Behindertenkonferenz fordert vom Stadtrat eine Stelle für Gleichstellung

(Der Landbote)

Winterthur sei dem Ziel, Menschen mit Behinderung gleich zu behandeln, ein gutes Stück näher,sagt der Stadtrat. Dies, obwohl die Verwaltung nur 3 Aufgaben der Behindertenrechtskonvention erfüllt.David Herter

Hindernisse wegräumen, Diskriminierungen beenden und Selbstbestimmung fördern. Die UNO-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Bund, Kantone und Gemeinden, alle Massnahmen zu treffen, damit Menschen mit Behinderung gleichgestellt sind. Fünf Jahre nach Inkrafttreten hat der Stadtrat abklären lassen, inwieweit Winterthur die Anforderungen der Konvention erfüllt. Die Ergebnisse einer verwaltungsinternen Umfrage wurden kürzlich publik.

Die Verwaltung sieht die geprüften Aufgaben zum Grosstei zumindest «teilweise erfüllt».Komplett «erfüllt» sind jedoch lediglich 3 von 17 Aufgaben, im Bereich der selbstbestimmten Lebensführung. Demnach können Menschen mit Behinderung in Winterthur selbst wählen, wo und mit wem sie leben wollen.

Grosse Zweifel am Ergebnis

«Das bei der selbstbestimmten Lebensführung wirft bei mir grosse Fragen auf», sagt Katharina Stiefel von der Dachorganisation Behindertenkonferenz Kanton Zürich. Dass Menschen mit Behinderung die für eine selbstbestimmte Leben führung nötigen Ressourcen erhielten,bezweifelt sie sehr.«Konkret weiss ich von einer Person, dass dies nicht der Fall ist.»Sie habe den Eindruck, die Stadt unterschätze, was an Massnahmen nötig sei, um die Behindertenrechtskonvention umzusetzen, sagt Stiefel. «Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist ein Rechtsanspruch.» Dafür genüge das bisherige Engagement nicht. Die Behindertenkonferenz fordert,dass Winterthur eine 80- bis100-Prozent-Stelle schafft. Diese soll die Umsetzung der Konvention vorantreiben.

Blinde wollen elektronisch wählen

(Der Bund)

Sehbehinderte Menschen brauchen Hilfe, um wählen zu können, was rechtlich heikel ist.Blindenorganisationen fordern daher von Bund und Kantonen rasch eine Lösung. Doch die Vorschläge sind umstritten.Celine Rüttimann


Daniela Moser ist praktisch blind. Am Computer könnte sie unabhängig wählen. Foto: Adrian Moser

 

Wenn Wahlen anstehen wie am kommenden Wochenende, fängt der Papierkrieg auf dem Küchentisch an: Zuerst muss man sich durch das Werbematerial der Kandidierenden kämpfen, anschliessend Listen studieren,eventuell panaschieren und kumulieren. Für Daniela Moser aus Walkringen ein unmögliches Unterfangen. Sie ist auf andere angewiesen, die ihr die Flyer vorlesen und den Wahlzettel nach ihren Anweisungen ausfüllen.Die 26-jährige Bernerin ist eine von 320 000 Schweizerinnen und Schweizern, die wegen ihrer Sehbehinderung die schriftlichen Abstimmungsunterlagen nur mit fremder Hilfe ausfüllen können. Problematisch dabei:Die Helfer und Helferinnen erfahren zwangsläufig, wie die blinden Personen wählen.

«Dass das Stimm- und Wahlgeheimnis für sehbehinderte Menschen nicht garantiert wird,ist nicht rechtens», sagt Judith Hanhart von Agile.ch, der Organisation von Menschen mit Behinderungen. Denn dadurch wird die UNO-Behindertenrechtskonvention unterlaufen, welche die gleichberechtigte politische Teilnahme von Menschen mit Behinderungen vorschreibt.Die Schweiz hat die Konvention anerkannt und regelt per Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR), dass sich Menschen mit Behinderung beim Wahlvorgang durch Drittpersonen helfen lassen dürfen. Dadurch wird jedoch das Wahlgeheimnis nicht gewahrt. Ein Teufelskreis.

Elektronisch wählen

Damit das geschilderte Dilemma nicht mehr besteht, fordert Agile.ch die möglichst rasche Einführung von E-Voting. Die elektronische Abstimmung sei eine Voraussetzung dafür, dass Menschen mit einer Sehbehinderung ins politische Geschehen integriert würden, sagt Hanhart. Dass E-Voting daher ein enormes Potenzial habe, findet auch Daniela Moser. Seit sie fünf Jahre alt ist, ist sie auf dem linken Auge komplett blind. Mit dem rechten Auge kann sie nur noch Farben erkennen und zwischen hell und dunkel unterscheiden. Mithilfe der Sprachausgabe, die Texte vorliest, oder der Braillezeile, der Blindentastatur, könnte sie am Computer unabhängig wählen und abstimmen. Denn auch bei ihrer Arbeitsstelle beim Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) kann sie mit eben diesen Hilfsmittel nohne Probleme ihrer Arbeit nachgehen. Für blinde Menschen sei es nicht einfach, eine Stelle zu finden, so Moser. Arbeitgeber könnten sich oft nicht vorstellen,dass eine nichtsehende Person eine Tätigkeit genauso zufriedenstellend ausüben könnte wie eine sehende. «Bei den Arbeitgebern herrscht noch eine grosse Berührungsangst», sagt sie.

Dass sich vor allem sehbehinderte Menschen E-Voting wünschen,ist nachvollziehbar. Allerdings steht die elektronische Abstimmung am 20. Oktober nicht zur Verfügung. Bis Anfang 2019 wurde sie in zehn Kantonen angeboten. Wegen erheblicher Sicherheitslücken musste die Post ihr E-Voting-System im Frühjahr wieder vom Netz nehmen. Und auch der Kanton Genf hat im Juni sein System, das auch im Kanton Bern genutzt wurde, noch vorden eidgenössischen Wahlen zurückgezogen.

