welches von der Schweiz ratifiziert worden ist.

 

Der Entwurf. einer Teilrevision des Gesetzes über die Rechte und die Inklusion von Menschen mit Behinderungen (GRIMB) wurde vom Staatsrat genehmigt. Diese Revision steht im Einklang mit dem Ubereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UNO-BRK), das von der Schweiz ratifiziert wurde und am 15. Mai 2014 in Kraft getreten ist. Durch diese Ratifizierung hat sich die Schweiz verpflichtet, die im Ubereinkommen gewâhrleisteten Rechte für Menschen mit Behinderungen zu garantieren und die entsprechenden Verpflichtungen zu erftillen. Auch die Kantone sind damit im Rahmen ihrer Zustândigkeit zu deren Umsetzung verpflichtet. Im Wallis ist das geltende kantonale Gesetz über die Eingliederung behinderter Menschen seit 1991 in Kraft. Seine Teilrevision ist daher notwendig.

Die wichtigsten Ànderungen im Entwurfs betreffen folgende Elemente:

  • Die Anpassung des Gesetzestitels, welcher nicht mehr von der Eingliederung behinderter Menschen spricht, sondern von den Rechten und der Inklusion von Menschen mit Behinderungen;
  • die Anpassung des Zweckartikels durch Hinzufiigen der Rechte von Meitschen mit Behinderungen;
  • die Einftigung eines neuen Kapitels über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Bestimmungen zu deren Um- und Durchsetzung. lm Zentrum stehen das Benachteiligungsverbot, Fôrderungsmassnahmen sowie allgemeine Anforderungen an Zugänglichkeit und Kommunikation;
  • die Anderungen der organisatorischen Strukturen im Kapitel 6 mit Schaffung einer Fachstelle fair die Rechte von Menschen mit Behinderungen,Neuregelung der Verantwortlichkeiten sowie des Verfahrens zur Koordination, Planung und Uberwachung der Umsetzung der behindertenrechtlichen Gesetzgebung.

Der Entwurf der Teilrevision liegt nun dem Grossen Rat zur Behandlung vor.

Bushaltestellen erhalten höhere Kanten

(Freiburger Nachrichten)

Der Kanton Freiburg schreibt für Bushaltestellen neu grundsätzlich eine Kantenhöhe von 22 Zentimetern vor. Bisher wurden alsHauptnorm 16 Zentimeter akzeptiert. Doch eignen sich da selbst die neuen Busse nicht für einen behindertengerechten Zugang.

 


Inclusion Handicap

«Unser Einsatz war notwendig»

Bei der Diskussion über die Kantenhöhe für den Zugang zu Bussen spielte im Kanton Freiburg die Haltestelle Briegli in Düdingen eine zentrale Rolle. Ursprünglich war eine Höhe von 23 Zentimetern geplant gewesen, danach wurde auf Intervention der TPF diese auf 16 Zentimeter reduziert. Dagegen wehrte sich der Dachverband Inclusion Handicap mit einer Beschwerde beim Kantonsgericht, welches das Dossier an den Kanton zurückwies, da der Sachverhalt nicht genügend abgeklärt sei.«Selbstverständlich ist der jetzige Schritt des Kantons ein eunmittelbare Folge dieses Gerichtsurteils»,sagt Caroline Hess-Klein von Inclusion Handicap. «Für uns ist das jetzige Ergebnis sehr wichtig. Es zeigt,wie notwendig es für Behindertenorganisationen ist, sich zu wehren.»
uh


Nach einer Beschwerde zur Haltestelle Briegli fanden zusätzliche Abklärungen statt.
Bild Corine Aeberhard /a

 

Bundesrat schickt Verordnungen zur IV-Revision in Vernehmlassung

(jungfrauzeitung.ch)

Kinder, Jugendliche und Menschen mit psychischen Problemen sollen versicherungstechnisch bessergestellt werden. Das Parlament verabschiedete im Sommer die IV-Revision. Am Freitag hat der Bundesrat die Umsetzungsbestimmungen in die Vernehmlassung geschickt.


