Wenns nur am Geld scheitert

(Beobachter)

1V-BEITRÄGE. Menschen mit Behinderung können wählen, ob sie im Heim oder allein wohnen wollen. Vor allem für Schwerbehinderte bleibt es oft beim Wunsch.


Frei wie nie zuvor:Daniela Vasapolli lebt in ihrer eigenen Wohnung.

 

TEXT: CONNY SCHMID I FOTOS: ROGER HOFSTETTER
Vor vier Jahren zog Daniela Vasapolli mit ihrem Partner in den Kulturpark im Zürcher Industriequartier. Sie fühlte sich frei wie nie. Endlich Privatsphäre,endlich genügend Platz. Der Traum von der eigenen Wohnung war wahr geworden.

Die 41-Jährige leidet an einer angeborenen Muskelschwäche, braucht einen Rollstuhl und ist auf Hilfe angewiesen. Bis zum Umzug hatte sie im Heim gelebt und dort mit einem Mitbewohner eine Wohnung geteilt. Ihr Partner war die meiste Zeit auch da, in ihrem engen Zimmer, das war nicht immer gern gesehen. «Er ist nicht behindert, und man gab ihm zu spüren, dasser als Fussgänger nicht willkommen ist», sagt Daniela Vasapolli.

Die Wohnung mietet Vasapolli via den Verein «Leben wie du und ich». Er will Menschen mit Beeinträchtigungen – nebst Vasapolli leben noch vier weitere Betroffene dort – ein selbständiges Leben ermöglichen und bietet im Kulturpark auch Arbeitsplätze an.

Auf die Minute genau. Möglich ist dies dank dem 2012 eingeführten Assistenzbeitrag der IV. Er richtet sich vor allem an erwachsene Behinderte, die zu Hause leben oder aus dem Heim austreten wollen und eine Hilflosenentschädigung der IV erhalten. Mit dem Assistenzbeitrag können sie Personen anstellen, die sie unterstützen, sie etwa auf die Toilette begleiten oder mit ihnen einkaufen gehen. Die Behinderten werden so zu Arbeitgebern, mit allen Rechten und Pflichten.Der Verein unterstützt sie beim Management ihres Kleinbetriebs im Kulturpark.

Wie lange Daniela Vasapolli so leben kann, ist ungewiss. Denn der Assistenzbeitrag, den sie erhält, reicht nicht. Um festzustellen, wie viel Unterstützung notwendig ist, schätzt die IV auf die Minute genau, wie gross der Hilfebedarf ist – und rechnet mit einem Stundenlohn von Fr. 33.20 hoch. Das Problem dabei: Die IV hat fixe Obergrenzen, die auf Erfahrungswerten beruhen. Für das Essen etwa sind pro Tag höchstens 80 Minuten vorgesehen. Daniela Vasapolli braucht jedoch 140 Minuten. Beiträge gibt es für maximal acht Stunden pro Tag. Auch das reicht nicht für Vasapolli. Sie benötigt mehr.

Nach ihren Berechnungen fehlen ihr fast 40 000 Franken pro Jahr. Doch dieses Loch will niemand stopfen. Vasapolli könnte zusätzliche Ergänzungsleistungen beziehen – für krankheits- und behinderungsbedingte Kosten, die nicht durch Krankenkasse und IV gedeckt sind. Bei schwerer Hilflosigkeit wären das bis zu 90 000 Franken pro Jahr.

Doch seit der Assistenzbeitrag eingeführtwurde, ist alles komplizierter geworden. DerGrund: Das Geld kommt aus unterschiedlichenQuellen. Für den Assistenzbeitrag kommt derBund auf. Die Ergänzungsleistungen aber laufenüber die Kantone.

Dank der Hilfe von Freunden.
Seit vier Jahren streiten Vasapolli und zwei weitere Kulturpark-Bewohner mit den Zürcher Ämtern um die Koordination der Versicherungsleistungen. Nach einem Urteil des kantonalen Sozialversicherungsgerichts bot das zuständige Amt an. Vasapolli bis zu 25 000 Franken an zusätzlichen Ergänzungsleistungen zu zahlen. Das ist nicht genug: Es bedeutet faktisch, dass sie zurück ins Heim ziehen muss.

Dass Vasapolli die letzten vier Jahre selbständig wohnen konnte, ging nur dank der unbezahlten Hilfe durch Freunde, den Vollzeit arbeitenden Partner und den Verein. Auf Dauer keine Lösung.

Die Situation sei absurd, sagt die Co-Projekt-leiterin des Vereins, Jennifer Zuber. «Im Heim würden sämtliche Kosten übernommen. Wollen Menschen wie Daniela aber selbständig leben.werden ihnen tonnenschwere Steine in den Weg gelegt.» Das ergebe keinen Sinn. Denn der Kanton könnte sogar Heimkosten sparen.

Das Vorgehen der Zürcher Behörden widerspreche auch der Uno-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 unterzeichnet hat. Sie garantiert Menschen mit Behinderung, selber bestimmen zu können, wo und wie sie leben wollen. Für manche ist ein Heim die bessere Variante, andere sind glücklicher in den eigenen vier Wänden -aber sie sollen frei wählen können.

Hauptsache kostenneutral.
Dass der Assistenzbeitrag nicht zur grossen Befreiung führen würde, hatte sich schon bei der Einführung abgezeichnet. Er war in einer auf Sparen ausgerichteten IV-Revision das Zückerchen, musste aber «kostenneutral sein. Kurz: Er durfte nichts kosten.

Vor der Einführung war die Regelung in einem Pilotversuch unter grosszügigen Vorgaben getestet worden und hatte sich als zu teuer erwiesen. Deshalb beschränkte der Bundesrat Umfang und Zugang durch verschiedene Vorgaben.

Er entschied sich zum Beispiel für ein striktes Arbeitgebermodell: Wer einen Assistenzbeitrag bezieht, muss seine Assistenten selber anstellen. Man darf sie sich nicht von einer Organisation vermitteln lassen, die auch die Administration übernimmt. Wer dazu nicht in der Lage ist und diese Aufgaben nicht an einen Beistand delegieren kann, ist faktisch ausgeschlossen.

Keinen Anspruch auf den Assistenzbeitrag haben auch alle, die ihre Hilflosenentschädigung nicht von der IV beziehen, sondern von der Unfall- oder der Militärversicherung. Zudem dürfen in gerader Linie Verwandte nicht als Assistenten eingesetzt werden.


«Der Beitrag schliesst viele aus.Er ist nicht zu Ende gedacht.»Daniel Kasper, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz

 

Gemäss einer Evaluation des Bundes bezogen Ende 2016 nur rund 2200 Personen einen Assistenzbeitrag. Das ist deutlich weniger als ursprünglich angenommen. Die meisten Betroffenen sind sehr zufrieden mit dieser Lösung.

