Plattform: Google ist auch blind

(Tactuel)

Der barrierefreie Zugang zu Websites ist essentiell, damit sich Menschen mit visuellen und anderen Formen von Behinderungen informieren können. Aber auch Sehende profitieren von einer barrierefreien Programmierung. Für eine bessere digitale Welt soll der Accessibility Developer Guide der Stiftung «Zugang für alle» sorgen.
Von Andrea Eschbach

In rasantem Sprechtempo liest ihm der Computer vor, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Gerd Bingemann nutzt die Screenreader-Software JAWS. Der Ungeübte versteht nur Bahnhof. „Wenn eine Website Grafiken, Tabellen oder Bilder ohne hinterlegten Text hat, ist sie für mich nicht lesbar“, erklärt der hörsehbehinderte Interessenvertreter beim Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND. „Viele Webseiten sind nicht zugänglich für mich“.


Gerd Bingemann nutzt die Screenreader-Software JAWS

 

Die von der Stiftung «Zugang für alle» bereits zum vierten Mal durchgeführte Accessibility-Studie 2016 zeigt, dass nach wie vor zahlreiche Websites und Mobile Apps nicht für alle Menschen zugänglich sind. Für 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist die Nutzung des Internets eingeschränkt und damit die Teilnahme an vielen gesellschaftlichen Bereichen nicht möglich. Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Ein Design für alle

Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung «Zugang für alle» hat es sich zum Ziel gesetzt, diese Barrieren zu überwinden. Seit bald zwanzig Jahren setzt sich die Organisation für eine behindertengerechte Technologienutzung ein. Mit dem „Accessibility Developer Guide“ (ADG) ist die Stiftung nun einen grossen Schritt weiter auf diesem Weg gekommen. Dahinter steht die Idee des „Design for all“, das den User in den Mittelpunkt stellt. Unabhängig von Einschränkungen soll eine Website entwickelt werden, welche von der grösstmöglichen Anzahl Benutzer sinnvoll gebraucht werden kann.

Doch das Wissen um barrierefreie Websites, so Andreas Uebelbacher, Leiter des Bereichs Dienstleistungen bei «Zugang für alle», stecke noch in den Kinderschuhen.

Damit die individuelle Anpassbarkeit funktioniert, sind beim Design und der Programmierung von Internetangeboten einige Regeln zu beachten und Vorkehrungen zu treffen. So fasst der sehbehinderte Auszubildende Reto Inniger Zusammen: „Damit eine Website für alle zugänglich ist, müssen Seiten und Dokumente beispielsweise korrekt strukturiert gestaltet sein, grafische Informationen weisen Textalternativen auf, und Farbkontraste müssen ausreichend sein für gute Wahrnehmbarkeit der Inhalte. Darüber hinaus muss eine Website nur mit der Tastatur bedienbar sein und alle dynamischen Elemente wie Akkordeons, Tabs, etc. müssen auch mittels Screenreader verständlich werden“.

Lange galten barrierefreie Websites als hässlich und prüde. Doch dieses Vorurteil ist Schnee von gestern. „Für einen barrierefreien Zugang muss man heute keine Einbussen im Design mehr hinnehmen“, erklärt Andreas Uebelbacher. Zu den Vorteilen barrierefreier Websites zählen die Qualität in der Bedienbarkeit, die Usability, oder auch die Qualität im Design: „Das Layout muss übersichtlich ordnen, Farbkontraste müssen im Test ausreichen, die Schrift lesbar und vergrösserbar sein. Das Ganze ergibt auch Vorteile im Unterhalt: „Weil Darstellung und Inhalt konsequent getrennt werden müssen, ist eine barrierefreie Website einfacher zu warten und zu erweitern, ein Redesign wird kostengünstiger“. Barrierefreie Webseiten werden zudem nicht nur schneller und sauberer dargestellt, sie werden besser indexiert und sind die beste Voraussetzung in Suchmaschinen wie Google früh zu erscheinen. Accessibility und Suchmaschinen-Optimierung gehen hier Hand in Hand: „Google ist auch blind“, erklärt Uebelbacher.

Stets aktuell dank Open Source

Der im Juni lancierte ADG wurde von «Zugang für alle» in Zusammenarbeit mit führenden Web-Agenturen der Schweiz entwickelt. Der Guide enthält zahlreiche im Browser live ausführ- und manipulierbare Code-Beispiele. Besonders hilfreich: Der Programmierer kann sich gute und schlechte Beispiele demonstrieren lassen. Und da der ADG auf Open Source beruht, soll er künftig auch wachsen – grundsätzlich kann jeder Beispiele beisteuern, und aufgenommen werden sie, wenn sie einer Prüfung auf Barrierefreiheit standhalten. Der ADG verwendet dafür die in der Entwicklergemeinde weit verbreiteten Tools wie GitHub, Node.js oder Markdown.