Mehrere der Massnahmen entsprechen den Empfehlungen des im Oktober 2020 veröffentlichten Expertenberichts zur medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung.Foto: Pixabay

 

Das Gesetz und die dazugehörigen Verordnungen sollen 2022 in Kraft gesetzt werden, wie die Landesregierung mitteilte. Die Vernehmlassung zu den Ausführungsbestimmungen dauert demnach bis zum 19. März 2021.

Mit dem revidierten Gesetz über die Invalidenversicherung (IV) wird für Rentnerinnen und Rentner mit einem Invaliditätsgrad zwischen 40 und 69 Prozent ein stufenloses Rentensystem eingeführt. Das neue System soll dazu führen, dass sich Arbeit für IV-Bezüger in jedem Fall lohnt. Mit dem heutigen System ist das wegen Schwelleneffekten nicht immer der Fall. Eine Vollrente wird wie heute ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent zugesprochen.

Neu kommt es für die Rentenhöhe auf jedes Prozent IV-Grad an, wie der Bundesrat schreibt. Um die Rechtssicherheit und Einheitlichkeit zu erhöhen, würden die wichtigsten Grundsätze zur Bemessung des Invaliditätsgrades neu auf Verordnungs- statt auf Weisungsstufe geregelt. Die Regeln stellen laut dem Bundesrat Teilerwerbstätige, Niedrigqualifizierte sowie Personen mit Geburts- und Frühinvalidität besser.

Bessere Begleitung

Ein weiterer Fokus der Reform liegt auf Jugendlichen und psychisch Kranken. Die Zahl der Neurenten in der IV ist nach den letzten Reformen gesunken. Bei Jugendlichen und psychisch Kranken konnten die Ziele aber noch nicht erreicht werden. Daher soll nun früher eingegriffen werden, um die Betroffenen besser zu begleiten.

Im Zentrum stehe eine intensivere Unterstützung der Betroffenen, um der Invalidisierung vorzubeugen und die Eingliederung zu verstärken, schreibt der Bundesrat. Unter anderem intensiviere die IV dazu die Zusammenarbeit insbesondere mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den Arbeitgebenden als beteiligten Akteuren.

Geburtsgebrechen und seltene Krankheiten

Die Liste der Geburtsgebrechen wird aktualisiert. Leiden, die heute einfach respektive mit geringem Aufwand behandelt werden können, werden künftig von der Krankenversicherung übernommen. Umgekehrt werden Leiden aufgenommen, namentlich seltene Krankheiten, deren Behandlungskosten neu durch die IV getragen werden.

Bei anerkannten Geburtsgebrechen übernimmt die IV auch die Kosten für Arzneimittel. Die von der IV vergüteten Arzneimittel werden, nachdem die versicherte Person das 20. Altersjahr vollendet hat, im gleichen Umfang von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen.

Gutachten kontrollieren

Neue Regeln gelten auch für Gutachten. So sollen Interviews in Form von Tonaufnahmen zu den Akten aufgenommen werden. Ziel sind bessere Grundlagen für beide Seiten bei Streitigkeiten.

Zudem sollen neu auch die bidisziplinären Gutachten nur noch an zugelassene Gutachterstellen und nach dem Zufallsprinzip vergeben werden, was heute nur für die polydisziplinären Begutachtungen gilt. Um die Qualität der Begutachtungen zu sichern, wird eine unabhängige, ausserparlamentarische Kommission geschaffen.

Ein Viertel der Behinderten erfährt Diskriminierung am Arbeitsplatz

(pilatustoday.ch)

Der Grossteil der Menschen mit Behinderungen nimmt am Arbeitsmarkt teil. Allerdings lässt ihre Lebensqualität bei der Arbeit zu wünschen übrig.


Behinderte Menschen erfahren am Arbeitsplatz öfters Diskriminierungen als Menschen ohne Behinderung. (Symbolbild)© Keystone

 

(dpo)

Die neue Taschenstatistik zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen wartet mit positiven wie auch negativen Nachrichten auf. Erfreulich ist beispielsweise, dass mehr als zwei Drittel der Menschen mit Behinderungen sich 2018 am Schweizer Arbeitsmarkt beteiligt haben. Bei stark eingeschränkten Personen sind es 46 Prozent, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) am Donnerstag schreibt. Dank dieser Beteiligung könnten behinderte Menschen finanziell für sich selber sorgen und an der Gesellschaft teilhaben, heisst es.