Was der Bericht auch zeigt: Der Anteil der Menschen mit schwerer Behinderung ist stark gesunken, von anfänglich 50 auf 30 Prozent.«Es ist ein grosses Mysterium, wohin diese Menschen verschwunden sind. Sicher ist, dassder Assistenzbeitrag viele von ihnen ausschliesst, weil er nicht zu Ende gedacht ist», sagt Daniel Kasper, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Alternatives Modell.
Daniel Kasper kritisiert,dass die Abklärungen der IV strikt auf einzelne Tätigkeiten wie Hilfe beim Essen oder Arbeitenim Haushalt ausgerichtet sind. «Es wäre sinnvoller, abzuklären, wie viele Stunden pro Tag ein Assistent da sein muss; unabhängig davon, welche Aufgaben er übernimmt», sagt er. Der Assistenzbeitrag könnte so beispielsweise auch Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung helfen. «In der Regel können sie die meisten Alltagsverrichtungen selber ausführen, aber es muss jemand dabei sein und eingreifen, wenn Probleme auftauchen.»

Kasper begleitet das Projekt im Kulturpark wissenschaftlich, seine Studie wird er Mitte September an einer Tagung vorstellen. Was er schon jetzt sagen kann: «Die Bewohnerinnen und Bewohner haben aus ihrer Sicht an Lebens-qualität gewonnen – und das, obwohl die Administration und der Kampf um Unterstützung ehr belastend sind.» Umso schlimmer wäre für sie ein Umzug zurück ins Heim.

Ob Zürich ein besonders hartes Pflaster ist für Schwerbehinderte, die in der eigenen Wohnung leben wollen, weiss niemand so genau. Einen Überblick über die Praxis in den Kantonen gibt es nicht. Weder beim Bundesamt für Sozialversicherungen noch bei der Sozialdirektorenkonferenz noch bei den Behindertenorganisationen. Klar ist nur: Es herrscht Wildwuchs.

Wer Zusatzleistungen erhält, wenn der Assistenzbeitrag nicht ausreicht, hängt letztlich von den kantonalen Ämtern und vom eigenen Verhandlungsgeschick ab. «Wir haben heute primär Einzelfalllösungen», sagt Anwalt Daniel Schilliger, Rechtsberater bei der Behindertenorganisation Procap. Wer im falschen Kanton wohnt oder sich nicht gut wehren kann, hat Pech gehabt.

Hoffen auf Bern.
Dass es auch anders geht, zeigen die Kantone Thurgau und Bern. Hier können Behinderte ein Assistenzbudget beziehen. Es deckt ergänzend allfällige Lücken und stehtauch Personen offen, die ihre Hilflosenentschädigung von der Unfall- oder der Militärversicherung beziehen. Weitere Vorteile: Sie können mit bis zu einem Drittel ihres Budgets direkte Angehörige als Assistenten einsetzen. Und Behinderte dürfen auch zusätzliche Dienstleistungen einkaufen, etwa bei Reinigungs- oder Treuhandfirmen. Im Thurgau erhält man nur ein Assistenzbudget, wenn es nicht mehr Kosten verursacht als ein Heimplatz.

Die Bedarfsabklärungen führt in beiden Kantonen das unabhängige Assistenzbüro in Biel durch. «Wir haben eine pfannenfertige Lösung und erhalten regelmässig Anfragen aus anderen Kantonen», sagt Mitgründer Alex Metger. Bisher ist aber kein anderer Kanton aufgesprungen.«Alle warten ab, was Bern nun macht.»Das aber wird dauern. Denn bei der Berner Lösung handelt es sich um ein Pilotprojekt bis 2023. Niemand wird mehr aufgenommen.

Ein selber entwickeltes, umfassendes Abklärungsinstrument, mit dem man die individuelle Situation der Betroffenen besser berücksichtigen konnte, hat der Kanton Anfang Juli über Bord geworfen. «Wie sich dies genau auswirkt, wissen wir derzeit noch nicht», sagt Metger.

Bis die Behinderten in der Schweiz wirklich selbstbestimmt leben können, wird noch einige Zeit verstreichen. Adelheid Arndt, Co-Projektleiterin beim Verein «Leben wie du und ich», ist enttäuscht. «Unser Pilotprojekt zeigt in derPraxis, wie Leben und Arbeiten mit Assistenz gelingen kann. Wir hatten gehofft, dass es in einer progressiven Stadt wie Zürich Anklang findet. Auf so einen Kampf waren wir nicht vorbereitet.» Der Bedarf nach dieser Lebensform sei riesig, es würden sich ständig neue Betroffene melden. «Wir tun alles, um die finanzielle Situation zu klären.»

Kinderrenten bei der IV sollen nicht sinken

(Neue Zürcher Zeitung)

Die Sozialkommission des Ständerates (SGK) will die Renten der Kinder von IV-Rentnerinnen und -Rentnern nicht senken. Sie stellt sich damit gegen den Nationalrat.(sda) Der Entscheid der Kommission fiel einstimmig, wie die Parlamentsdienste am Dienstag mitteilten. Der Nationalrat hatte mit 106 zu 66 Stimmen bei 10 Enthaltungen beschlossen, die Kinderrenten um 25 Prozentzu senken – von 40 auf 30 Prozent der IV-Rente von Mutter oder Vater. Ausserdem sollte die Kinderrente in «Zulage für Eltern» umbenannt werden.Die Ständeratskommission lehnt beides jedoch ab.

Im Nationalrat hatten die Vertreterinnen und Vertreter der bürgerlichen Parteien argumentiert, es dürfe nicht sein, dass Familien mit IV-Rente besser gestellt seien als Familien, die ihren Unterhalt selber verdienten.Die Ständeratskommission hat nun die finanziellen Verhältnisse von Fami-lien mit und ohne Kinderrenten verglei-chen lassen. Dabei habe sich gezeigt,dass Familien mit Kinderrenten und Ergänzungsleistungen weniger Einkommen zur Verfügung hätten als vergleichbare Familien ohne die Sozialleistungen,schreibt sie.

Eine Kürzung der Kinderrenten sei somit nicht angebracht. Dies gelte umso mehr, als der geplante Übergang zu einem stufenlosen Rentensystem einen Teil der Rentner finanziell schlechterstelle. Die Beschlüsse des Nationalrates mit stufenlosem Rentensystem und Kürzung der Kinderrente seien zu einschneidend.

Das stufenlose Rentensystem hiess die Kommission mit 8 zu 4 Stimmen gut.Das Ziel ist, dass Menschen mit Behinderungen ihre Restarbeitsfähigkeit nutzen. Arbeit soll sich für IV-Bezüger injedem Fall lohnen. Heute ist das wegen Schwelleneffekten nicht immer der Fall.

Eine Vollrente soll – wie heute – ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent zugesprochen werden. Einen Antrag, erst ab einem Grad von 80 Prozent eine ganze Rente auszurichten, lehnte die Kommission mit 8 zu 4 Stimmen ab. Bei der letzten IV-Revision, die das Parlament 2013 versenkt hatte, war diese Frage heftig umstritten gewesen. Der Nationalrat sprach sich dreimal für 70 Prozent aus, der Ständerat dreimal für 80 Prozent.

Die IV spart Milliarden

(St. Galler Tagblatt / St. Gallen-Gossau-Rorschach)

Sozialwerke Investitionen in die Wiedereingliederung vonIV-Bezügerinnen und -Bezügern lohnen sich. Fast 10 Milliarden Franken hat die Invalidenversicherung von 2004 bis 2016 durch die berufliche Eingliederung gespart, wie die IV-Stellen-Konferenz (IVSK) in einer Mitteilung schreibt. Pro Jahr entspricht dies Einsparungen von über 750 Millionen Franken.