Jedes Unternehmen kann seine Firmen-Website mit Experten der Stiftung massgeblich verbessern und am Ende auch zertifizieren lassen. Doch nur wenige Unternehmen nutzen bislang diese Möglichkeit. Roland Schlüchter, Inhaber der Internet-Agentur Ping in St. Gallen erklärt: „Verpflichtet zu barrierefreien Websites ist bislang nur der Staat. Wir haben bislang nur wenig Anfragen, barrierefreie Websites zu gestalten. Dabei wären die Kosten gleich hoch wie bei der Gestaltung einer nicht-barrierefreien Website.“ So weist Roland Schlüchter seine Kunden zwar immer wieder auf die Thematik des Zugangs für alle hin, jedoch zieht das Argument Suchmaschinen-Optimierung noch deutlich mehr als die Zugänglichkeit. „Das Bewusstsein auf der Kundenseite muss sich erst bilden, vor allem bei kleineren Unternehmen“. Aber Roland Schlüchter ist sich sicher, das Thema wird zunehmend wichtiger. Der ADG wird hier eine grosse Rolle spielen: „Wir analysieren ihn derzeit und schauen, was wir in unsere Projekte, unseren Werkkasten übernehmen können“. Gerade hat die Agentur eine barrierefreie Website für Pro Infirmis erstellt: „Für Pro Infirmis war das natürlich ein Muss“, sagt Roland Schlüchter.

„In der besten aller Welten müsste man sich keine Gedanken mehr um barrierefreie Websites machen“, gibt Andreas Uebelbacher einen Ausblick. Und der ADG ist ein Mosaikstein, das zu erreichen.

«Wir sind noch ganz am Anfang»

(Solothurner Zeitung)

Seit über zehn Jahren gilt in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz, seit knapp fünf die UN-Behindertenrechtskonvention – umgesetzt sind die Forderungen aber auch im Kanton Solothurn noch nicht. An einem Podium im Konzertsaal wurde dies unter anderem an den Beispielen Wohnen und Arbeit aufgezeigt.
VON NOELLE KARPF


Die Podiumsteilnehmer (von links): Moderatorin Karin Heimann, Grüne Kantonsrat Felix Wettstein, Ypsomed CEO Simon Michel, Insos Präsidentin Dagmar Domenig, Regierungsrätin Susanne Schaffner, Agile- Präsident Stephan Hüsler und Rechtsanwältin Irja Zubler.© Hansjörg Sahli

 

Mit Rollstuhlrampen und Heimplätzen ist es nicht getan: für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft braucht es mehr. So der Tenor am Montagabend im Solothurner Konzertsaal. Dort fand eine Podiumsdiskussion dazu statt, ob die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) umgesetzt wird im Kanton. Wer dieser beitritt verpflichtet sich, Behinderte vor Diskriminierung zu schützen und deren Gleichstellung zu fördern. Die Schweiz ratifizierte die BRK im Jahr 2014. Bereits 10 Jahre zuvor wurde das Behindertengleichstellungsgesetz eingeführt. Jetzt, fast 15 Jahre später, heisst es: Man ist auf dem Weg –oder gar ganz am Anfang der Umsetzung – aber es hapert noch.

«Wir kämpfen für IV-Renten und Sonderstatus von Menschen mit Behinderung – was dem Gedanken der Inklusion wieder widerspricht», erklärte etwa Irja Zuber, die für den Rechtsdienst der Behinderten-Organisation «Procap» in Olten arbeitet. Sie zählte einige Punkte auf, die nicht der BRK entsprechen: Wohnungsnot für Menschen mit Behinderung, beschränkte Zugänglichkeit zu Gebäuden und zum öffentlichen Verkehr. Erst bis 2023 sollen alle Bushaltestellen im Kanton Solothurn behindertengerecht saniert werden. Man habe sicher auch noch nicht den Punkt erreicht, an dem physisch und psychisch Beeinträchtigte der Arbeit der eigenen Wahl nachgehen könnten. Oft stosse man bei Arbeitgebern auf verschlossene Türen.

Eigenes Geld verdienen können

Er sehe «null Grund», jemanden mit Behinderung nicht einzustellen, sagte Simon Michel, Chef der Ypsomed-Gruppe mit Standorten in den Kantonen Bern und Solothurn, an welchen auch Menschen mit Behinderung arbeiten. Der FDP-Kantonsrat räumte ein: Hindernisse könne man für Menschen mit körperlicher Behinderung aus dem Weg räumen. «Kolleginnen und Kollegen» mit psychischer Einschränkung würden aber mehr Betreuung brauchen. Und es sei halt Realität, dass man sich für eine Stelle bewerben und gegen andere Kandidaten durchsetzen müsse.

Einerseits seien die Arbeitgeber gefordert, so Stephan Hüsler, Präsident von Agile, dem Schweizer Dachverband der Behinderten-Organisationen. Er gehöre zu den 40 Prozent der erblindeten Personen in der Schweiz, die einen Job haben. Andererseits müssten die Arbeitgeber auch überhaupt wissen, dass es etwa Softwares gibt, mit welchen Blinde am Computer arbeiten können – und welche die IV zahlt.

Die Wahl eines Jobs im ersten Arbeitsmarkt gehört zur Selbstbestimmung – Kantonsrat Felix Wettstein appellierte noch daran, nicht vom «verräterischen» ersten Arbeitsmarkt zu sprechen – sondern von Arbeit, «für die man Geld erhält».

Wohnort selber wählen können

Ein weiterer Aspekt, der zur Selbstbestimmung gehört und am Podium diskutiert wurde, ist die Wohnsituation von Menschen mit Behinderung: «In den Heimen findet ein Umdenken statt», so Dagmar Domenig, Präsidentin von Insos, dem Branchenverband der Behinderten Institutionen in der Schweiz . Ein Umdenken weg von der strikten Trennung von ambulant und stationär; dazu hin, dass Menschen je nach Verfassung auf dem Lebensweg selber entscheiden können, ob sie im Heim, einer Wohngruppe, oder einer eigenen Wohnung leben.