Heftige Kritik an E-Voting

Kritiker der digitalen Wahlurne sehen ihre Bedenken dadurch bestätigt: «Das vergangene E-Voting-Debakel der Post hat gezeigt, dass umfassende Sicherheitslücken auch bei künftigen Systemen nie ausgeschlossen werden können», sagt Jorgo Ananiadis, Co-Präsident der Piratenpartei Schweiz.

Da sich die Sicherheitslücken summierten, hat der Bundesrat im Juni entschieden, die elektronische Stimmabgabe vorerst nicht als ordentlichen Stimmkanal zuzulassen. Damit sehbehinderte Personen trotzdem unabhängig abstimmen können,fordert der SBV von der Landesregierung eine Lösung. «Das muss jedoch nicht die elektronische Stimmabgabe sein», sagt Olivier Maridor vom SBV. Dieser fordere primär, dass sehbehinderte Personen einen autonomen Zugang zum politischen Geschehen erhalten. Wie dieser aussehe, sei Sache der zuständigen Behörde, so Maridor.

Schablonen in Deutschland

Auch Ananiadis sieht die Lösung nicht bei der Einführung von E-Voting, sondern darin, die Abstimmungsunterlagen gesamtschweizerisch zu vereinheitlichen. Denn so könne man die Hilfsmittel der Sehbehindertenauf die Abstimmungsunterlagen abgleichen. «Solange die Unterlagen von Gemeinde zu Gemeinde verschieden sind, ist das aber nicht möglich», sagt er.

Dass es eine solche analoge Alternative zum E-Voting gibt, zeigtein Blick ins Ausland. Wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) auf seiner Internetseite schreibt, werden in Deutschland zum Beispiel Schablonen für Stimmzettel angeboten. Diese können auf die auszufüllenden Felder auf dem Wahlzettel gelegt werden. Ob die Schablonen jedoch ohne Hilfe angewendet werden können, ist fraglich. Judith Hanhart von Agile.ch sieht die Zukunft eher im E-Voting: «Menschen mit Behinderungen profitieren enorm von der Digitalisierung.»

Die Behörden haben noch keine Lösung parat. Die Bundeskanzlei habe Verständnis für die Anliegen des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes und suche mit den Kantonen nach Lösungen, teilt Ursula Eggenberger, Leiterin Sektion Kommunikation, mit.

Barrierefreier Tourismus und Zugang in der Destination Davos Klosters

(Nau)

Immer mehr Menschen sind bei der Fortbewegung auf ein Hilfsmittel mit Rädern angewiesen. Inzwischen wird dieses Segment auf rund 20 Prozent der Bevölkerung geschätzt.

Schwellen, Stufen und Treppen. Nadelöhre, die nur im Seitwärtsgang passierbar sind. Wege, die abrupt vor grossen Steinen enden. Zimmereinrichtung, die nur im Stehen zu bedienen und Transportmittel, die nur mit einem grossen Schritt zu erklimmen sind.
Das alles sind Barrieren, die Menschen, die auf Räder angewiesen sind im Alltag einschränken. Gemeint sind damit ältere Personen oder Eltern mit Kinderwagen aber auch Rollstuhlfahrer.
Ihnen allen in Zukunft ein attraktives Angebot unterbreiten zu können, hat sich die IG Davos Klosters Access Unlimited vorgenommen. Projektpartner sind Pro Infirmis, die Destination Davos Klosters und die Regionalentwicklung der Region Prättigau/Davos.
Ziel ist es, dass alle in der Mobilität eingeschränkten Personen in der Destination ein durchgehendes Angebot vorfinden, das auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Gemeint ist damit, dass die Reise, die Unterkunft und die Freizeitaktivitäten zuverlässig barrierefrei möglich sind. Steht man jetzt noch ganz am Anfang, so soll es schlussendlich möglich sein, vom heimischen Computer aus ganze Angebote buchen zu können.

Markt mit Wachstumspotenzial
Ganz so weit ist man allerdings noch nicht. In einem ersten Schritt ist man dabei, zuerst einmal das bereits vorhandene Basisangebot abzuklären.
Das beinhaltet die Zugänglichkeit zum öffentlichen Verkehr wie auch das angebotsnahe Parkieren. Dann geht es um Unterkünfte, Restaurants, öffentliche WCs und andere Anlagen.
Wichtig ist dies, weil der Barrierefreiheit im öffentlichen Leben immer mehr Bedeutung zukommt. Auf der einen Seite sind es immer mehr gesetzliche Vorschriften, die einen barrierefreien Zugang verlangen.
Auf der anderen Seite wächst wegen des demografischen Wandels die Zahl älterer Mitmenschen. So tendieren ältere und behinderte Reisende dazu, länger zu reisen und eine grosse Bindung zum Reiseziel aufzubauen.
Vorausgesetzt sie finden dort eine ihren Bedürfnissen entsprechende funktionierende Infrastruktur. Ausserdem reisen sie oft in Begleitung, was zusätzliche Wertschöpfung bedeutet.
Zugute kommen soll das Wegräumen von Barrieren nicht nur zusätzlichen Gästen, profitieren werden auch die treuen Stammgäste und Zweitwohnungsbesitzer, die sich allmählich mit den Herausforderungen des Alterns konfrontiert sehen.

Standardisierte Beurteilung
Voraussetzung für eine Bewertung als barrierefrei ist eine standardisierte von Pro Infirmis vorgegebene Beurteilung.Unter den hiesigen Beherbergern hat sich bereits eine erfreulich hohe Zahl für diese standardisierte Erfassung ihrer Angebote angemeldet.
In einem nächsten Schritt werden sie im kommenden Winter von Testern besucht werden, die von Pro Infirmis ausgebildet wurden. Diese, Rollstuhlfahrer wie Menschen ohne Einschränkungen, bewerten aufgrund genauer Vorgaben, die von den Anbietern gemachten Angaben und übermitteln ihre Resultate an Pro Infirmis.
Bis im kommenden Frühjahr sollen die Ergebnisse dort zusammengezogen und bereit sein, für die weitere Verwendung auf der Homepage der Destination. Denn das grundlegende Problem ist, dass viele Angebote zwar vorhanden und attraktiv, aber einfach zu wenig bekannt sind. So ist zum Beispiel die Madrisa weitgehend barrierefrei.
Dort fährt die erste Sesselbahn für Monoskifahrer und es stehen für deren Bedürfnisse speziell ausgebildete Skilehrer bereit. Diese und weitere Angebote zu finden und sichtbar zu machen ist ein erstes Ziel der IG.
Bis im Herbst 2020, so die Projektplanung, will man bereit sein, potenziellen Gästen die Möglichkeiten in übersichtlicher und buchbarer Form anzuzeigen. Die Kosten hierfür belaufen sich auf gut CHF 100‘000.– und sind mit Beiträgen der öffentlichen Hand sowie zahlreichen Sponsoren auf gutem Weg was die Finanzierung betrifft.