Bei der Entwicklung der IV-Neurenten im Zeitraum von 2004 bis 2016 kommt ein Bericht der IVSK zum Schluss, dass ein bedeutender Anteil des Rückgangs der Neurentenquote der kantonalen IV-Stellen auf die berufliche Eingliederung und deren Massnahmen zurückzuführen sind.

Die Neurentenquote ging dabei von 2004 bis 2007 um über 15 Prozent zurück und von 2008 bis 2016 um über 30 Prozent.Fachleute kritisierten im «Sonntags-Blick» jedoch, die IV spare auf Kosten der Sozialhilfe.«Es landen immer mehr Menschen auf dem Sozialamt, die ursprünglich wegen ihrer Gesundheit in Not geraten sind»,hiess es etwa von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhil-fe. (sda/chm)

Liebe Leserin, lieber Leser

(SonntagsBlick)

Man könnte meinen,das Kürzel IV stehe für«immens verdächtig».

Als Bundesbern im Sommer 1959 die Einrichtung der Invalidenversicherung diskutierte, befürchtete die Ärztevereinigung FMH: «Rentenneurotiker und Asoziale stürzen sich auf alle erreichbaren Unterstützungsgelder.»

Mit Verweis auf diese Bedenken plädierte der zuständige Bundesrat Philipp Etter, die Hürden für den Bezug einer Rente nicht zu tief anzusetzen. Unter dieser Bedingung wurde die Invalidenversicherung auf den 1. Januar 1960 hin eingeführt.

Im Wahlkampf 2003 importierte die SVP aus Deutschland das Wort «Scheininvalide». Es war der politische Coup des Jahrzehnts. Erst räumte die Partei bei den Wahlen ab, später verordneten Bundesrat, Parlament und Stimmbevölkerung der IV ein sehr viel strikteres Regime.Insbesondere Menschen mitpsychischem Leiden haben esseither schwerer, als krank an-erkannt zu werden.

Dass die Zahl der IV-Empfänger zurückgeht, erstaunt da nicht.Sozialminister Alain Berset freut sich – und lässt öffentlich verkünden: «Die IV hat sich erfolgreich von einer Renten zu einer Eingliederungsversicherung gewandelt.»In der Tat hat das Bundesamtfür Sozialversicherungen ein paar Instrumente eingeführt,um Personen mit Invaliditätsrisiko frühzeitig zu erkennen und in der Arbeitswelt zu halten.

Dagegen kann niemand etwas einwenden.Im Gegenteil! Wie wirksam diese Bemühungen aber sind, inwiefern die IV effektiv zu einer Eingliederungsversicherung geworden ist: Diese Frage kann der Bund nicht beantworten.

Es ist ein starkes Stück: Die Behörden haben über Jahre bewusst auf ein professionelles und umfassendes Controlling ihrer Massnahmen verzichtet. Man wollte gar nicht wissen,welches die individuellen, welches die gesellschaftlichen Folgen der jüngsten Verschärfungen bei der IV sind. Hauptsache,es hat weniger Bezüger.

Dabei gab es früh Anzeichen dafür, dass es mit der Integration in den Arbeitsmarkt nicht so weit her ist. Seit langem mehren sich die Hinweise, dass viele Betroffene nun einfach in der Sozialhilfe landen. Dass die ganze Ubung letztlich also kaum mehr ist als ein Nullsummenspiel. Schon 2014 schrieb die OECD in einem Bericht über das Schweizer Sozialsystem:«Der jüngste Anstieg der Sozialhilfebezüger ist teilweise eine Folge des restriktiveren Zugangs zu IV-Leistungen.»

Natürlich kam und kommt Missbrauch bei den Sozialwerken vor. Ebenfalls klar ist: Missbrauch darf nicht toleriert wer-den. Das gibt dem Bund jedoch nicht das Recht, seinerseits mit gezinkten Karten zu spielen und Erfolge zu bejubeln,die sich gar nicht nachweisen lassen.

Das sind zynische Tricksereienauf Kosten der Schwächsten.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen gelobt jetzt Besserung. Offenbar arbeitet man an einer umfassenden Analyse über den Zusammenhang zwischen IV und Sozialhilfe.

Bis tatsächlich Resultate vorliegen, gelten die verantwortlichen Behörden als«immens verdächtig».


Einen schönen Sonntagwünscht Ihnen Gieri Cavelty

 

IV spart auf Kosten der Sozialhilfe

(SonntagsBlick)

THOMAS SCHLITTLER
Sozialschmarotzer. Scheininvalide. Sozialdetektive. Seit Jahrzehnten streitet die Schweiz darüber, wer von der Invalidenversicherung (IV) Geld erhalten soll – und wie viel.

Diese Woche erhitzte diese Frage erneut die Gemüter. Das Bundesgericht hatte bekannt gegeben: Sucht ist eine Krankheit -also sollen Suchtkranke Aussicht auf eine IV-Rente haben.

Auf Blick.ch empörte sich ein Leser: «Der ganze Sozialstaat wird ausgenommen, auf alle Arten, bis nichts mehr übrig ist.» Und ein anderer: «Heute hat in diesem links-grünen Staat jeder Anspruch auf Sozialleistungen.»

Was die Kommentarschreiber vermutlich nicht wissen: In der Schweiz erhalten Jahr für Jahr weniger Menschen Geld von der Invalidenversicherung.2005 gab es 251 828 IV-Rentnerinnen und Rentner. Ende 2018 waren es noch 217 944: ein Rückgang von 13 Prozent – und das, obwohl die Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum um 15 Prozent gewachsen ist.

Harald Sohns, Sprecher des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), erklärt, aus welchem Grund: «Die IV ist bei der Zusprache von Renten strenger geworden,insbesondere ab 2008.» Zuvor sei die Rentenberechtigung zu leichtfertig vergeben worden, die IV habe enorme Schulden angehäuft. Als Reaktion darauf habe man den Leitsatz «Eingliederung statt Rente»eingeführt.

Die IV verkauft ihre Eingliederungsmassnahmen als vollen Erfolg. Am Freitag publizierte die SRF-Sendung «10 vor 10» neue Berechnungen zur «Wirtschaftlichkeit der 4., 5. und 6. IV-Revision». Fazit der Studie, in Auftrag gegeben von der IV- Stellen -Konferenz: «Dank wieder in den Arbeitsmarkt eingegliederten IV-Bezügern spart die Invalidenversicherung jährlich über 700 Millionen Franken.»

Aber: Das ist nicht die ganze Geschichte. Eine breite Allianz aus Ärzten Behindertenverbänden Lokalpolitikern und Versicherungs-anwälten kritisiert:Die hochgelobten Wiedereingliederungsmassnahmen seien bestenfalls für die Finanzender IV ein Erfolg.

Judith Hanhart von Agile.ch,der Organisation von Menschen mit Behinderungen,sagt: «Wer gemäss IV arbeitsfähig ist, verliert die IV-Rente – auch wenn er wegen der gesundheitlichen Probleme keine Chance hat auf dem Arbeitsmarkt.» Philippe Luchsinger (62), Präsident der Haus- und Kinderärzte Schweiz,beobachtet das-selbe: «Es ist sehr schwierig geworden, von der IV für erwerbsunfähig erklärt zu werden. Nach Ansicht der IV gibt es für praktisch jeden und jede einen Job, der machbar und zumutbar ist.»