Auch Regierungsrätin Susanne Schaffner hofft auf Entflechtung – die Aufgabenentflechtung, welche 2020 in Kraft treten soll. Bisher haben sich Kanton und Gemeinden die Kosten für AHV und IV nach Abzügen von Bundesbeiträgen geteilt. Ab 2020 sollen Gemeinden für den Bereich «Alter» (AHV), der Kanton für den Bereich «Behinderung» (IV) zuständig sein. So soll es flexiblere Wohnangebote für Menschen mit Behinderung geben. Laut Botschaft des Regierungsrates blieben heute im Kanton Menschen mit Behinderung zu oft in zu teuren stationären Strukturen, «obwohl sie willens und fähig wären, eigenständiger zu leben.»

Sie sei erstaunt, dass die Selbstbestimmung erst jetzt Thema sei, so Schaffner. Mit der Entflechtung könne der Kanton dafür richtig starten. Die Regierungsrätin wies dann aber auch auf die entscheidende Frage hin: Die Finanzen. Selbstbestimmung – das bedeute nämlich auch, dass jeder Mensch sein Budget habe, und entscheide, wie er damit lebe.

Regierung sagte Behinderten «mir weiluege»

(Basellandschaftliche Zeitung)

Gleichstellung 20 Jahre hatte der Kanton Zeit, um die Tram- und Bushaltestellen rollstuhlgerecht zu machen. Das hat ihm nicht gereicht.
VON MICHEL ECKLIN

Spätestens seit dem 1. Januar 2004 weiss die Baselbieter Regierung, dass sie in Sachen behindertengerechte Haltestellen handeln muss. Dann trat nämlich das eid genössische Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Es schreibt vor, dass Gehbehinderte in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht benachteiligt werden dürfen. Konkret: Sie müssen ohne fremde Hilfe in Bus und Tram einsteigen können, ohne Niveauunterschiede zwischen Halte-stellenkante und Fahrzeugeingang.

Der Bund setzte den Kantonen eine Frist: Bis Ende 2023 müssten sie alle ihre Bus- und Tram Haltestellen behindertengerecht gestaltet haben. Doch letzte Woche hat der Baselbieter Regierungsrat bekannt gegeben, dass er den Termin nicht einhalten wird. Zwar sind bei Sanierungen bereits zahlreiche der insgesamt 641 Kanten im Kanton erhöht worden. Doch 2023 wird es immer noch 280 davon geben, die nicht den Bundesvorschriften entsprechen. Weil das Gebot der Verhältnismässigkeit gilt, bleiben 56 Haltekanten, die eigentlich zwingend bis Ende 2023 behindertengerecht sein müssten.

Doch das werden sie nicht sein, räumt der Regierungsrat in einer Vorlage an den Landrat ein. Um das zu ändern, bräuchte es 7,5 Millionen Franken, um die Sanierung sofort anzupacken. Dieses Geld will der Regierungsrat aber nicht ausgeben, er beantragt es gar nicht erst. Denn «aufgrund anderer Prioritätensetzung war es nicht möglich, diese Mittel im Investitions programm 2019-2028 unterzubringen».

Günstiger und weniger Baustellen

«Enttäuschend» findet das der Geschäftsführer des Behindertenforums, Georg Mattmüller. «Aber die Verspätung war leider voraussehbar.» Die Kantone, nicht nur das Baselbiet, hätten fast zehn Jahre geschlafen. «Im Bauwesen ist das viel.»

Tatsächlich hat sich die Regierung nicht besonders beeilt. Erst 2013 klärte sie ab, an welchen Haltestellen, welche Massnahmen nötig sind. 2015 definierte sie die Sanierungsstrategie: Behindertengerecht umgebaut wird eine Haltestelle erst, wenn sowieso eine Sanierung angestanden wäre. Das sei günstiger und verursache weniger Baustellen – hat aber zur Folge, dass die 56 Haltekanten unsaniert bleiben.

Mattmüller hat dafür wenig Verständnis. «7,5 Millionen Franken sind nicht wahnsinnig viel Geld», sagt er – umso mehr, als es sich bei der Umgestaltung der Haltestellen um Einmal-Investitionen handle. «Sie lösen keine Folgekosten aus.»

Die Baselbieter Gehbehinderten dürfen das Volk hinter sich wissen. 1998 wurde die unformulierte Volksinitiative «Für einen behinderten- und betagtengerechten öffentlichen Nah- und Regionalverkehr» angenommen. Seither, sagt Mattmüller, habe die Regierung aber keine Rechts grundlage zur Umsetzung der Initiative geschaffen.

Die Behindertenorganisationen seien immer wieder mit ihren Bitten aufgelaufen.

Kanton ist in guter Gesellschaft

Vonseiten des Bundes fehlt der Druck. Denn Konsequenzen wird die gemächliche Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes keine haben, Sanktionen sind nicht vorgesehen. Theoretisch hat jetzt jeder Behinderte ein individuelles Recht, nicht diskriminiert zu werden. Dass man damit auf juristischem Weg durchkommt, ist laut Mattmüller aber wenig wahrscheinlich. Er hält es sowieso nicht für sinnvoll, mit Zwang etwas zu erreichen. Die Massnahmen müssten aus Überzeugung kommen. «Aber der Baselbieter Regierung fehlte bislang die Einsicht und der Wille, die Anforderungen konkret anzugehen.» Ein schwacher Trost für die Baselbieter Gehbehinderten: In den übrigen Kantonen sieht es bei der Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes kaum besser aus als im Baselbiet.