Angepasste Freizeitangebote
In einem zweiten Schritt sollen auch die Freizeitangebote ausgebaut werden. Dazu gehören die Anschaffung von sogenannten Zughilfen für Rollstühle, sowie die Schaffung eines SledgeHockey-Angebots, ein Novum in derSchweiz.
Von Sponsoren schon zugesichert ist die Finanzierung von zwei sogenannten Tennisrollstühlen sowie einer Monoski-Ausrüstung. Denn, ganz im Zeichen der Zeit werden Ausrüstungsgegenstände eher vor Ort gemietet, als kompliziert transportiert.
Stimmt das restliche Angebot, steht dem sportlichen Plausch dann nichts mehr im Weg.

«Die Dynamik in der Behindertenpolitik erachte ich als sehr mittelprächtig»

(Curaviva / deutsche Ausgabe)

CVP-Nationalrat Christian Lohr* ist massgeblich daran beteiligt, dass es auf Bundesebene eine eigentliche Behindertenpolitik gibt. Ziel der nächsten Legislatur müsse sein, die Selbstbestimmung zu fördern – beim Wohnen, beim Arbeiten und in der Lebensgestaltung.
Interview Elisabeth Seifert*

Christian Lohr,57,sitzt seit 2011 für die CVP Thurgau im Nationalrat. Er ist zudem als Dozent an verschiedenen Fachhochschulen tätig. Christian Lohr lebt von Geburt an mit einer Behinderung: Diese geht zurück auf ein Medikament,das seine Mutter während der Schwangerschaft gegen Keuchhusten erhielt. Es enthielt Thalidomid, denselben Wirkstoff wie das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan,das bei Föten zu Fehlbildungen führte. Christian Lohr ist ledig und wohnt in Kreuzlingen.

Herr Lohr, Sie sitzen seit 2011 im Nationalrat und engagieren sich immer auch für die Interessen von Menschen mit Behinderung. Stossen Sie mit Ihren Anliegen auf offene Ohren?

Christian Lohr: Mit Überzeugung kann ich sagen: Ja, das ist so. Das hat zum einen mit meiner persönlichen Lebenssituation zu tun. Ich werde als Experte wahrgenommen, der aufgrund seiner eigenen Erfahrung weiss, wovon er spricht. Zum anderen hat es auch mit der Art und Weise zu tun, wie ich dieses politische Thema behandle. Für mich ist es sehr wichtig, dass inder Diskussion über Themen, die Menschen mit Beeinträchtigung betreffen, vor allem sachliche Argumente im Vordergrund stehen und nicht so sehr die emotionalen Aspekte. Bei aller Offenheit, die ich gegenüber diesen Themen wahrnehme, gibtes natürlich noch viel zu tun, besonders, was die Haltung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung betrifft.

Was kritisieren Sie an dieser Haltung?

Die Unterstützung von Menschen mit Behinderung war lange Jahre von einer fürsorgenden Haltung geprägt. Diese Haltung liegt in der Geschichte begründet und hat zum heutigen hohen Standard in Betreuung und Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung beigetragen. Jetzt brauchen wir aber eine neue Haltung. Ganz wichtig ist, dass man auch im Parlament nicht über die Menschen mit Behinderungen redet, sondern mit ihnen.

Sie sprechen damit eineForderung der UN-Behinder-tenrechtskonvention an…

Mit der UN-BRK haben wir einverstärktes Mittel in der Hand, um die Integration oder die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu forcieren. Eines der zentralen Postulate ist die Selbstbestimmung. Daraus leitet sich jetzt nicht nur einfach ab, dass mehr gemacht werden soll, um Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Vielmehr verbinde ich damit auch die Aufforderung an die Betroffenen selbst, sich stärker einzubringen. Ich erwarte zudem von den Behindertenorganisationen und den Verbänden, dass sie Menschen mit Behinderung aktiv in ihre Arbeit einbinden.

Welche politischen Schwerpunkte haben Sie in den letztenLegislaturen in Ihrer politischen Arbeit im Bereich Behinderung gesetzt?

Die Ratifizierung der UN-BRK durch die Schweiz war für mich
der Anlass, in einem Postulat einen Bericht des Bundesrats zu einer kohärenten Behindertenpolitik zu fordern. Oder anders ausgedrückt: Es ging und geht mir darum, überhaupt eine Behindertenpolitik auf Bundesebene zu installieren. Der Bericht liegt seit Mai 2018 vor. Zuvor gab es keine spür- und erkennbaren Politik für Menschen mit Beeinträchtigungen. Langsam werden erste Konturen sichtbar. Aber man tut sich sehr schwer damit.

Was ist eine «kohärente Behindertenpolitik»?

Behindertenpolitik ist nicht einfach mit IV-Politik gleichzusetzen. Behindertenpolitik muss darüber hinaus gehen und etwa eine Arbeitsmarktpolitik miteinschliessen. Zum einen geht esum eine verbesserte Integration in den ersten Arbeitsmarkt, aber auch um eine breitere Vielfalt im zweiten Arbeitsmarkt. Damit das realisiert werden kann, benötigen wir eine Bildungspolitik:Menschen mit Beeinträchtigung haben dann die grössten Chancen, wenn sie sich aus- und weiterbilden können. Weiter müssen geeignete Assistenzmodelle eingeführt werden, um selbstbestimmte Wohnformen zu ermöglichen.