Als Beispiel nennt er eine Person, die jahrzehntelang einen körperlich sehr anstrengenden Job machte und mit Mitte 50 starke Rückenbeschwerden bekam. «Die IV sagt dann: » In der Praxis finde jemand, der jahrelang auf dem Bau gearbeitet habe,kaum eine Stelle in einem anderen Bereich. Trotz Umschulung – und vor allem nicht mit Mitte 50.

Luchsinger:«Die IV sieht es aber nicht als ihr Problem an, dass die von ihr für erwerbsfähig erklärten Menschen in dem für sie neu definierten Arbeitsbereich chancenlos sind.»

Umstritten ist, was mit denen geschieht, die von der IV für gesund erklärt werden. Eindeutig auffällig jedoch: Im gleichen Zeitraum, in dem die Zahl der Bezüger um rund 34 000 Personen abnahm, stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger um 41 000 an. Fachleute aus der Praxis sind sich deshalb sicher: Viele, denen die IV-Rente gestrichen wird,landen über kurz oder lang in der Sozialhilfe.

«Die Erfahrungen aus dem Alltag deuten darauf hin, dass es viele solche Fälle gibt», sagt der Mediziner Philippe Luchsinger. Auch Nicolas Gallade, Vorsteher des Sozialdepartements der Stadt Winterthur ZH, stellt fest: «Zahlreiche Personen müssen Sozialhilfe beziehen,weil sie zu krank für den heutigen Arbeitsmarkt sind, aber für eine IV-Rente.»

Markus Kaufmann ist Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos), der viele Städte und Gemeinden angehören. Mitglieder melden ihm regelmässig, dass sie mehr gesundheitlich belastete Personen unterstützen müssen. Er ist daher überzeugt:«Es landen immer mehr Menschen auf dem Sozialamt, die ursprünglich wegen ihrer Gesundheit in Not geraten sind.»Kaufmanns Fazit: «Die IV wird zumindest teilweise auf Kosten der Sozialhilfe saniert.»

Der Bund wehrt sich gegen diese Vorwürfe. BSV-Sprecher Sohns stellt kategorisch fest: «Die IV erklärt niemanden willkürlich für gesund, sondern klärt die gesundheitlichen Einschränkungeneines Menschen sowie die daraus resultierende Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in jedem Einzelfall gründlich ab.»

Und wie erklärt das Bundesamt für Sozialversicherungen die Tatsache,dass sich die Zahl der IV-Bezügerund Sozialhilfeempfänger gegenläufig entwickelt? Sohns: «Das sagt nichts darüber aus, ob es einen Zusammenhang, eine Kausalität gibt.» Dafür gebe es keine Belege.

Allerdings kann der Bund auch keine wissenschaftlich fundierten Daten präsentieren, die einen Zusammenhang ausschliessen.

Sohns gesteht deshalb ein: «Die Datenlage ist unbefriedigend.» Das Problem sei, dass die Einkommensquellen von einer grossen Anzahl Personen über lange Zeit detailliert verfolgt werden müssten, um aussagekräftige Daten zu erarbeiten.

Doch Besserung ist in Sicht: «Das BSV arbeitet an einem Forschungsprojekt, das uns erlauben soll,aussagekräftigere Aussagen zu machen über die effektiven Vorgänge zwischen IV und Sozialhilfe.»Vorläufige Ergebnisse seien für das erste Halbjahr 2020 zu erwarten.

Nächste IV-Revision kommt

Kommende Woche debattiert die zuständige Ständeratskommission über die «Weiterentwicklungder IV». Im Fokus stehen Kinder,Jugendliche und psychisch Kranke. Der Bundesrat will neue Massnahmen ergreifen, um deren Invalidität zu vermeiden und Eingliederung zu fördern.Jungen Menschen soll künftig erst dann eine Rente zugesprochen werden, wenn alle Massnahmen zur Eingliederung ausgeschöpft sind. Es geht um eine Steigerung von Anreizen zur Erwerbstätigkeit und weniger Anreize für einen Rentenbezug. Der Bundesrat hatte die Vorlage ausdrücklich nicht als Sparvorlage angelegt – was allerdings nicht nach dem Geschmack des Nationalrats war, der sie im Frühjahr als Erstrat behandelte: Die grosse Kammer beschloss, die Zahlungen für Kinder von IV-Bezügern empfindlich zu kürzen. Sollte der Ständerat mitziehen, würden die durchschnittlichen sogenannten Kinderrenten künftig bei 400 liegen statt heute 530 Franken.

THOMAS SCHLITTLER
Marianne Zumstein* (61) lebt in der Agglomeration von Zürich. Sie hat sich mit SonntagsBlick an einem ruhigen Plätzchen an der Limmat verabredet. Die klein gewachsene Frau wirkt etwas nervös, zündet sich eine Zigarette an.«Das Päckchen kostet nur 5.50 Franken!», sagt sie, als müsste sie sich rechtfertigen.


«BehindertenangepassteTätigkeit zu 100 Prozentzumutbar»: MarianneZumstein.

 

Zumstein erhielt 2003 eine volle IV-Rente zugesprochen.2015 – mehrere IV-Revisionenspäter – wird ihr Fall neu beurteilt.

In einem Brief hält die zuständige IV-Stelle fest: Zumstein sei nur eine Tätigkeit «ohne Zeitdruck und ohne hohe Anforderungen an das Konzentrations-und Durchhaltevermögen» zuzumuten. Eine «körperlich schwere und mittelschwere Tätigkeit»,das «Gehen auf unebenem Gelände» sowie das «Führen eines Fahrzeugs und Bedienen von gefährlichen Maschinen» komme ebenfalls nicht infrage.Den noch kommen die Behörden zum Schluss: «Eine behinderungsangepasste Tätigkeit ist zu 100 Prozent zumutbar.»Ihre IV-Rente wird komplett gestrichen.

Tausenden anderen Schweizern ging es in den vergangenen Jahren genauso. Was bei solchen Entscheidungen häufig vergessen wird: Hinter jeder einzelnen gestrichenen Rente steckt ein persönliches Schicksal, eine einzigartige Biografie.

Dies hier ist die Geschichte von Marianne Zumstein:«Mein Vater war ein Satan.Meine jüngere Schwester und ich wurden von ihm regelmässig in eine Kammer eingesperrt und mit der Pistole bedroht. Als ich elf Jahre alt war, hat er sich umgebracht. Gott sei Dank! Ich war glücklich, dass er weg war.

Mit 24 zog ich vom Land in den Raum Zürich. Ich heiratete, bekam einen Buben, kurz darauf eine Tochter.

Die Ehe hielt nur wenige Jahre. Nach der Scheidung hattemein Mann die Kinder nur noch am Wochenende.

Eines Tages erzählte die damals siebenjährige Tochter ihrem Lehrer, sie werde vom Vater gestreichelt.Ein Schock. Ich zeigte diesen Sauhund sofort an. Doch er wurde freigesprochen –.

Das Schlimmste daran: Ich musste ihm die Kinder danach wieder rausgeben. Wie kann ein Staat so etwas von einer Mutter verlangen? Der Bub hat nach den Wochenenden beim Vater immer geweint. Das Mädchen war ebenfalls komisch. Zwei, drei Jahre ging das so. Bis ich der Tochter irgendwann gesagt habe:Jetzt rede endlich mit mir! Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest!