Georg Mattmüller

 

«Die Verspätung war leider voraussehbar.» Georg Mattmüller Geschäftsführer Behindertenforum

Unterstützung erwünscht

(Grosseltern magazin)


«Weil die Grenzen des Wohlfahrtsstaates zunehmend sichtbar sind, werden die Generationen-beziehungen als Unterstützungssysteme immer wichtiger» „

 

Wer das hübsche Einfamilienhaus der Familie Widmer bei Bern zum ersten Mal betritt, gewinnt den Eindruck, hier würden zwei Kinder wohnen. Im ehemaligen Zimmer ihrer Tochter Simone hat Anna Widmer (64) liebevoll einen Schlafraum für ihre beiden Enkel Elias (2,5 Jahre) und Noa (6 Monate) eingerichtet.

«Nach der Geburt des ersten Enkels hat unsere Tochter immer von Montag auf Dienstag hier mit ihm übernachtet. um abends ihren Sprachunterricht geben zu können», erzählt die 64-Jährige.» Mittwochnachmittags sind beide Grosseltern zur Tochter gefahren. Donnerstags und freitags hat der Grossvater den Hütedienst alleine übernommen. «Wir wollten unserer Tochter die Doppelbelastung, die eine berufstätige Mutter von zwei Kindern zuweilen erlebt, ersparen. Und wir wollten und ihr ermöglichen, dass sie ihre Söhne nicht bereits jetzt in die Kita geben muss.»

«DAS WOLLTE ICH IHM NICHT ZUMUTEN»

Doch dies war nicht die einzige Aufgabe, die Anna Widmer neben ihrem 100-Prozent-Pensum als Lehrerin vor zwei Jahren schulterte. Damals stürzte ihre Mutter in ihrem 35 Kilometer entfernten Eigenheim und zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Nach dem Spitalaufenthalt musste die 87-Jährige zur Reha an den Thunersee. Da ihr 93-jähriger Vater in dieser Zeit nicht alleine zu Hause bleiben konnte, nahm Anna Widmer ihn für sechs Wochen bei sich auf. »Um diese Zeit zu überbrücken, hätte mein Vater sonst ein Ferienbett in einem Heim benötigt, und dies wollte ich ihm nicht zumuten.» Die Situation spitzte sich weiter zu, als ihre Mutter. ausgelöst durch den langen Heilungsprozess, an Depressionen litt. Anna Widmer besuchte sie im Wechsel mit ihren drei Geschwistern deshalb mindestens einmal die Woche in der Reha. Parallel ging ihr Mann Beat zu diesem Zeitpunkt in Pension und sie mussten gemeinsam zahlreiche Dinge organisieren. «In dieser Zeit bin ich manchmal am Rand gelaufen», erinnert sich Anna Widmer. Ein Jahr später starb ihr Vater in seinem Haus. »Jetzt, im Nachhinein, möchte ich diese intensive, gemeinsame Zeit mit ihm nicht mehr missen. Auch wenn mich die damalige Situation an die Grenzen meiner Belastbarkeit gebracht hat.» Beide Betreuungsaufgaben neben ihrer Berufstätigkeit zu übernehmen, war für Anna Widmer jedoch nur möglich, weil sie als Lehrerin einen Teil ihrer Arbeit auch noch abends erledigen konnte und sich die Geschwister die Unterstützungsaufgaben für die Mutter aufteilten.»

BOHNENSTANGENFAMILIEN

Die längere Lebenserwartung, der Wunsch, bis ans Lebensende im eigenen Haus zu bleiben und möglichst nicht von fremden Personen betreut zu werden, bringen neue Solidaritätserwartungen», erklärt die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello. In den sogenannten Bohnenstangenfamilien teilen sich drei bis vier Generationen eine längere gemeinsame Lebensspanne, haben aber gleichzeitig weniger Kinder und Enkel. Das heisst Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen sind in viel geringerer Anzahl als noch vor 50 Jahren vorhanden. »Weil die Grenzen des Wohlfahrtsstaates zunehmend sichtbar sind, werden die Generationenbeziehungen als Unterstützungssysteme jedoch immer wichtiger», betont die emeritierte Professorin. Deshalb müssten sie durch eine gezielte Politik gefördert werden. Nach dem Bundesamt für Statistik (BFS) haben die Grosseltern in der Schweiz im Jahr 2016 rund 160 Millionen Betreuungsstunden geleistet und damit einen volkswirtschaftlichen Wert von 8,1 Milliarden Franken erbracht.

UNTERSTÜTZUNG ZURÜCKGEBEN

Als Anna Widmer mit 32 Jahren ihre Tochter Simone bekam, arbeitete sie zunächst mit einem 80-Prozent-Pensum weiter. Später reduzierte sie auf 50 Prozent und ihr Mann auf 80 Prozent. Jeweils am Mittwochvormittag übernahm ihre Mutter die Betreuung der Enkelin. «Auf meine Mutter konnte ich mich immer verlassen, auch wenn zusätzlich Hilfe nötig war», so Anna Widmer. Sie habe oft zu ihr gesagt:» Beiss dich durch, du hast die Chance, deine Lehrerstelle beizubehalten». erinnert sich Anna Widmer. Als später ihr Sohn Klaus auf die Welt kam, übernahm ihr Vater dessen Betreuung. Dafür nahm die Familie die Grosseltern mit in die Ferien. «Diese Unterstützung möchte ich meiner Mutter heute zurückgeben.»