Hat das Fehlen einer nationalen Behindertenpolitik nicht auch damit zu tun, dass in etlichen Belangen die Kantone die Hauptverantwortung tragen?

Ich beobachte immer wieder, dass sich Bund,Kantone und Gemeinden die Fragen rund umdie Unterstützung von Menschen mit Behinderung hin- und herschieben. Das empfindeich als unwürdig. Die fragwürdige Folge ist, dass viele Behördenund Verwaltungen nicht gewillt sind, sich aktiv an entsprechenden Projekten zu beteiligen. Der Bund kann nicht einfach den Kantonen die Verantwortung zuschieben, ohne selbst eineklare Vorstellung von einer Behindertenpolitik zu haben. Mein Anliegen war und ist es, der Behindertenpolitik in doppeltem Sinn ein Gesicht zu geben, inhaltlich und mit meiner Person.Heute kann man das Thema Behindertenpolitik auch im Bundesparlament nicht mehr auf ein Nebengleis stellen.

Müssen wir nicht tatsächlich darauf achten, dass die Kostennicht aus dem Ruder laufen?

Es geht nicht um einen Ausbau des Sozialstaates. Es geht vielmehr darum, dass wir mit der gleichen Innovationskraft wie in der Wirtschaft auch im Bereich der Unterstützung von Menschen mit Behinderung neue Ideen und Modelle entwickeln.Mehr Selbstbestimmung von Menschen wird nicht zu höheren Kosten führen. Im Gegenteil: Verschiedene Studien zu selbstbestimmten Wohnformen zeigen zum Beispiel, dass die zielund bedarfsgerechte Unterstützung mit Assistenzen gerade auch volkswirtschaftlich Sinn macht.

Wo steht die Behindertenpolitik?

Der Bundesrat hat in seinem Bericht in vielen Punkten definiert oder zumindest angetönt, wohin die Reise gehen muss. Jetzt aber müssen diese Anliegen konkretisiert und umgesetzt werden.Die Dynamik in der Behindertenpolitik erachte ich zurzeit als sehr mittelprächtig. Wir brauchen eine Art Aktionsplan. Dieser darf dann aber nicht eine Zusammenstellung der guten Absichts ein, sondern muss mit einem klaren Zeitplan verbunden sein.

«Die Unterstützungmit Assistenzen macht auch volkswirtschaftlich Sinn.»

Welches sind die Eckwerte eines solchen Aktionsplans?

Ein Ziel der nächsten vier Jahre muss sein, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu fördern, in der Lebensgestaltung, beim Wohnen und beim Arbeiten. Das geht nur mit entsprechenden Assistenzmodellen. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen definieren. Für mich ist es dabei eine Notwendigkeit, dass auch Menschen mit schweren Beeinträchtigungen dank Assistenzen selbstbestimmt leben und arbeiten können. Gesellschaftlich müsste für diese Forderungen viel mehr Unterstützung kommen. Wir benötigen auch genügend qualifizierte Personen, die solche Assistenzaufgaben übernehmen können. In Verbindung mit den Assistenzen wird das Hauptthema in den kommenden Jahren die Befähigung respektive das Empowerment von Menschen mit Behinderung sein.Für das selbstbestimmte Leben braucht es Befähigung.

Was verstehen Sie unter der Befähigung und dem Empower-ment von Menschen mit Beeinträchtigung?

Wir müssen Energie und auch finanzielle Mittel in die Aus- und Weiterbildung stecken. Dabei gilt es, den Fokus auf die Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung zu richten und sie nicht auf ihre Defizite zu reduzieren. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Gesellschaft und die Politik etwas Angst davor haben, Menschen mit Beeinträchtigung zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. Wir befürchtenden Kontrollverlust. Dies Furcht äussert sich dann in Bedenken darüber, ob Menschen mit Beeinträchtigung überhaupt in der Lage sind, zu wissen, was für sie gut ist. Gerade bei Menschen mit psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen.

Wie begegnen Sie solchen Befürchtungen?

Es geht mir nicht darum, der Realität auszuweichen. Mir ist es wichtig, dass man den Menschen in ihrer jeweiligen Situation gerecht wird. Egal, welcher Art eine Beeinträchtigung sein mag,die Betroffenen verfügen immer auch über bestimmte Kompetenzen und Fähigkeiten, an denen man anknüpfen kann.

Besonders schwer tut sich die Schweiz mit der Integration von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt: Was halten Sie von Quoten?

Mit Forderungen, die Druck auf die Unternehmen ausüben, bin ich sehr zurückhaltend. Ob das jetzt Quoten sind oder auch ein Kündigungsschutz. Ich möchte die Unternehmen vielmehr motivieren, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben. Sie müssen eine Perspektive in ihrem Leben bekommen, an der Gesellschaft teilhaben und diese mitgestalten können.

Was wird Sie persönlich im Bereich der Behindertenpolitik in der nächsten Legislatur besonders beschäftigen?

Ich werde immer wieder Gespräche mit dem Departementsvorsteher des EDI führen und erlaube mir, den Prozess aktiv zu begleiten. Neben der eigentlichen Politik hier im Bundeshaus werde ich weiterhin das Gespräch mit öffentlichen und privaten Unternehmen suchen, um Sensibilisierungsarbeit zu leisten.Wichtig ist mir zudem der Austausch mit Selbstvertretern, also den Betroffenen selbst. Eine wichtige Aufgabe sehe ich darin, die verschiedenen Selbstvertreter-Gruppen zusammenzubringen.Mein erklärtes Ziel war und ist es zudem, dass wir nicht bei der Behindertenpolitik stehen bleiben, sondern diese vielmehr in eine Gesellschaftspolitik integrieren.

Sie skizzieren damit die Idee der Inklusion?

Ja, natürlich. Die Behindertenpolitik soll ein Teil der Gesellschaftspolitik sein. Das müssen wir in den nächsten Legislaturperioden in Angriff nehmen. Es geht darum, unterschiedliche Arten von Menschen in den politischen Gestaltungsprozess mit einzubeziehen, Strukturen zu schaffen, die allen Teilhabe ermöglichen.