Dafür fällt die Lebensqualität der Behinderten beim Arbeitsplatz um so negativer auf. 2017 hätten in der schweizerischen Gesundheitsbefragung 26 Prozent angegeben, mindestens eine Form von Benachteiligung oder Gewalt erfahren zu haben. Dazu zählen gemäss dem BFS verbale oder körperliche Gewalt, Drohungen, Einschüchterung, Mobbing oder sexuelle Belästigung. Im Vergleich dazu falle der Wert bei Menschen ohne Behinderung mit 18 Prozent tiefer aus.

Besser sieht es bei der Mobilität aus. 89 Prozent der Menschen mit Behinderungen sagt, dass sie die öffentlichen Verkehrsmittel ohne Probleme selbstständig nutzen könnten. Doch für rund ein Zehntel der Behinderten bestehen laut BFS in diesem Bereich weiterhin Probleme.

Von blinden Flecken und dem Wunderkind

(Aargauer Zeitung / GesamtRegion)

Die Anliegen von Menschen mit Behinderungen gehen öfters vergessen. Ein blinder Klavierlehrer erzählt, was ihn besonders ärgert.


Lucius sieht nichts, hat aber das absolute Musikgehör: Bundespräsidentin Sommaruga lauscht seinem Konzert Bild: Christian Pfander

 

Maja Briner

Der 17-jährige Lucius und seinLehrer spielen Klavier, der Jugendliche ist in die Musik versunken. In einer Ecke des Schulzimmers steht ein Schlagzeug, auf einem Schrank liegt ein Instrumentenkoffer. Doch was alltäglich aussieht, ist es nicht. Lucius ist Autist und blind. Die richtigen Tasten auf dem Klavier findet er trotzdem mühelos,Noten braucht er nicht. Der 17-Jährige habe das absolute Musikgehör,könne nachspielen, was er ihm vorspiele, erzählt sein Lehrer Alexander Wyssmann nach der Stunde: «Ein Wunderkind.»

Auch die Bundespräsidentin staunt.Sie sei «tief beeindruckt», sagt Simonetta Sommaruga, selber Pianistin, die an diesem Nachmittag die Blindenschule Zollikofen in der Nähe von Bern besucht. Anlass für ihren Besuch ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen, der jeweils am 3. Dezember begangen wird. Extra für die Bundespräsidentin spielt Lucius eine Eigenkomposition vor. «Das hat mich ganz besonders gefreut», sagt sie danach, und bittet den 17-Jährigen:«Wenn Sie mal auftreten, schicken Sie mir eine Einladung.»

Als die Klavierstunde vorbei ist, tastet sich Lucius mit einer Hand an der Wand entlang hinaus. Draussen im Gang hängen Turnsäcke an den Haken, unten liegen Finken – so wie an so vielen Schulen. Doch in diesen Klassenzimmern werden nicht nur alltägliche Fächer wie Mathematik unterrichtet, sondern beispielsweise auch die Blindenschrift und ganz praktische Fähigkeiten: Wie schneidet man mit Messern, wie erkennt man Münzen – und wie packt man die Schultasche am besten, damit man alles rasch findet? 84 Schüler besuchen die Blindenschule in Zollikofen. Sehbehinderte werden nach Lehrplan unterrichtet, für mehrfachbehinderte Kinder gibt es einen speziellen Unterricht. Zudem betreut der sogenannte Ambulante Dienst sehbehinderte Schüler, die in der Volksschule integriert sind.

Auch zwei Lehrpersonen sind blind. Einer von ihnen ist Klavierlehrer Alexander Wyssmann, ein Jazzmusiker. Er war zwanzig Jahre alt, als er bei einem Militärunfall erblindete.«Durch den Unfall habe ich die Chance erhalten, Musik zu machen», sagt er. Wegen des Unfalls absolvierte er eine neue Ausbildung, das Lehrerseminar- «und da standen so viele Klaviere herum», erzählt er im Gespräch mit Bundespräsidentin Sommaruga. Später studierte er Jazz. «Ich komponiere Bilder», sagt er über seine Musik,«jene Bilder, die ich sehe.» Weil er nicht sehen kann, konzentriert sich Wyssmann auf seine anderen Sinne. «Wenn ich in einen Laden gehe, atme ich einmal ein,und dann weiss ich, wo ich bin»,sagt er. Wo er sich eingeschränkt fühle?, fragt ihn Sommaruga. Er könne die Post nicht selber erledigen, auch Banksachen nicht,erzählt er. Das ärgere ihn.