«Diese Unterstützung möchte ich meiner Mutter heute zurückgeben.»

ARMUTSFALLE ANGEHÖRIGENPFLEGE

Das Engagement der pflegenden Angehörigen hat für diese selbst häufig negative gesundheitliche und finanzielle Auswirkungen. Gemäss einer Studie von Age Care Suisse Latine von 2011 weisen sie als «hidden patients» einen höheren Medikamentenkonsum und mehr Arztbesuche als gleichaltrige Personen auf. und viele fühlen sich chronisch belastet. 18 Prozent der weiblichen pflegenden Angehörigen reduzieren ihr Arbeitspensum, 16 Prozent geben ihren Job ganz auf und 5 Prozent lassen sich frühzeitig pensionieren. Von den männlichen pflegenden Angehörigen müssen rund 20 Prozent berufliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Neben den Einkommenseinbussen schmälern diese Personen zudem ihre eigene Altersvorsorge. Somit laufen sie Gefahr. nach ihrer Pensionierung in die Altersarmut abzurutschen und Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen. «Ich erwarte kein Aufrechnen der Stunden. aber wer seine Angehörigen pflegt und gezwungen ist, dafür seine berufliche Tätigkeit zu reduzieren oder gar ganz aufzugeben, sollte dafür nicht in seiner Rente bestraft werden», fordert Anna ‚Widmen

AKTIONSPLAN DES BUNDESRATS

In den letzten Jahren wurden zahlreiche parlamentarische Initiativen beim Bundesrat eingereicht, um pflegende Angehörige finanziell und zeitlich zu entlasten. Daraufhin hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine schweizweite Bestandesaufnahme der Betreuungszulagen und Entlastungsangebote durchführen lassen. Auf dieser Basis erstellte der Bundesrat im Dezember 2014 einen «Angehörigenbericht» sowie einen «Aktionsplan zur Unterstützung von betreuenden und pflegenden Angehörigen». Seit Ende Juni 2018 liegt die Vernehmlassungsvorlage für einen Gesetzesentwurf vor. Der Bundesrat will mit drei Massnahmen die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuung von Angehörigen verbessern:

1 Erstens sieht der Entwurf vor, dass Arbeitnehmer das Recht auf eine kurzzeitige, bezahlte Arbeitsabwesenheit von drei Tagen pro Ereignis erhalten sollen, wenn Verwandte oder nahestehende Personen erkranken oder verunfallen. Zahlreiche Unternehmen kennen eine solche Regelung bereits. doch längst nicht alle. Der Bund rechnet mit Mehrkosten von 90 bis 150 Millionen Franken pro Jahr, welche die Unternehmen zu tragen hätten.

2 Zweitens soll für Eltern mit einem gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kind ein Betreuungsurlaub von maximal 14 Wochen eingeführt werden, den sie innerhalb von 18 Monaten beziehen können. Die Kosten von 77 Millionen Franken würden durch eine minimale Erhöhung der Lohnabzüge zugunsten der Erwerbsersatzordnung von allen Berufstätigen mitfinanziert.

3 Und die dritte Massnahme schliesslich betrifft die bestehenden Betreuungsgutschriften für die AHV: Anspruchsberechtigt wären neu auch unverheiratete Lebenspartner. wenn diese bereits fünf Jahre in einem gemeinsamen Haushalt leben. Der Kostenpunkt hierfür liegt bei einer Million Franken. Alle diese Massnahmen tragen dazu bei, das inländische Potenzial an Fachkräften besser ausschöpfen zu können, weil pflegende Angehörige durch die Entlastung weiterhin am Arbeitsprozess teil haben könnten, argumentiert der Bundesrat. Zudem werden die Pflegekosten gesenkt, weil Heimeinweisungen beträchtlich verzögert werden können und weniger externe Betreuungsleistungen benötigt werden. Damit entlasten die Angehörigen das staatliche Gesundheitssystem und sparen Kosten für die gesamte Gesellschaft. Ausserdem führt das Zusammenspiel von ambulanten Pflegedienstleistern und Angehörigen zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Pflegbedürftigen und ermöglicht ihnen ein selbstbestimmtes Leben. «Pflegende Angehörige sind eine unschätzbare Unterstützung für die Gesellschaft als Ganzes. Und dieses Engagement verdient Anerkennung. Nicht nur Worte». betonte Bundespräsident Alain Berset kürzlich im Fernsehen SRF.