Irgendwann hat sie mir dann gesagt, dass zwischen ihr und dem Vater noch immer etwas laufe. Ich konnte es nicht glauben, war mit den Nerven endgültig am Ende.

Es kam erneut zur Anzeige.Doch dieses Mal besorgte ich mir vor der Gerichtsverhandlung eine Pistole. Ich wollte den Siech erschiessen.Sie haben mich aber vor dem Gericht abgetastet und die Waffe entdeckt.

Dieses Mal wurde er verurteilt.Wegen guter Führung sass eraber nur dreieinhalb Jahre. Ich lernte in dieser Zeit einen neuen Mann kennen, einen Ausländer.Die zweite Ehe.

Doch auch das ging nicht lange gut.

Meine Tochter machte überall Probleme, hatte ein völlig gestörtes Sexualverhalten.Sie war ständig auf der Suche nach Sex – und machte sich an meinen neuen Mann ran. Dieser liess sichdarauf ein.

Meine Tochter erzählte es meinem ersten Mann, dieser der Polizei. Mein neuer Mann wurde verurteilt und ausgewiesen.

Ich war am Boden, brauchte Hilfe. Die Tochter kam in ein Jugendheim, der Sohn ein Jahr nach Italien in ein neues Umfeld.Ich habe drei Monate lang nur gesoffen, war nervlich am Ende.So oft es ging, arbeitete ich noch als Nachtchauffeurin.

Irgendwann hat mich mein Arzt bei der IV angemeldet. Ich bekam eine Rente zugesprochen.Trotzdem ging es mir nach wie vor schlecht.

Früher war ich für jeden Spass zu haben. Nun sagten mir die Leute: Du bist nicht mehr die Gleiche. Ich kam in psychiatrische Behandlung, muss bis heute Psychopharmaka nehmen.

Auch körperlich ging es bergab.In den vergangenen vier Jahren, seit dem IV-Stopp, hatte ich acht Operationen.Eine Magenspiegelung,ein Darmtumor, ein Netz im Bauch, Knieprobleme – ich habe den Überblick verloren. Bei einer OP hatte ich einen Herzinfarkt. Zwei Stents wurden nötig.

Ich bin fertig. Ich mag nicht mehr. Mein Verstand ist kaputt.

Mit den Kindern habe ich ein gutes Verhältnis, auch wenn es nicht immer einfach ist. Die Tochter hat mittlerweile zwei Kinder, das dritte ist unterwegs.Ich kann sie nur selten besuchen,das Zugbillett ist zu teuer.

Mit der IV hatte ich 2900 Franken pro Monat. Nun muss ich mit 2000 Franken auskommen.Nach Abzug der Miete bleiben 900 Franken zum Leben. Das Telefon und der Strom sind da noch nicht bezahlt.

Ich fresse jeden Tag Teigwaren. Eine Berechtigung für das habe ich nicht bekommen, da alle vorhandenen Gutscheine schon vergeben waren.

Man hat mir auch schonge sagt, ich müsse halt meine beiden Hunde abgeben, wenn es finanziell nicht reiche.

Doch das mache ich sicher nicht. Ohne die Hunde würde ich schon lange unter dem Boden liegen.» * Name geänder

Zwei Prozent zu gesund für die IV

(SonntagsBlick)

THOMAS SCHLITTLER
Mauro Russ*(39) leidet an Multipler Sklerose(MS). Die IV kommt zum Schluss, dass er in seiner Erwerbstätigkeit als Lagermitarbeiter «zu 100 Prozent eingeschränkt» ist.In einer «angepassten, körperlich leichten,wechselbelasten den Tätigkeit mit Möglichkeit zur häufigen Blasenentleerung und kurzen Erholung» aber könne von einer 70-prozentigen Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden.

Davon ausgehend berechnet die IV die Differenz seines früheren Einkommens ohne Behinderung zu seinem theoretischen Einkommen mit Behinderung. Sie beläuft sich auf 38 Prozent demzufolge beträgt auch Russos Invaliditätsgrad 38 Prozent. Fazi tder Behörden: «Da der Invaliditätsgrad unter 40 Prozent liegt,besteht kein Rentenanspruch.»Mit anderen Worten: Russo ist zwei Prozent zu gesund für die IV.

Philippe Luchsinger (62), Präsident Haus- und Kinderärzte Schweiz, kritisiert diese Berechnungsweise: «Beträgt der von der IV berechnete Invaliditätsgrad weniger als 40 Prozent, dann erhalten die Betroffenen keinen Rappen.Dabei lässt es sich in der Praxis nicht exakt sagen, ob nun jemand zu 39 oder zu 40 Prozent erwerbsunfähig ist.» Für die Betroffenen habe diese Einschätzung aber gravierenden Einfluss auf ihr künftiges Leben.

Eine wichtige Rolle bei der Berechnung des Invaliditätsgrads spielen externe Gutachter. Diese geraten immer wieder in Verdacht, nicht unabhängig zu sein. Der Luzerner Versicherungsanwalt Christian Haag: «Einseitige IV-Gutachten sind für Versicherte die grösste Hürde vor dem Zugang zu Leistungen. Es gibt Gutachter, die fast immer zugunsten der IV urteilen – und fast ausschliesslich von der IV leben.»

Sein St. Galler Anwaltskollege Ronald Pedergnana geht einen Schritt weiter:«Die Korruption ist Teil des Systems.Das heisst:Gutachter, die im Sinne der IV ein Gutachten abfassen, kriegen wieder und massenhaft Aufträge. Andere werden nicht einmal berücksichtigt.»

Das Bundesamt für Sozialversicherungen widerspricht:«Bei schwierigeren Fällen braucht es meist eine medizinische Begutachtung durch Ärzte aus drei und mehr Fachdisziplinen.Diese polydisziplinären Gutachten werden nach dem Zufallsprinzip vergeben»,sagt Sprecher Harald Sohns. Es sei also ausgeschlossen,dass eine Gutachterstelle aufgrund von angeblich IV-freundlichen Gutachten vermehrt zu Aufträgen komme.

Bei mono- und bidisziplinären Gutachten, die von den IV-Stellen direkt in Auftrag gegeben werden, könnten sich die Versicherten zur Wahl der Gutachter äussern und Bedenken anbringen.«Die IV-Stellen sind bemüht, sich in solchen Fällen mit den Versicherten zu einigen.»

Geschädigtenanwalt Haag kann über diese Aussage nur den Kopf schütteln:«Gegen einseitige Gutachter können sich Versicherte praktisch nicht wehren,ausser ein Gutachten ist nachweislich krass fehlerhaft.Die Gerichtspraxis gehe bis heute von der realitätsfremden Fiktion aus,diese finanziell von der IV abhangigen Gutachter würden neutral urteilen.» Eine wirksame Aufsicht über einseitige, IV-freundliche Gutachter fehle. * Namebekannt

Destinationen bauen Barrieren ab

(htr Hotel Revue)


Gewisse Destinationen verfügen bereits über barrierefreie Angebote (im Bild ein hindernisfreier Weg auf dem Männlichen).