Wie nehmen Sie die politische Arbeit von Behindertenorganisationen und der Verbände Curaviva Schweiz und Insos Schweiz wahr?

All diese Organisationen und Verbände bemühen sich. Curaviva Schweiz, Insos Schweiz und der VAHS zum Beispiel haben mit einem nationalen Aktionsplan eine gute Richtung vorgegeben. Jetzt muss es aber darum gehen, die kommunizierten Massnahmen auch umzusetzen. Ich würde mir zudem wünschen, dass sie in der Politik spürbarer werden. Die Organisationen und Verbände sind stark mit eigenen Themen, spezifischen Fragen im sozialpolitischen Bereich beschäftigt. Damit macht man aber keine Behindertenpolitik. Es braucht eine Vision und echten Gestaltungswillen.

Christian Lohr im Bundeshaus, seinem Wirkungsort: «Ich verstehe mich als Gesellschaftspolitiker, nicht als Behindertenpolitiker.Wir müssen Strukturen schaffen, die allen Menschen Teilhabe ermöglichen.»Foto: Béatrice Devènes

 >

Jetzt übernehmen wir die Werbung

(pro infirmis)

Die Werbung ist ein Spiegel der Gesellschaft. Doch haben Sie schon mal ein Model mit Behinderung in der Werbung gesehen? Mit einer sichtbaren Behinderung? Eben. Mit der Kampagne „Ungehindert behindert“ geht Pro Infirmis bewusst ins andere Extrem, indem ausschliesslich Menschen mit Behinderung gezeigt werden – und übernimmt dabei bekannte Werbesujets von Schweizer Firmen.

Abbildung der Plakate „Appenzeller“ der aktuellen Pro Infirmis Kampagne

 

„Ungehindert behindert“ – auch in der Werbung

Migros, Coop, Galaxus, die Appenzeller und die Mobiliar – sie alle machen mit und stellen ihre Plakat-Sujets zur Verfügung. «Wir setzen uns für eine inklusive Gesellschaft ein und sind mit dieser Haltung bei den Unternehmen auf viel positive Resonanz gestossen. Da Menschen mit Behinderung in der Werbung bisher fehlen, machten wir den ersten Schritt», sagt Susanne Stahel, Leiterin Kommunikation und Mitglied der Geschäftsleitung bei Pro Infirmis. Pro Infirmis will nicht nur die breite Öffentlichkeit für die Anliegen von Menschen mit Behinderung sensibilisieren, sondern auch jene, die Werbeaufträge vergeben, konzipieren, realisieren und finanzieren und damit das Bild prägen, das in unserer Gesellschaft transportiert wird.

Die Werbung als Spiegel unserer Gesellschaft

Werbung ist mehr als einfach nur Reklame, die dem Verkauf von Produkten dient. Werbung ist Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte, das Abbild einer Gesellschaft und davon, was als schön und begehrenswert gilt. Werbung schafft auch Vorbilder und Identifikationsfiguren – diese fehlen für 1.8 Mio. Menschen mit Behinderung bisher.

Wir engagieren uns mit den beteiligten Unternehmen dafür, dass Menschen mit Behinderungen selbstverständlich in der Werbung vorkommen dürfen und als Teil unserer Gesellschaft wahrgenommen werden, wie alle anderen Menschen auch.

Sehen Sie hier, Making of – «ungehindert behindert»

Mehr zu die Kampagnen Partnern

Interview Appenzeller

Interview COOP

Interview Migros

Wahlrecht wird Tausenden verwehrt

(Luzerner Zeitung)

Geistig beeinträchtigte Personen dürfen teils weder wählennoch abstimmen. Verbände fordern ein Umdenken.(Yasmin Kunz)

Schweizweit sind 16 000 Personen aufgrund geistiger oder psychischer Beeinträchtigung vom Wahl- und Stimmrecht ausgeschlossen, wie SRF kürzlich schrieb. Wie viele es im Kanton Luzern sind, ist nicht gebündelt in Erfahrung zu bringen. Die Zahlen müssen bei jeder Gemeinde separat abgefragt werden. Um Rückschlüsse auf Personen zu vermeiden und den Datenschutz nicht zu verletzen – weil in gewissen Gemeinden teils nur eine Person betroffen ist – wird auf eine Auflistung verzichtet. Gemäss Stimmrechtsgesetz des Kantons Luzern ist von der Stimmfähigkeit nur ausgeschlossen, wer wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft steht. In der Regel also Menschen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung.

Eine grobe Einschätzung für den Kanton Luzern lässt sich mit den Zahlen des Bundesamtes für Statistik vornehmen. Im Kanton Luzern beträgt der Unterschied zwischen den über 18-jährigen Schweizerinnen und Schweizern (die theoretisch stimmberechtigt sind) und den Stimmberechtigten, die im Kanton Luzern wohnen, rund 350 Personen. Das deckt sich in etwa mit den Zahlen (312 im Jahr 2018) der Konferenz für Kindesund Erwachsenenschutz. Diese hält fest, wie viele Personen schweizweit unter welcher Beistandschaft stehen.

«Kleinunternehmer» von Wahlrecht ausgeschlossen

Einer der schweizweit 16 000 ist Andreas Rubin. Er ist 32 Jahre alt und hat das Downsyndrom (Trisomie 21). Gemäss Insieme Schweiz werden pro Jahr etwa 100 Kinder mit Trisomie 21 geboren. Andreas Rubin lebt im Kanton Bern in einer begleiteten Wohngemeinschaft und führt nach eigenen Angaben ein Kleinunternehmen mit dem Namen «Aktives Leben». Schon nach den ersten Sätzen im Gespräch wird klar: Rubin hat sehr wohl eine eigene Meinung und kann diese auch verständlich ausdrücken. Dennoch durfte er bis dato nie an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen. «Das finde ich nicht in Ordnung.»