EIN TROPFEN AUF DEN HEISSEN STEIN

Bei näherer Betrachtung sind die vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen zwar «insgesamt zu befürworten, aber nicht ausreichend», meint die Nationale Interessengemeinschaft für betreuende und pflegende Angehörige, die sich im Juni dieses Jahres aus Vertretern der Krebsliga Schweiz, Pro Infirmis, Pro Senectute, des Schweizerischen Roten Kreuzes und Travail.Suisse zusammengeschlossen hat. Den Gründungsmitgliedern haben sich mittlerweile zwölf weitere Organisationen angeschlossen. Kritisiert wird insbesondere das Fehlen von Betreuungszulagen sowie eines Erholungsurlaubs für alle betreuenden und pflegenden Angehörigen. «Betroffene brauchen Freiräume, in denen sie sich ohne schlechtes Gewissen regenerieren können», so Pasqualina Perrig-Chiello. Angehörige sollten einen Anspruch auf Ferienbetten und intermediäre Tagesstrukturen haben. Ebenfalls kritisch zurVorlage geäussert haben sich bereits der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) sowie die Vorstände der Konferenzen der kantonalen Sozial- (SODK) sowie der Gesundheitsdirektoren (GDK). Sie «begrüssen die Stossrichtung der Vorlage», halten sie jedoch in einigen Punkten für «zu minimalistisch»: Der entschädigte Betreuungsurlaub sei nur für die Betreuung von minderjährigen Kindern durch ihre Eltern vorgesehen. SODK und GDK bezeichnen diese Ausschlussbestimmungen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme als «inkohärent» und verlangen daher, eine Ausweitung des Betreuungsurlaubs auf engste Familienmitglieder sei zu prüfen. Zudem sollte untersucht werden, ob dieser auch als unbezahlter Urlaub gewährt werden könnte. Gemäss dem erläuternden Bericht des Bundesrates zur Gesetzesvorlage erfordern längere und schwere Krankheitssituationen, wie etwa bei krebskranken Kindern, Abwesenheiten von 64 Wochen. Daher schlägt der SGB eine bis zu einjährige Beurlaubung vor, die auf 26 Wochen je erwerbstätigen Elternteil aufgeteilt werden könnte, respektive 52 Wochen für Alleinerziehende. Die Vorstände von SODK und GDK be-zeichnen es als» gesellschaftspolitischen Fortschritt». dass die bezahlte, kurzzeitige Arbeitsabwesenheit nun gesetzlich auch für die Betreuung von volljährigen Verwandten, faktischen Lebenspartnern und nahestehenden Personen gewährt wird. Die Organisation von Unterstützungsangeboten nach einem akuten Krankheitsfall. nach der Heimkehr vom Spitalaufenthalt oder nach einem Umzug sowie wichtige Arzttermine etwa benötigen jedoch Zeit. und viele Betreuende leben nicht am gleichen Ort wie ihre Angehörigen.»Drei Tage sind da ein Tropfen auf den heissen Stein», erklärt Perrig-Chiello. Der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) fordert daher eine Arbeitswoche für kurzzeitige Absenzen. Im Zweifelsfall sollte zumindest der Anspruch für Alleinerziehende auf fünf Tage verlängert werden. Valerie Borioli Sandoz, Mitglied der Direktion und Leiterin Gleichstellungspolitik von Travaile. Suisse. weist daraufhin. dass es wichtig sei. wie das Ereignis für die kurzzeitige bezahlte Abwesenheit definiert werde:» Sollte dies offen gelassen werden. wird jeder Betrieb dies individuell und situativ handhaben, wodurch letztlich die Mitarbeitenden trotz eigentlicher Rechtssicherheit wieder vom Goodwill des Arbeitgebers abhängig sind.»

BEDARFSGERECHTE, INDIVIDUELLE LÖSUNGEN

Der Arbeitgeberverband der Banken Schweiz lehnt die Vorschläge für kurzfristige Absenzen ab. da die gesetzlichen Grundlagen bei der Erkrankung von Angehörigen bereits »ausreichend geregelt» seien. Der Betreuungsurlaub bei schwerer Erkrankung von Kindern hingegen sei zu starr und werde der Problematik nicht gerecht. Der Verband setzt auf »bedarfsgerechte. individuelle Lösungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern».

80 MILLIONEN UNBEZAHLTE ARBEITSSTUNDEN

Die Situation von Anna Widmer ist kein Einzelfall Wie die Swiss-Age-Care-Studie 2010 zeigt, verbringt nur jede funfte Person ihren Lebensabend in einem Alters- und Pflegeheim Die grosse Mehrheit der alteren Menschen wird durch ihre Angehorigen betreut Gefordert sind dabei vor allem deren Partnerinnen und Partner in hoherem Alter oder die erwachsenen Kinder, die durch Familie und Beruf selbst stark beansprucht sind Im Jahr 2016 leisteten in der Schweiz rund 300 000 Erwerbstatige unbezahlte Arbeit fur hilfs- und pflegebedurftige nahestehende Personen, so das Bundesamt fur Statistik (BFS) Dabei erbrachten sie insgesamt 80 Millionen unbezahlte Arbeitsstunden Das entspricht einem Geldwert von 3,7 Milliarden Franken pro Jahr Angesichts der wachsenden Anzahl alterer Menschen, der Zunahme Kinderloser und der stetig steigenden Erwerbsquote bei den Frauen rechnet das BFS mit einem Anstieg der Pflegeausgaben auf 17,8 Milliarden Franken bis 2030

«In den köpfen der Bevölkerung und der politik ist Care-Arbeit noch eine reine Privatsache. es gilt jedoch, sie öffentlich zu machen»

Zudem findet er die organisatorischen Herausforderungen für die Prüfung der Anspruchsbedingungen sowie die Erhöhung der Lohnnebenkosten durch die zunehmende Anzahl an Ge- setzesprojekten zur verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Care-Arbeit problematisch. Dadurch drohe insgesamt ein Anstieg der Lohnnebenkosten von deutlich über einem Prozent. was für die Konkurrenzfähigkeit des Arbeits- und Werkplatzes Schweiz keine gute Entwicklung sei. »In zehn Jahren werden Betriebe. die pflegende Angehörige unzureichend unterstützen, von starken Fluktuationen betroffen sein», prognostiziert aber Pasqualina Perrig-Chiello. «Dann werden sie handeln müssen, momentan verschliesst man davor jedoch noch die Augen.»