Wyssmann will möglichst selbstständig sein – und er istkeiner, der rasch aufgibt. Trotzdem sagt er: «Ich erwarte auch,dass man mir hilft.» Er finde es toll, wenn ihn Leute in der Stadt fragten, ob er Hilfe benötige.Sein Credo, das er seinen Schülern weitergibt: Sie sollen all das selber machen, was sie können-und nur dann Hilfe verlangen,wenn es nötig ist. «Wir wollen schliesslich als Gleichberechtigte gesehen werden.»

«Überdurchschnittlich oft diskriminiert»

In der Schweiz gibt es 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen (siehe Kasten). Noch hapert es mit der Gleichstellung, trotz entsprechender Gesetzgebung und ratifizierter UNO-Konvention. «Menschen mit Behinderungen werden in der Schweiz immer noch überdurchschnittlich oft diskriminiert», sagt Marc Moser, Sprecher von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen. Der Zugang zur Bildung sei erschwert, der Weg in den normalen Arbeitsmarkt schwierig, der Diskriminierungsschutz grundsätzlich zu schwach. Moser sagt,die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen gingen oft vergessen. «Das ist nicht unbedingt böse gemeint. Das Bewusstsein fehlt vielerorts.» Blinde Flecken sozusagen. Ein grosses Thema sind laut Moser die Dienstleistungen von Privaten,also etwa Restaurants oder Kinos. Sie alle müssen – anders alsetwa Bushaltestellen – nicht behindertengerecht sein. Auch imInternet stossen Menschen mit Behinderungen auf Hürden: Nur ein Viertel der Onlineshops ist für sie gut nutzbar.

Inclusion Handicap fordert deswegen einen wirksamen Diskriminierungsschutz.Zwar schreibt das Gesetz vor, dass private Dienstleister Behinderte nicht diskriminieren dürfen.Wenn ein Laden beispielsweise nur per Treppe zugänglich ist,kann ein Rollstuhlfahrer dagegen klagen. Die Auswirkungen sind indes beschränkt: Der Ladenbesitzer muss schlimmstenfalls eine Entschädigung von 5000 Franken zahlen – an der Treppe aber muss er nichts ändern.

Die Bundespräsidentin tappt im Dunkeln

Fragt man Klavierlehrer Wyssmann, was für sehbehinderte Kinder und Jugendliche am schwierigsten sei, spricht er indes von etwas ganz anderem: sich selbst zu akzeptieren, sich so anzunehmen, wie man ist. Mit einer Behinderung sei das manchmal schwieriger, sagt er.

Sommaruga wiederum bekommt die ganz realen Alltagshürden, mit denen Blinde zu kämpfen haben, für eine kurze Zeit selber zu spüren. Im Schweizer Blindenmuseum, das auf dem Areal der Schule steht, besucht sie den Dunkelraum. Durchs Zimmer führt ein Handlauf, zu sehen ist: nichts, absolut nichts. Und so tappt Sommaruga durchs Dunkle, die Finger am Handlauf. Als dieser plötzlich endet, ist die Verunsicherung gross: Wie geht es nun weiter? Dann die Erleichterung: Nur wenige Zentimeter entfernt beginnt der nächste Handlauf.Hätte das Licht gebrannt, wäre uns Sehenden der Unterbruch kaum aufgefallen; im Dunkeln aber fühlen wir uns deswegen schon verloren.