 

Nach den Hotelsnimmt sich nun Claire & George die Destinationen für dieSchaffung barriere-freier Angebote vor.Dazu wird ein drei-jähriges Innotour-Projekt lanciert

DANIEL STAMPFLI
Die Nachfrage nach barrierefreien Reisen und Ferien wächst stetig. Laut Susanne Gäumann, Geschäftsführerin von Claire & George, sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung in irgendeiner Form auf barrierefreie Angebote angewiesen. Die Nachfrage nach derartigen Angeboten nehme weiterhin laufend zu. Dies betreffe auch das Potenzial der ausländischen Gäste und deren Nachfrage, so Susanne Gäumann.

Solche barrierefreie Angebote will die Stiftung Claire & George weiter fördern, die sich für individuelle Ferien einsetzt – unabhängig von Alter oder Behinderung.Zu diesem Zweck lanciert sie ein auf drei Jahre angesetztes Innotour-Projekt mit der Bezeichnung «Barrierefreiheit in den Destinationen». «Das neue Projekt ist eine logische Nachfolge des Erfolgs-projekts . Die Leute gehen ja nicht nur ins Hotel, sondern wollen am Ort selbst etwas erleben», sagt Susanne Gätunann. Es gehe deshalb nun darum, die relevanten Angebote in den Destinationen entlang der touristischen Servicekette barrierefrei zu gestalten.Diese Angebote sollen einheitlich erfasst sowie einheitlich kommuniziert und vermarktet werden.

Sechs Destinationen machen beim Projekt mit

Die Stiftung Claire &George ist Leiterin des Projekts «Barrierefreiheit in den Destinationen» und führt dieses – wie auch das Vorgängerprojekt – mit Kooperationspartnern und Experten durch. Ins neue Projekt sind die sechs Tourismus destinationen Interlaken, Gstaad-Saanenland,Ascona-Locarno,Biel-Seeland, Davos Klosters und eine Destination der Region du Lac Leman eingebunden. «Alle Destinationen sind punkto Barrierefreiheit unterschiedlich weit und touristisch unterschiedlich positioniert», so Gäumann. Biel-Seeland etwa sei prädestiniert für barrierefreien Agrotourismus.Davos-Klosters sei dagegen eher eine spörtlichaus gerichtete Destination. «Mit der getroffenen Auswahl können wir die Vielfältigkeit der Schweiz abbilden.»Ziel sei,dass jede Destination ein bis drei konkrete Angebotspackages erarbeitet.

«Wir bauen beim neuen Projekt auf dein Wissen auf, welches wir bereits zuvor erarbeiten konnten, indem wir direkt mit den Zielgruppen zusammenarbeiten»,erklärt die Claire & George-Geschäftsführerin. Wissenschaftliche Unterstützungleistet die HES-SO Valais. Diese sei wichtig in der Analysephase in den Destinationen. «Dieser Partner hilft uns bei der fundierten Aufarbeitung, damit wir einen Vergleichsstandard überalle Destinationen haben», so Gäumann. Weitere Umsetzungspartner sind die Stiftung Cerebral, Pro Senectute sowie der private Spitexverband ASPS.

Die Destinationen sollen ihr Engagement im Bereich Barrierefreiheit weiter entwickeln.In einem ersten Schritt wird ein Aktionsplan erstellt. Weiter gehtes darum, vorhandene Lücken zu schliessen, betreffend Infrastruktur oder fehlender Angebote. Je nach Destination sieht dies unterschiedlich aus. In einem weiteren Schritt werden die einheitliche Kennzeichnung der AngebotsPackages in den Destinationen und die Vermarktung auf den Destination- Plattformen oder zielgruppenspezifischen Plattformen wie jene von Claire & George angegangen.

Die Vermarktung soll auch im Ausland erfolgen. Denn schon jetzt stammen Gäste, welche an Touren der barrierefreien Grand Tour of Switzerland teilnehmen,aus dem Ausland. Die Vermarktung erfolge online. «Wir sind verlinkt mit Schweiz Tourismus und der Grand Tour selbst», so Susanne Gäumann. Viel geschehe auch über Social Media. Dies werde auch weiterhin ein Weg sein. Wenn man alle Destinationen zusammennehme, stelle sich die Frage, ob die Angebote mit einer grösseren Kraft im Ausland vermarktet werden sollen.

Nach Projektabschluss wir deine Publikation verfasst. Diese soll allen- Destinationen ermöglichen, sich in Sachen Barrierefreiheit selber weiterzuentwickeln.

Milestone 2018 Preis für Plattform fürbarrierefreie Ferien

Für die Web-Plattform für barrierefreie Ferien in der Schweiz wurde die Stiftung Claire & George 2018 mit demTourismuspreis Milestone (3.Preis in der Kategorie Innovation) ausgezeichnet. Kernelemente sind eine Selektion der besten geprüften Hotels,ein innovativer AccessibilityFilter mit 22 Kriterien inkl.«Hotelspitex», einfach buchbare Services aus einer Hand und ein State-of-the-Art-Be-schrieb zur Hotel-Barrierefreiheit. Die C&G-Plattform bietet auch barrierefreie Ausflugsziele und buchbare barrierefreie Touren entlang der Grand Tour of Switzerland.(dst)


Oliver von Mimen«Selber ist man inSachen Barrierefreiheitnicht Fachmann.»Direktor Tourismus BielSeeland

 

Weshalb machen Sie beim Projekt «Barrierefreiheit in den Destinationen von Claire &George mit?
Wir haben uns entschieden mitzumachen, da wir im Bereich Barrierefreiheit noch Aufholbedarf haben. Sei dies inder Hotellerie oder auch in den Bereichen Freizeit und Ausflüge. Selber ist man in Sachen Barrierefreiheit nicht Fachmann, und wir erhoffen uns nun aufgrund der Fachkompetenz von Claire & George, mittel- und langfristig einen Schritt weiter zu kommen.

In welchen Bereichen müssen Sie konkret noch Lücken schliessen?
Notwendig ist dies bei öffentlichen Gebäuden, Hotels und Restaurants. Dort befinden wir uns noch nicht am Ziel.

Und wo sind Sie schon gutunterwegs?
Sicher mit den Angeboten inden Museen und bei der Schifffahrt.

Welchen Vorteil erhoffen Sie sich nach Abschluss des Projekts?
Ich erhoffe mir eine Sensibilisierung bei den Anbietern. Denn wenn die Empfehlungen von einem professionellen Partner erfolgen und das Ganze durch Fachleute begleitet wird, wirkt es bei den Leistungsträgern seriöser, als wenn Tourismus Biel Seeland sie zum Investieren in barrierefreie Angebote auffordert.

In welcher Form beabsichtigen Sie, mit anderen Destinationen bezüglich Barrierefreiheit zusammenzuarbeiten?
Wir haben die Aktivitäten erstmals für unseren Perimeter definiert. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir auch die Leistungserbringer in unserer Dachregion Jura Trois-Lacs für die Schaffung barrierefreier Angebote sensibilisieren können. Regional und überregional sollte dies im entsprechenden Perimeter sicher möglich sein. (dst)

Auch Süchtige können künftig eine IV-Rente erhalten

(Neue Zürcher Zeitung)

Auch Süchtige können künftig eine IV-Rente erhalten
Suchterkrankungen sind wie psychische Erkrankungen zu beurteilen, eine Versicherungsleistung bei Arbeitsunfähigkeit ist nicht mehr ausgeschlossen

BARBLINATÖNDURY, LUZERN
Was war zuerst da: die Sucht oder eine vorangehende psychische Grunderkrankung? Bis gestern war diese Unterscheidung für den Bezug von Invalidenrenten bei Suchterkrankungen von entscheidender Bedeutung. Viele Jahre galt die Rechtsprechung, dass eine primäre Suchterkrankung selbstverschuldet sei und deshalb ungeachtet der konkreten Folgen prinzipiell nicht zu einer Invalidität und zu einem Anspruch auf Leistung der Invalidenversicherung führen könne. Diese umstrittene Praxis hat die zweite sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in einem mutigen Leitentscheid aufgehoben. Neu sind Suchterkrankungen wie andere psychische Erkrankungen zu behandeln, und es ist abzuklären, ob sich die Suchtmittelabhängigkeit auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt.