«DIE SANDWICH-GENERATION IST EIN FAKT»

Die geplanten Änderungen zu den Betreuungsgutschriften werden durchgängig von allen Organisationen begrüsst, die bereits ihre Stellungnahme abgegeben haben. Doch auch bei dieser Massnahme finden sich Lücken im Detail. Laut einer Studie des Soziologen Franwis Höpflinger leben 37 Prozent aller Grosseltern als Folge von Migration und Mobilität weit weg von ihrer Familie. Da ihre Angehörigen als sogenannte «Distant Care-Givers» somit mehr als 30 km oder eine Stunde entfernt leben, werden ihre Unterstützungsleistungen bei den Betreuungsgutschriften nicht berücksichtigt. Und dies obwohl wissenschaftliche Studien belegen, dass sie wertvolle Hilfestellungen erbringen. «Wir leben in einer mobilen Gesellschaft», betont Valerie Borioli Sandoz. «Die leichte Erreichbarkeit als Anspruchskriterium muss daher gestrichen werden.» Bei den pflegenden Angehörigen handelt es sich hauptsächlich um Frauen in der mittleren Lebensphase. Besonders betroffen sind gemäss dem Bundesamt für Statistik die 55- bis 64- Jährigen: 3,6 Prozent von ihnen nehmen zwei oder drei Care-Aufgaben gleichzeitig wahr. Die »Sandwich-Generation ist ein Fakt». so Pasqualina Perrig-Chiello. Wenn die Baby-Boomer älter werden, kommen zukünftig immer mehr Personen in die Situation, dass sie noch für minderjährige Kinder sorgen müssen oder bereits Enkel haben und sich gleichzeitig um ältere Angehörige kümmern. Dennoch sieht das Bundesgesetz über die Altersund Hinterlassenenversicherung keine Möglichkeit zur Kumulierung von Erziehungs- und Betreuungsgutschriften vor.» Diese Regelung geht an der Realität vorbei», betont die Entwicklungspsychologin. Das fiktive Einkommen,das für die AHV-Rente angerechnet wird und die Einschränkung der Erwerbstätigkeit durch die Angehörigenbetreuung ausgleichen soll, ist sehr tief. Es ist auf das Dreifache der jährlichen AHV-Minimalrente, derzeit 42 300 Franken. festgelegt.

FEHLENDE FINANZIELLE MITTEL

Rund 70 Prozent aller Unterstützungsleistungen, die kranke und betagte Menschen benötigen. sind nichtpflegerische Leistungen, wie etwa Putzen. Einkaufen, Kochen, Organisieren schriftlicher und finanzieller Angelegenheiten, Begleitung und Fahrdienste. Deren Kosten sind nicht durch die Krankenkassen gedeckt. Daher werden sie zu 65 Prozent von der Familie oder anderen nahestehenden Personen übernommen. «Betreuungsleistungen neu ins KVG aufzunehmen», so Salome von Greyerz, Leiterin der Abteilung Gesundheitsstrategien beim Bundesamt für Gesundheit. »ist im Rahmen der aktuellen Diskussion zur Kostendämpfung jedoch nicht möglich.» Auch Betreuungszulagen, wie sie in einigen französischsprachigen Kantonen und Gemeinden den Angehörigen gewährt werden. seien als flächendeckende Massnahme nicht umsetzbar, weil sie selbst im geringsten Umfang von 25 Franken pro Tag zu hohe Kosten erzeugen würden. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund ist mit der Argumentation, dass finanzielle Mittel fehlten, um den Bedarf an Pflege und Betreuung zu decken, jedoch nicht einverstanden. Er vertritt die Ansicht, dass »der Service Public im Care-Bereich ausgebaut werden muss, sodass diese Dienstleistungen im Bedarfsfall allen Menschen bezahlbar und in guter Qualität zugänglich sind». Auf Basis der Regulierungsfolge abschätzung zur Vernehmlassungsvor lage sei davon auszugehen, dass grosszügigere Lösungen, die dem Bedarf der Angehörigen wirklich gerecht werden könnten, finanzierbar wären. ,In den Köpfen der Bevölkerung und der Politik ist Care-Arbeit noch eine reine Privatsache. Es gilt jedoch, sie öffentlich zu machen», kritisiert Perrig-Chiello. Durch die veränderten Familienstrukturen und die zunehmende Nachfrage nach Fachkräften sei die Angehörigenbetreuung nicht mehr so privat wie früher. Dem stimmt auch Salome von Greyerz vom Bundesamt für Gesundheit zu. «Daher braucht es auf Bundesebene eine gesellschaftspolitische Diskussion. wer die Kosten trägt und was in der Altenpflege Aufgabe des Staates ist.» Im Rahmen der Fachkräfteinitiative hat das Bundesamt für Gesundheit das Förderprogramm ,Entlastungsangebote für pflegende Angehörige 2017-2020» lanciert. Es soll dazu dienen, die Situation und die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen zu erforschen, gute Praxisbeispiele für Unterstützungsangebote zu sammeln und zu dokumentieren. Seit Juni dieses Jahres sind auf der BAG-Website nun Best-Pratice-Beispiele aufgeschaltet, die Kantonen, Gemeinden und Unternehmen als Inspirationsquelle dienen sollen. Gelder für förderungswürdige Projekte wurden jedoch nicht zur Verfügung gestellt. Die ersten Ergebnisse der sechs Forschungsprojekte sollen Anfang 2019 vorgestellt werden. Diese könnten den Bundesrat bei der Finalisierung seines Gesetzesentwurfs auf Basis der Stellungnahmen unterstützen.