1,7 Millionen Behinderte

Gemäss offiziellen Angaben gibtes in der Schweiz 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Dazu zählt das Bundesamt für Statistik (BFS) alle, die «ein dauerhaftes Gesundheitsproblem haben und die bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens (stark oder etwas) eingeschränkt sind». Knapp 460000 Menschen leben mit einer «starken Beeinträchtigung». Der Anteil der Menschen mit Behinderungen steigt mit dem Alter an:Bei jungen Erwachsenen zwischen 16 und 24 Jahren sind eslaut BFS 12 Prozent, bei den über 85-Jährigen 46 Prozent – also fast jeder Zweite.(mjb)

«Wenn ich in einen Laden gehe, atme ich einmal ein, und dann weiss ich,wo ich bin.»
Alexander Wyssmann
Klavierlehrer und Jazzmusiker

26% der Menschen mit Behinderungen erfahren am Arbeitsplatz Diskriminierung

(bfs.admin.ch)

69% der Menschen mit Behinderungen nahmen im Jahr 2018 am Arbeitsmarkt teil, ihre Lebensqualität bei der Arbeit ist jedoch weniger gut als jene der Menschen ohne Behinderungen. So erfahren sie zum Beispiel in erhöhtem Mass Benachteiligungen oder Gewalt am Arbeitsplatz (26%). Rund 4% der Menschen mit Behinderungen gaben zudem an, innerhalb der letzten zwölf Monate an ihrem Arbeitsplatz aufgrund einer Behinderung benachteiligt worden zu sein. Anlässlich des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember publiziert das Bundesamt für Statistik (BFS) eine neue Taschenstatistik zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.

Es gibt verschiedene Arten von Behinderungen, die Definition ist dabei entscheidend. Dementsprechend unterschiedlich gross ist die Anzahl der Personen mit einer Behinderung und die verschiedenen Gruppen überschneiden sich nur teilweise. Bei einer medizinischen Betrachtungsweise weisen über 4% der Bevölkerung ab 15 Jahren in Privathaushalten starke oder vollständige funktionelle Einschränkungen auf, wie bspw. beim Hören, Sehen, Gehen oder sich erinnern (gemäss schweizerischer Gesundheitsbefragung 2017).

Menschen mit Behinderungen werden oftmals auch mit denjenigen Personen assoziiert, welche aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung Leistungen der Invalidenversicherung beziehen. So bezogen insgesamt 6% der Bevölkerung im Jahr 2019 Leistungen der IV und 4% hatten eine Invalidenrente. Aus Sicht der Gleichstellung werden schliesslich Menschen mit Behinderungen definiert als Personen, die ein dauerhaftes Gesundheitsproblem haben und die bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens (stark oder etwas) eingeschränkt sind. 2018 waren 5% der Bevölkerung in Privathaushalten «stark eingeschränkt» und weitere 17% «etwas eingeschränkt».

Menschen mit Behinderungen arbeiten vermehrt Teilzeit …

Menschen mit Behinderungen nehmen weitgehend am Arbeitsmarkt teil, selbst wenn sie bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens stark eingeschränkt sind. 69% der Menschen mit Behinderungen beteiligen sich am Arbeitsmarkt (Menschen ohne Behinderungen: 82%; SILC 2018). Bei stark eingeschränkten Personen sind es 46%. Von den erwerbstätigen Menschen mit Behinderungen arbeiten 40% Teilzeit (weniger als 36 Stunden pro Woche), während dies bei Menschen ohne Behinderungen nur bei 27% der Fall ist. Dieser Unterschied hängt stark mit der Behinderung zusammen.

… und erfahren am Arbeitsplatz öfters Diskriminierungen

Menschen mit Behinderungen sind gegenüber Menschen ohne Behinderungen in erhöhtem Mass Benachteiligungen und Gewalt am Arbeitsplatz ausgesetzt. Im Rahmen der schweizerischen Gesundheitsbefragung 2017 gaben 26% der Menschen mit Behinderungen an, in den letzten zwölf Monaten vor der Erhebung mindestens eine der neun abgefragten Formen von Benachteiligung oder Gewalt erfahren zu haben. Dazu zählen Benachteiligung aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Herkunft oder der Behinderung, verbale oder körperliche Gewalt, Drohungen, Einschüchterung, Mobbing oder sexuelle Belästigung. Zum Vergleich: Bei den Menschen ohne Behinderung liegt dieser Wert bei 18%.

4% der Menschen mit Behinderungen fühlen sich zudem am Arbeitsplatz wegen ihrer Behinderung benachteiligt. Am häufigsten haben Menschen mit Behinderungen aber ebenso mit Einschüchterung/Mobbing und Belästigungen (11%) sowie mit Benachteiligungen aufgrund des Alters (9%) zu kämpfen wie Personen ohne Behinderung.