Doch nun ist es anders. Seine Beistandschaft wurde angepasst, und er darf heuer das erste Mal abstimmen und damit aktiv am politischen Geschehen teilnehmen. «Es ist so cool, dass ich die Stimm- und Wahlunterlagen ausfüllen konnte», erzählt er stolz. Beim Gespräch letzte Woche waren seine Wahlunterlagen bereits abgeschickt. Er sagt: «Es ist wichtig, dass alle Menschen ihre Meinung äussern können.» Die Umsetzung dieses Rechts fordert er von der Schweizer Politik. «Immerhin kann ich jetzt schon mal mitreden.»

«Die aktuelle Rechtslage ist nicht vereinbar mit dem Völkerrecht.»


Caroline Hess -KleinVerband Inclusion Handicap

 

Weil Andreas Rubins Sehkraft eingeschränkt ist, brauchte er beim Ausfüllen der Wahl-unterlagen Unterstützung. «Meine Beiständin hat mir geholfen», sagt er und fügt selbst bewusst an: «Ich habe aber eine andere Meinung als sie und habe nicht gleich gewählt wie die Beiständin.» Ausserdem sei die Broschüre von Insieme Schweiz und easyvote für ihn hilfreich gewesen (siehe Kasten). «Das Wahlprozedere ist schon nicht ganz einfach zu verstehen. Ich bin froh, hatte ich etwas Hilfe.» Für Rubin ist klar: Er wird bei der nächsten Abstimmung wieder an die Urne gehen. Und er betont: «Das müssten alle machen können – da brauchtes eine Veränderung.»

Pauschaler Ausschluss «ist inakzeptabel»

Die Bundesverfassung hält dazu folgendes fest: Die politischen Rechte in Bundessachen stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu (…), die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind.«Dauernde Urteilsunfähigkeit»sowie die «umfassenden Beistandschaft» konkretisieren den Ausschluss.

Für Caroline Hess Klein,stellvertretende Geschäftsführerin des Dachverbands InclusionHandicap, ist der daraus folgende pauschale Ausschluss der politischen Rechte der Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung inakzeptabel. «Sie können vielleicht nicht selber einen Haushalt führen. Aber viele unter ihnen sind unter Umständen sehr wohl in der Lage, sich eine politische Meinung zu bilden.» Es dürfe nicht sein, dass Menschen aufgrund von Behinderungen ausgeschlossen würden, auf politischer Ebene zu partizipieren.Aber genau das ist in der Schweizder Fall: Sämtliche Menschen,die geistig oder psychisch beeinträchtigt sind und wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unterumfassender Beistandschaft ste-hen, dürfen nicht an die Urne.

Die Entscheidungshoheit über die Form der Beistandschaft liegt bei den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden(Kesb). Es gehöre jedoch nicht zu den Aufgaben der Kesb, zu beurteilen, ob die Person über die Fähigkeit verfüge, politische Themen zu verstehen. Die Behörde prüft bei der Auswahl der Beistandschaft primär, in welchem Ausmass die betroffene Person im Alltag Hilfe braucht.

Klar ist auch, dass die Schweiz 2014 die UNO-Behindertenrechtskonvention, kurz UNO -BRK, ratifiziert hat. Dadurch hat sie sich verpflichtet,auch Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte zu garantieren. Konkret muss sie sicherstellen, dass diese gleichberechtigt am politischen Lebenteilhaben können. Doch zeigt sich in der Schweiz ein anderes Bild. Caroline Hess-Klein sagt dazu: «Die aktuelle Rechtslage auf Bundes- und Kantonsebene ist nicht vereinbar mit dem Völkerrecht.» Was müsste sich ändern? Hess-Klein: «Das Dringendste ist, den Automatismus,wonach Personen, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter voller Beistandschaft stehen, die politischen Rechte entzogen werden, aufzugeben.»Auf politischer Ebene sei unter Einbezug der betroffenen Menschen mit Behinderungen und ihrer Organisationen zu diskutieren, wie die Verpflichtungen nach UNO -BRK bei Wahlen und Abstimmungen am besten umgesetzt werden können, so Hess-Klein.

Politik ist ein Teil der gesellschaftlichen Teilhabe

Eine Option sei, dass man unabhängig vom Vorhandensein einer Behinderung alle Schweizer Bürgerinnen und Bürgerwählen und abstimmen lasse.Bei Bedarf müsse man ihnen die hierzu nötige Unterstützung zukommen lassen. So wie etwa die angesprochene Wahlhilfe. Dass sich die Situation für die Betroffenen nicht von heute auf morgen ändern wird, ist Hess-Klein klar. «Es geht bei diesen Fragestellungen um tief greifende Veränderungen in unserer Gesellschaft. Diese brauchen Zeit und setzen voraus, dass eine Bewusstseinsbildung stattfindet.»

Das Thema Wählen und Abstimmen ist auch bei der Stiftung Brändi in Kriens ein Thema, wie Kommunikationsleiter Matthias Moser sagt. «Im Rahmen der Förderung und Verwirklichung der gesellschaftlichen Inklusion ist Politik ein Bestandteil.» Die gesellschaftliche Teilhabe sei eine der Grundlagen für ein individuelles und selbstbestimm.

Erstmals Wahl hilfe in leichter Sprache

Der Dachverein Insieme Schweiz,der sich gemeinsam mit und für Menschen mit geistiger Behinderung einsetzt, hat heuer zum ersten Mal – in Zusammenarbeit mit easyvote – eine Wahlbroschüre erarbeitet. Diese erklärt in leichter Sprache das politische Wahlprozedere in der Schweiz. Zustande gekommen ist diese 19-seitige Wahlhilfe auf Initiative von Personen mit kognitiver Beeinträchtigung, die vor rund einem Jahr beider Bundeskanzlei ihr Anliegen für verständliche Wahlerklärung deponiert haben.

Gemäss Jan Habegger, Projektleiter bei Insieme Schweiz,wurden 23 000 Broschüren in Deutsch, Französisch und Italienisch gedruckt und an Menschen mit Beeinträchtigung verteilt. Die Nachfrage sei gross. Ein abschliessendes Fazit will er aber erst nach den Wahlen ziehen. Die Broschüre ist aufwww.insieme.cherhältlich.(kuy)tes Leben. Moser betont, dass die Verbände der Dienstleistungsanbieter für Menschen mit Behinderung auf nationaler Ebene mit dem «Aktionsplan UNO-BRK» wichtige Impulse geliefert haben. Dennoch: Zufrieden ist Moser noch nicht. «Wir beobachten im politischen und gesellschaftlichen Umfeld eine gewisse Entsolidarisierung, einen teilweise undifferenzierten Umgangmit Minderheiten und Benacheiligten. Hier besteht Bedarf, wenn die UNO-Umsetzunghrittweise gelingen soll.»