Ausgelöst hat das Grundsatzurteil ein 1975 geborener, von Benzodiazepinen und Opioiden abhängiger Mann,der sich 2012 bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Invalidenrente angemeldet hatte. Die IV-Stelle wie auch das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verneinten einen Leistungsanspruch des Mannes. Sie stützten sich auf die bisherige Rechtsprechung wonach der Mann seine Sucht und damit seine Arbeitsunfähigkeit selbst vehuldet habe. Der Mann gelangte ans Bundesgericht, das die Beschwerde in – seinem am Montag veröffentlichten Urteil gutheisst und die IV-Stelle des Kantons Zürich verpflichtet, dem Mann rückwirkend ab 1. September 2013 eineganze Invalidenrente auszurichten.

Damit hat das Bundesgericht eine Kehrtwende vollzogen. Es legt dar, dass keine rechtliche Grundlage dafür besteht,das Herbeiführen einer Suchterkrankung durch den willentlichen Konsum von Suchtmitteln als Anlass zu nehmen, um eine Versicherungsleistung ohne weitere Abklärung zu verneinen. Auch auf medizinische Erkenntnisse, welche eine Suchterkrankung schon seit langem als ein krankheitswertiges Geschehen einstufen, geht das Gericht ein und anerkennt,dass es für einen Suchtmittelabhängigen schwierig ist und er «beträchtliche Ressourcen» mobilisieren muss, um dem Verlangen nach weiterem Konsum zu widerstehen. Deshalb dränge sich die gleiche Sichtweise auf wie bei anderen psychischen Störungen, und es sei nach strukturiertem Beweisverfahren (dazu BGE141 V 281) abzuklären, ob und wie weit sich das fachärztlich diagnostizierte Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit auswirke.

Die Richter betonen aber auch die Schadenminderungspflicht des Versicherten. Auch bei einem Abhängigkeitssyndrom sei der Versicherte verpflichtet, zur Minderung des Schadens beizutragen und an zumutbaren medizinischen Behandlungen teilzunehmen.Kommt der Versicherte dieser Pflicht nicht nach, erhält er also willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, dann ist laut dem Bundesgericht eine Verweigerung oder Kürzung der Leistung möglich.

Im zu beurteilenden Fall kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass eine schrittweise Steigerung der Leistungsfähigkeit des suchtmittelabhängigen Mannes bei einer Weiterführung der Therapie mit kontrollierter Opioidabgabe und Benzodiazepinentzug möglich, aber nicht innert einer bestimmten Frist als überwiegend wahrscheinlich erscheint.Aus diesem Grund spricht ihm das Gericht die volle IV-Rente seit 2013 zu. Der Leistungsanspruch wird aber laut dem Urteil nach Durchführung der Behandlung durch die IV-Stelle zu gegebener Zeit revisionsweise zu überprüfen sein.
Urteil 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019

Ihr Verein kämpft für Normalität

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Trisomie Jugendliche mit Trisomie 21 werden praktisch nie in den normalen Arbeitsmarkt integriert.Andrea Kalsey will das ändern und hat dafür einen Verein gegründet.


Andrea Kalsey will Menschen mit Trisomie 21 in den Arbeitsmarkt integrieren – davon würde auch Lukas Shaha profitieren. Foto Franziska Scheidegger

 

Annic Berset
Wenn man Lukas Shaha nach seinem Lieblingsfach in der Schule fragt,antwortet der 14-Jährige mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht: «Rechnen – aber nur mit dem Taschenrechner.» Schule, da geht es dem Jungen wie vielen anderen in seinem Alter, ist nicht unbedingt das, worüber er sich den lieben langen Tag den Kopf zerbrechen will. Was da nach kommt, davon hat Lukas Shaha aber eine ganz genaue Vorstellung: Wenn er gross ist, will er Lokführer der S2 sein,zwischen Laupen und Langnau hin- und herfahren.«Und wohnen werde ich in Spiez an der Bahnhofstrasse 1, so habe ich einen kurzen Weg nach Hause, wenn ich fertig bin mit Arbeiten», erklärt er bestimmt.

Es gibt eine Zeit im Leben von Jugendlichen, da wissen viele nicht, wohin ihre Reise gehen wird. Wo ihr Platz in der Berufswelt einst sein wird. Die allermeisten von ihnen landen irgendwann und irgendwo im Arbeitsmarkt. Sie schliessen verschiedene Ausbildungen, Lehrgänge oder ein Studium ab. Bei Lukas Shaha ist das hingegen alles andere als klar. Denn der Junge aus Oberwangen hat Trisomie21, das Downsyndrom.

Vorbilder im Ausland

«Sobald die Schule abgeschlossen ist, landen viele Betroffen ein geschützten Werkstätten, beziehen eine IV-Vollrente mit Ergänzungsleistungen und wohnen entweder weiter bei ihren Eltern oder in einem Heim», sagt Andrea Kalsey, deren Tochter auch mit dem Trisomie 21 lebt. Kalsey kritisiert, dass Menschen mit Trisomie 21 bis zur Volljährigkeit zwar mehr oder weniger Teil der Gesellschaft seien. Sie nehmen am Familienleben teil,haben Hobbys, manchmal können sie auch einen regulären Kindergarten oder den Beginn der Schulzeit in Regelklassen besuchen. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenleben werde der Aufwand für die Integration jedoch um ein Vielfaches grösser, die Familien seien auf sich allein gestellt.

«Alles muss doppelt und dreifach abgeklärt werden, das macht viele Eltern müde.»
Andrea Kalsey Gründerin des VereinsMensch 21! und Mutter einer Tochter mit Trisomie

«Es ist nicht vorgesehen, dass sich Jugendliche mit Trisomie 21 auf dem ersten Arbeitsmarkt betätigen», sagt Kalsey. «Angehörige werden oft durch die viele Bürokratie behindert, alles muss doppelt und drei fach abgeklärt werden, das macht viele Eltern müde.» Viele hätten irgendwann nicht mehr gross Energie, um die Zukunft ihres Kindes zu planen Der grosse Zusatzaufwand entsteht etwa bei der Suche nach einem geeigneten Schulplatz. Und obwohl das Behindertengleichstellungsgesetz die Integration in die Regelschule vorsieht, sei das häufig von den einzelnen Schulen oder garLehrpersonen abhängig, ob das Kind die Klasse besuchen kann. Kalsey setzt sich dafür ein, dass im regulären Arbeitsmarkt Platz für Jugendliche mit Trisomie 21 geschaffen wird und dass es auch für sie normal wird, eine Ausbildung antreten zu können.