Eine weitere Erkenntnis: Personen, die bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens stark eingeschränkt sind, werden vermehrt aufgrund der Behinderung benachteiligt (12%). Gar 34% von ihnen gaben an, in den letzten zwölf Monaten mindestens eine Form der Diskriminierung erfahren zu haben.

1 von 9 Personen mit Behinderung haben Probleme bei der Benützung des ÖV

Die Menschen mit Behinderungen sehen sich bei der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel häufiger mit Schwierigkeiten konfrontiert als die übrige Bevölkerung. Trotz der Bemühungen der ÖV-Unternehmen, den Zugang zu ihren Infrastrukturen zu verbessern, bestehen weiterhin Probleme für 11% der Menschen mit Behinderungen. Dieser Anteil ist bei Personen mit stark einschränkenden Behinderungen höher: Insgesamt nennen drei von zehn Personen zumindest leichte Schwierigkeiten, sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln alleine fortzubewegen.

Zusätzliche Informationen finden Sie in der nachfolgenden PDF-Datei.

26% der Menschen mit Behinderungen erfahren am Arbeitsplatz Diskriminierung

Mehr politische Rechte für Menschen mit Behinderungen

(Südostschweiz / Bündner Zeitung)

Der Kanton Genf hat behinderten Menschen das Stimm- und Wahlrecht erteilt. Bündner Behindertenverbände hoffen, dass dieser historische Entscheid einen Nachahmer-Effekt auslöst.
von Pierina Hassler

Politische Rechte: Der Kanton Genf ist der erste der 26 Kantone, in dem Menschen unabhängig von ihrer geistigen oder psychischen Behinderung abstimmen und wählen dürfen.Bild Natacha Pisarenko / Keystone

 

Seit Sonntag ist es offiziell – der Kanton Genf macht Schluss mit der Diskriminierung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung. Weit über 75 Prozent des Genfer Stimmvolkes will,dass rund 1200 Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, politischeRechte erhalten.

«Das ist ein historisches Ereignis und muss wegweisend für alle Kantone sein», sagt Kathrin Thuli, Geschäftsführerin von Pro Infirmis Graubünden. Genf sei der erste Schweizer Kanton, in dem Menschen unabhängig von ihrer geistigen und psychischen Behinderung abstimmen und wählen dürften. «Allerdings ist Genf jetzt auch der einzige Kanton, der das internationale Behindertenrecht respektiert.» Der Ausschluss von Behinderten bei Abstimmungen und Wahlen verstosse klar gegen Artikel 29 der UNO-Behindertenrechtskonvention,der die Schweiz 2014 beigetreten sei,so Thuli.

Eine Diskussion lancieren

Philipp Ruckstuhl, Geschäftsführer der Behindertenorganisation Procap Grischun, argumentiert ähnlich. «Das Genfer Abstimmungsresultat ist sehr gut und könnte tatsächlich wegweisend sein.» Ruckstuhl, der für die CVP im Grossen Rat sitzt, will die Gelegenheit beim Schopf packen. «Ich werde nächste Woche in der Session eine Anfrage zum Thema zuhanden der Regierung einreichen.» Er wolle wissen,wie der Kanton Graubünden zu möglichen Anpassungen des Abstimmungsrechts von Menschen mit Behinderungen mit einer umfassenden Beistandschaft stehe. Ruckstuhl findet es wichtig, dass eine Diskussion entsteht.«Dieses Abstimmungs- und Wahlrecht betrifft nicht viele Menschen, trotzdem muss darüber gesprochen werden. Genf hat eine Vorreiterrolle übernommen und die Debatte angestossen.»

Eine Meinung respektieren

Die Churerin Dina Schmid ist körperlich behindert. Auch sie spricht von der Abstimmung in Genf als «historisches Ereignis». Als «Direktbetroffene» freue sie sich sehr, dass das Genfer Stimmvolk ein Zeichen gegen die Diskriminierung von Behinderten gesetzt habe. Dies sei aber auch nicht mehr als recht. «Wir körperlich Behinderten ohne einen Beistand haben es quasi noch am besten», sagt Schmid. «Aber geistig Behinderte und alle anderen,die eine umfassende Beistandschaft haben, werden einfach von der politischen Welt ausgeklammert.»