Die Schweiz hat sich verpflichtet, Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte zu garantieren.Symbolbild: Plus Amrein (13. Oktober 2019)

 

Wahlfreiheit beim Wohnen für Menschen mit Behinderung

(Toggenburger Tagblatt)

Die UNO-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass Menschen mit Behinderung selber bestimmen können, wie, mit wem oder wo sie wohnen. Sie müssen die gleichen Wahlmöglichkeiten haben wie alle anderen Menschen in der Gesellschaft. Menschen mit Behinderung sind nicht verpflichtet, in besonderen Wohnformen, wie zum Beispiel in einem Heim, zu leben.

Die Beratungsstellen von Pro Infirmis werden immer wieder mit Fragen zum Thema Wohnen aufgesucht.Jeder Mensch braucht ein Zuhause:einen Ort, um Freunde einzuladen, eine Umgebung, die man so einrichten kann, wie es einem persönlich gefällt. Leider wissen noch zu wenige Menschen mit Behinderung, dass sie das Recht haben,ihre Wohnsituation selbstbestimmt zu wählen.

Selbstständig oder ineiner Institution wohnen

Das selbstständige Wohnen ineiner eigenen Wohnung ist die häufigste Wohnform in unserer Gesellschaft. Selbst bestimmt wird entschieden, ob jemand alleine oder zusammen mit selbst gewählten anderen Personen wohnt.

Menschen mit Behinderung,die diese Wohnform wählen,müssen dafür so viel ambulante Unterstützung erhalten, wie sie für ihre eigenständige Lebensführung benötigen. Dienste wie Spitex, Haushalthilfe, Begleitetes Wohnen oder Assistenz klären gemeinsam mit den Betroffenen, welche individuellen Hilfeleistungen nötig sind und wie diese finanziert werden können.

Das stationäre Wohnen in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung wird von vielen Trägerschaften in unterschiedlicher Form angeboten:Es gibt Wohnheime, Wohngruppen oder Betreutes Wohnen in Einzelwohnungen. Die Unterstützung reicht von wenigen Stunden pro Woche bis zu Betreuung rund um die Uhr.

Unterschiede bei der Finanzierung

Ein wichtiger Unterschied zwischen dem selbstständigen und dem stationären Wohnen ist neben der Intensität der Betreuung auch die Finanzierung.

Beim Wohnen in einer Institution muss für Unterbringung,Essen und Betreuung eine Pauschale bezahlt werden und für persönliche Bedürfnisse bleibt nur ein kleiner Betrag zur selbstständigen Einteilung.

Beim Leben in der eigenen Wohnung werden die Ausgaben für die Miete und andere monatliche Kosten selber bezahlt. Für den Lebensbedarf steht mehr Geld zur Verfügung. Das ermöglicht einen grösseren Entscheidungsspielraum.

Keine der erwähnten Wohnformen ist besser oder schlechter. Sie muss für die betroffene Person passen und von ihr gewählt werden. Um sich für die persönlich richtige Wohnform entscheiden zu können, brauchtes jedoch den Zugang zu allen relevanten Informationen.

Die Sozialarbeitenden von Pro Infirmis informieren Sie umfassend über die Möglichkeiten und begleiten Sie im Entscheidungsprozess.(pd)


Hinweis
Pro-Infirmis-Beratungsstelle
Wattwil, 05877520 88,
wattwil@proinfirmis.ch

ETH muss Behindertem 10000 Franken zahlen

(20 Minuten Zürich)


Die ETH wollte Jürg Brechbühl erst nicht zulassen. KEYSTON

 

Jürg Brechbühl musste sich die Zulassungan die ETH juristisch erkämpfen. Nun muss die Hochschule dafür zahlen.

Jürg Brechbühl ist Invalide. Bei einem fremdverschuldeten Autounfall erlitt er 1995 eine Hirnverletzung. Nach jahrelanger Rehabilitation schaffte der 55-Jährigeeinen Diplomabschluss als Biologe an der Universität Bern. Doch als er sich 2018 für ein Masterstudium ander ETH anmeldete, verweigerte sie ihm die Zulassung. «Ich fiel aus allen Wolken. Das ist diskriminierend. Die ETH verstösst bewusst und geplant gegen das Behindertengleichstellungsgesetz», sagt Brechbühl. Nun hat er einen Sieg er-rungen: Die ETH-Beschwerde-kommission entschied, dass die ETH ihn zum Studium zulassen und ihm 10 000 Franken Entschädigung bezahlen muss.Seit einigen Tagen ist Brechbühl immatrikuliert.

Über den Entscheid ist er froh: «Nicht jeder 2o-Jährige hat Geld für die Anwalts- und Verfahrenskosten oder Zeit, um sich das Studium zu erkämpfen. Ich will, dass es Jüngere leichter haben als ich.» Die ETH hatte die Ablehnung gegenüber der Kommission damit begründet, dass ein älteres Arztzeugnis Brechbühl nur eine Studierfähigkeit von zo Prozent zugestehe. Das Studium dauere damit länger als die Regelstudienzeit. Diese Prognose akzeptierte die Kommission nicht.

Die ETH hält trotz Urteil ander Argumentation fest, dass Brechbühl zu lange für das Studium hätte. Den Entscheid anfechten will sie aber dennoch nicht. Dass die ETH Behinderte diskriminiere, stimme nicht,sagt Sprecherin Franziska Schmid: «Die Vorwürfe sind haltlos.» Die Hochschule ermögliche vielen Menschen mit einer Behinderung ein Studium.
JENNIFER FURER/STEFAN EHRBAR


Jürg Brechbühl (55).