Dieses Jahr hat sie deshalb den Verein Mensch 21! gegründet. «Mein Ziel ist es, ihnen Ausbildungen und Nischenarbeitsplätze anzubieten.» Die Idee von einem Bistro, in dem die Jugendlichen arbeiten, hat sie in Frankreich, Italien, der Türkei oder den USA gesehen, wo sich das Konzept bewähre und bereits verbreitet sei. In der Schweiz hingegen seien solche Projekte speziell für Trisomie-21-Betroffene nicht vorhanden.

Trumpf ist Herzlichkeit

Auf die Frage, weshalb es genau Ausbildungen in der Gastronomiebranche sein sollen, hat Andrea Kalsey eine klare Antwort:«Essen und Genuss haben bei den allermeisten Trisomie -21-Betroffenen einen sehr hohen Stellenwert.» «Essen», das sei etwa das erste Wort ihrer kleinen Tochter gewesen, fügt sie mit einem Lächeln hinzu. Und auch Lukas Shaha erzählt gern, welches sein Lieblingsessen ist -Spaghetti carbonara mit viel Käse und Speck und Ketchup.

Andrea Kalsey ist überzeugt,dass die Jugendlichen sowohl im Service als auch in der Küche einer geregelten Arbeit nachgehen können. «Gerade mit ihrer offenen Art, ihrer Herzlichkeit und ihrer sozialen Ader passen sie sehr gut in dieses Berufsfeld.»

Am 24. August wird sie zum ersten Mal einen Gastro-Event durchführen. In der Moospinte in Münchenbuchsee werden Jugendliche mit Trisomie 21 mit anpacken, gemeinsam mit dem Restaurantpersonal kochen und bei allen Arbeitsabläufen eines ganz normalen Gastrobetriebs mitmachen. «Es ist schön, dass wir für diesen Anlass so grosse Unterstützung spüren, die Hälfte der Plätze ist bereits reserviert», sagt Kalsey.

Die Moospinte stellt das Lokal inklusive Personal kostenlos zur Verfügung. Bis der Verein Mensch 21! sein eigenes Bistro betreibt,soll dies der erste von vielen Anlässen dieser Art sein. Andrea Kalseys Vision ist es, dass die Organisation dereinst ein Bistro besitzt, wo die Jugendlichen ineinem normalen Arbeitsumfeld arbeiten können.

Auch Lukas Shaha wird am 24.August in der Moospinte arbeiten. Er hat sich entschieden, im Service mitzuhelfen. «Servierenmit dem Plateau kann ich nämlich schon ganz gut», sagt der 14-Jährige selbstbewusst. Wenn er einmal gross ist, will er neben seinem Beruf als Lokführer aufder S2 zwischen Laupen und Langnau auch noch im Bistro des Vereins arbeiten.

Wenn man ihn reden hört,kann man gar nicht anders als sich vorstellen, dass er genau das machen wird.

Infos zum Anlass und zum Verein unter: www.mensch2l.ch

Theatersaal «nicht geeignet für Rollstuhlfahrer»

(Der Landbote)

Gleichstellung Eine Behinderte und ihre Begleiterin fühlten sich beim Sommertheater nicht willkommen. Der Direktor verweist auf die engen Platzverhältnisse.

Christian Gurtner

Elisabeth Bänziger ist wütend.Eine «Ohrfeige» sei das, meint die Frau, die seit fünf Jahren für Pro Infirmis Behinderte begleitet. Ihr Zorn richtet sich gegen das Sommertheater am Stadtgarten, das sie letzten Sonntag zusammen mit einer Klientin imElektrorollstuhl besuchen wollte. Vorsorglich erkundigte sich Bänziger nach der Situation im Saal des Restaurants Strauss, in den das Freilichttheater die Aufführung des neu angelaufenen Schwanks «Schiff über Bord» bei Regenwetter verlegen würde.

«Die Antwort machte mich baff», sagt Bänziger. In einem E-Mail, das dem «Landboten» vorliegt, schrieb Theaterdirektor Hans-Heinrich Rüegg, der Saal sei für Rollstühle «einfach ungeeignet». Die allermeisten Aufführungen fänden draussen statt, Rollstuhlfahrer hätten somit viele Möglichkeiten, eine Vorstellung zu besuchen. So etwas habe sie noch nie erlebt, kommentiert Bänziger: «Sonst sind die Leute überall zuvorkommend.» Ihren Eindruck, im Sommertheater wenig willkommen zu sein, verstärkte noch ein zweiter Kontakt:Bei der Ticketreservation habe man ihr unfreundlich mitgeteilt,sie sollten frühzeitig erscheinen,weil der Rollstuhl Lärm mache.

Drinnen ein Drittelweniger Sitzplätze

Theaterdirektor Rüegg erklärt auf Nachfrage, die Platzverhältnisse im Saal seien äusserst eng, weshalb man hier, anders als bei den Vorstellungen im Garten, keine Rollstuhlplätze vorgesehen habe.Zeichne sich schlechtes Wetter ab,frage man Rollstuhlfahrer bei der Reservation, ob es ihnen möglich sei, auf eine andere Vorstellung auszuweichen.Erfahrungsgemäss könnten 65 von 70 Aufführungen draussen stattfinden,wo es 360 statt nur 240 Sitzplätze gibt. «Wenn ein Rollstuhlfahrer keine andere Möglichkeit hat,finden wir immer eine Lösung»,betont der Direktor.

«Rollstuhlfahrer haben oft drittklassige Plätze. Wir sind keinem im Weg.»
Elisabeth Bänziger Behindertenbegleiterin

Laut Rüegg beansprucht eine Person im Rollstuhl bis zu vier reguläre Plätze, weil sie höher sitze und darum teils auch hinter ihr Platz freizuhalten sei. Zudem müsse man Besucher umplatzieren, die schon Tickets gekauft haben, was einen Mehraufwand bedeute. Behindertenbegleiterin Bänziger gibt dagegen an, ein Elektrorollstuhl sei nicht viel breiter als ein normaler Stuhl:«Wir sind niemandem im Weg.»Ihre Klientin habe nicht auf eine andere Vorstellung ausweichen können, weil sie abends häufig von der Spitex besucht werde und auch die Begleitpersonen nicht beliebig verfügbar sind.Weil die Aufführung schliesslich doch draussen stattfand,gab es für die zwei Frauen keine Probleme.

«Eine Personim Rollstuhl beansprucht bis zu vier reguläre Plätze.»
Hans-Heinrich Rüegg
Direktor des Sommertheaters

Anlässe müssen nicht zwingend zugänglich sein

Das Behintertengleichstellungsgesetz verbietet zwar die Diskriminierung von Menschen wegen einer Behinderung, wie der Leiter des Behindertengleichstellungsbüros des Bundes, Andreas Rieder, sagt. Es verlangt aber nicht die unbeschränkte Zugänglichkeit von Veranstaltungen.Nur bei Umbauten seien, falls wirtschaftlich zumutbar, Hindernisse zu beseitigen. Im Restaurant Strauss gibt es einen Lift. Zu Einzelfällen will sich Rieder nicht äussern. Generell sei gerade im Kulturbereich die Bereitschaft sehr hoch, Behinderten die Lokalitäten zugänglich zu machen.