«Vielleicht traut man uns nicht zu,dass wir alles richtig verstehen.»
Dina Schmid Frauenstreikkollektiv Graubünden

Sie könne zwar gewisse Bedenken gegenüber diesen Menschen verstehen, erklärt Schmid. «Vielleicht traut man uns nicht zu, dass wir alles richtig verstehen.» Es solle ihr aber niemand sagen, dass nicht auch Nicht-Beeinträchtige Rat und Hilfe suchen würden, wenn eine komplizierte Abstimmung bevorstehen würde. Zudem gebe es Behindertenorganisationen,die beim Lesen und Ausfüllen des Stimmmaterials helfen würden.

Schmid sagt von sich, sie sei ein politischer Mensch. «Das war ich schon als Kind.» Mittlerweile ist sie Mitglied der SP Chur, des Bündner Frauenstreikkollektivs und diverser Behindertenorganisationen. Aktuell möchte sie eine Gruppe gründen, um zusammen mit anderen behinderten Menschen zu politisieren. «Ich würde gerne noch mehr für die Behindertenpolitik in Graubünden machen.»

Würde und Selbstwert

Obwohl das Resultat in Genf deutlich ausgefallen ist, gab es im Vorfeld die Art von Bedenken, die Schmid angesprochen hat. Die Genfer SVP und die Jungfreisinnigen beispielsweise befürchteten, dass damit das Risiko erhöht werde, dass andere Personen das Stimmrecht anstelle der Behinderten ausüben könnten. Kathrin Thuli von Pro Infirmis wischt diesen Einwand beiseite: «Das Missbrauchsrisiko bei Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung ist nicht grösser als beispielsweise bei betagten Personen.» Aber natürlich sei sich Pro Infir-mis bewusst, dass geistig und körperlich behinderte Menschen Unterstützung brauchen würden.

In Genf wurde schon vor der Abstimmung vom vergangenen Sonntag darüber nachgedacht, einfache und verständliche Unterlagen zu kantonalen und kommunalen Abstimmungen zu verschicken. «Das muss sein», fordern auch Thuli und Ruckstuhl. «Nur so kann man behinderten Menschen Selbstwert und Würde vermitteln.»

«Usum glichu Teig gmacht!»

(Walliser Bote)

Am 3. Dezember verkaufen mehr als dreissig Bäckereien im Wallis besondere Grittibänze zum Zeichen der Solidarität mit den Menschen mit Beeinträchtigungen.

Die traditionellen Grittibänze haben am 3. Dezember in mehreren Bäckereien eine besondere Form: Sei es in einem Rollstuhl oder ohne Arme, so ist ihre Beeinträchtigung deutlich sichtbar. Unter dem Motto «Usum glichu Teiggmacht!» soll der Verkauf dieser Grittibänze die Bevölkerung für die Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen sensibilisieren sowie auf deren Inklusion in die Gesellschaft aufmerksam machen. Der Verkauf findet zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen statt.

Die Grittibänz-Aktion wurde 2019 von Pro Infirmis ins Leben gerufen und findet in mehreren Schweizer Kantonen statt. Sie wird dieses Jahr zum ersten Mal im Wallis durchgeführt, auf Initiative der Stiftung Emera. Die Idee wird vom Walliser Bäcker-,Konditoren- und Confiseur-meisterverband unterstützt. Mehr als dreissig Bäckereien werden die besonderen Grittibänze am 3. Dezember in allen Regionen des Wallis anbieten.An diesem Donnerstag werden ausschliesslich Grittibänze «mit einer Beeinträchtigung» angeboten, gleich schwer und gleich teuer wie ein «gewöhnlicher» Grittibänz. Es handelt sich hierbei aber nicht um einen Wohltätigkeitsverkauf,sondern um eine Sensibilisierungsaktion: Durch den Kauf eines Grittibänz «mit einer Beeinträchtigung» wird die Vielfalt der Menschen als Stärkea nerkannt.

Die Liste der teilnehmenden Bäckereien ist unter www.emera.ch abrufbar.
wb


Grittibänz-Aktion. Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen.FOTO ZVG