 

«Menschen Potenzial abzusprechen, ist falsch»

Herr Alijaj, was halten Sie vom Vorgehen der ETH?
Sie verletzt das Behindertengleichstellungsgesetz und handelt gegen die UNO-Behindertenrechtskonvention. Es liegt nicht an der Schulleitung zu entscheiden, was Studierende mit Behinderungen können. Es ist die Pflicht von Hochschulen,Rahmenbedingungen für den Nachteilsausgleich zu schaffen.

Ist das ein Einzelfall?
Nein. Hochschulen haben insbesondere mit gewissen Behinderungen in Kombination mit dem Alter der Studierenden ihre Mühe. Grundsätzlich einem Menschen Potenzial abzusprechen, ist falsch.

Was müssen Behinderte tun?
Sie müssen die Möglichkeiten einfordern. So müssen Hochschulen wie die ETH Flexibilität schaffen. Das kostet sie nicht sausser einem Eingeständnis.JEN/EHS
Islam Alijaj arbeitete am HGO-Bericht zur UNO Behindertenkonvention.

Leichte Sprache auf Parlamentswebseite

(Die Botschaft)

Auf parlament.ch, der Webseite des Eidgenössischen Parlamentes in Bern, gibt es ab dem 8. Oktober Basiswissen über den National- und Ständerat und seine Akteure auch in leichter Sprache für Menschen mit einer Einschränkung. Dahinter steckt ein Konzept, das Texte und Illustrationen stark vereinfacht, um Menschen mit einer Behinderung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern,wie die Parlamentsdienste am Donnerstag mitteilten.

Die Idee wird auf Initiative von Nationalratspräsidentin Marina Carobbio umgesetzt. Konkretisiert wurde sie von den Parlamentsdiensten in Zusammenarbeit mit Pro Infirmis. In der Schweiz haben rund 800 000 Menschen eine Leseschwäche. Die leichte Sprache enthält nur kurze einfache Sätze ohne Fremdwörter.Die Massnahme orientiert sich am Bericht des Bundesrates vom Mai 2018 zur Behindertenpolitik. Dieser hält fest, dass Menschen mit Behinderung überall am Leben in der Gesellschaft autonom und gleichberechtigt teilnehmen dürfen.

Am 8. Oktober am Abend wird sich auch ein Podium in der Wandelhalle der Frage widmen, wie zugänglich Parlamentsbetrieb und Parlamentsgebäude für Menschen mit Behinderung sind, welche Hindernisse bestehen und was noch einer Lösung harrt.

Umfrage bei Kandidatinnen und Kandidaten der Parlamentswahlen

(pro infirmis)

Das Thema Behinderung stösst bei den Kandidatinnen und Kandidaten der Parlamentswahlen auf wachsendes Interesse. Was die damit verbundenen Herausforderungen betrifft, sind sie aber oft etwas ratlos. Das zeigt eine Umfrage von Pro Infirmis.

Der Fragebogen von Pro Infirmis beschäftigte sich mit der umfassenden Behindertenpolitik, der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung, den Leistungsverträgen zwischen BSV und Behindertenorganisationen, den Hilfsmassnahmen für ein selbständiges Leben, dem hindernisfreien Bauen und der Zugänglichkeit sowie den pflegenden und betreuenden Angehörigen.

719 gültig ausgefüllte Fragebogen sind eingegangen , was bedeutet, dass 16% der Kandidierenden von rund 20 Parteien geantwortet haben. Im Vergleich zur Umfrage im Jahr 2015 stellt Pro Infirmis somit eine sehr erfreuliche Zunahme der Rücklaufquote um 11% fest.

20% der Bevölkerung der Schweiz lebt mit einer Behinderung. Dennoch erklärten zahlreiche Kandidierende, sie würden sich in diesem Thema nicht genügend auskennen, und bedankten sich bei Pro Infirmis für diesen Fragebogen, dank dem sie die wichtigsten Probleme und Herausforderungen im Zusammenhang mit Behinderung besser erfassen konnten.

Die Befragten befürworten vor allem die Zugänglichkeit von Infrastrukturen (95% Ja zu allen Massnahmen, die den Zugang von Menschen zu Gebäuden und Dienstleistungen erleichtern), Hilfsmassnahmen für ein selbständigesLeben (95% Ja zur Bereitstellung der notwendigen zusätzlichen Geldmittel im Rahmen der IV) und die Anerkennung der Arbeit der pflegenden und betreuenden Angehörigen , insbesondere die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung (97% Ja zum Entwurf des Bundesgesetzes, den der Nationalrat am vergangenen 23. September gutgeheissen hat). Zahlreiche Kandidierende erklären, sie seien direkt von diesem Thema betroffen, sei dies im Beruf oder auf der persönlichen Ebene als pflegende/r Angehörige/r.

Die grosse Mehrheit der Befragten verspricht, sich für alle Massnahmen einzusetzen, die das Leben von Menschen mit Behinderung erleichtern, und eine inklusive Gesellschaft mit zugänglichen Räumen und Dienstleistungen zu fördern. Die Notwendigkeit, ein würdiges Leben zu finanzieren und die vielen Sparmassnahmen im Sozialbereich zu beenden, wird insbesondere von den Vertreterinnen und Vertretern der linken Parteien hervorgehoben.Massnahmen zur Unterstützung der beruflichen Integration finden Unterstützung, hingegen werden Sanktionen gegen Arbeitgeber, die sich nicht daran beteiligen, mehrheitlich abgelehnt.

Pro Infirmis wünscht sich, dass am kommenden 20. Oktober Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden, die sich mit Überzeugung für die Anliegen von Menschen mit Behinderung einsetzen. Sie wird die Kontakte mit ihnen auch während der nächsten Legislatur pflegen, um sie an ihr Engagement zu erinnern oder ihnen zusätzliche Erläuterungen zu den Herausforderungen und Auswirkungen ihrer Entscheide zu geben.

Weitere Informationen

Felicitas Huggenberger, Direktorin
felicitas.huggenberger@proinfirmis.ch , 058 775 26 80

Benoît Rey, Leiter Dienstleistungen Romandie und Tessin
benoit.rey@proinfirmis.ch , 058 775 30 88