«HEUTE NUTZEN WIR DOODLE»

Vor einem Vierteljahr, einen Monat nach der Geburt des zweiten Enkels, stürzte Anna Widmers Mutter erneut. Dieses Mal brach sich die mittlerweile 89- Jährige das Schultergelenk. Nach der Reha hatte sie zwar für zweieinhalb Monate ein Ferienbett in einem Heim. Da die Mutter zu diesem Zeitpunkt jedoch erneut depressiv war, besuchten Anna Widmer und ihre Geschwister sie täglich. Für das Reha-Personal war klar, dass die Betagte so nicht mehr alleine in ihrem Haus leben konnte.» Sie selbst wollte das aber unbedingt, sodass wir ihr versprachen, es ihr zu ermöglichen», berichtet Anna Widmer. Zwar stimmte die Mutter widerstrebend einem Notfallknopf zu, trotzdem bleibt ein Restrisiko, dass sie diesen nicht trägt. Mittlerweile hat die 89-Jährige eingewilligt, dass täglich einmal die Spitex zur Mittagszeit vorbeikommt. die Medikamenteneinnahme überwacht und nebenbei im Auftrag der Kinder – darauf achtet, dass die Mutter genügend isst. Jeden Mittwochmorgen besucht Beat Widmer für zwei Stunden seine Schwiegermutter; an den übrigen Tagen sowie einmal am Wochenende wechseln sich die vier Geschwister ab. «Heute planen wir unsere Besuche mittels Doodle. jeweils mit Stellvertreterlösung», erzählt Widmer. Ihre Tochter ist seit Kurzem erneut berufstätig. Ein Tag kümmert sich deren Mann um die beiden Kinder und zwei Tage in der Woche übernimmt der Grossvater. Und Grosi kommt – wenn möglich – nach ihrer Arbeit noch hinzu. Widmer: «Was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeht, hinkt die Schweiz als reiches Land mit ihren Regelungen anderen europäischen Staaten leider immer noch hinterher.»

Die GAV und Menschen mit Behinderungen

(Freiburger Nachrichten)

Was können die Gesamtarbeitsverträge (GAV) zur Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen beitragen? Eine Studie von Travail.Suisse hat die Gesamtarbeitsverträge unter dieser Perspektive untersucht.

Thomas Reichmuth BERN
Die Politik hat die Invalidenversicherung (IV) in den letzten Reformen als Eingliederungsversicherung positioniert. Die politische Erwartung besteht, dass die Wirtschaft mehr Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz anbietet. Diese Aufgabe haben letztlich die Betriebe zu erfüllen. Die IV unterstützt sie dabei mit verschiedenen Massnahmen. Doch auch die GAV-Branchen könnten ihre Betriebe unterstützen, und zwar durch angepasste GAV-Regelungen, so jedenfalls die Sicht von Travail Suisse.

Integration nicht erschweren

Ein GAV sollte zumindest nicht die Arbeitsmarktintegration zusätzlich erschweren, ist eines der Fazite der Gewerkschaft. Dazu brauche es ein Diskriminierungsverbot, das besagt, dass der GAV Arbeitnehmende mit Behinderung weder direkt noch indirekt benachteiligen darf. Eine solche Regelung würde aus Sicht von Travail. Suisse die GAV-Parteien dazu verpflichten, Entscheidungen auch im Hinblick auf die Folgen für die Menschen mit Behinderung zu bedenken. Ein wichtiger Bereich bilde hier das Thema «Lohnregelungen für Mitarbeitende mit eingeschränkter Produktivität»

Integration förder

Aus Sicht von Travail.Suisse sollten GAV-Parteien übereinkommen, dass sie die Arbeits marktintegration von Menschen mit Behinderungen fördern.
Dazu wäre eine Förderartikel im GAV sinnvoll, der nach Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse, wie folgt lauten könnte: «Der GAV ist bestrebt, die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Dazu werden Strukturen der Zusammenarbeit in der Branche aufgebaut, und sowohl Betriebe, die Menschen mit Behinderungen integrieren, wie auch Menschen mit Behinderungen selber unterstützt.» Durch einen solchen Förderartikel bestünde laut Weber-Gobet die Möglichkeit, konkrete GAV-Politik für die Betroffenen zu entwickeln.

Prioritäten setzen

Die Studie nennt verschiedene Bereiche, in denen GAV-Branchen bei der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen tätig werden könnten. Keine GAV-Branche kann aus Sicht von Web er-Gobet in allen Handlungsfeldern gleichzeitig aktiv werden. Vielmehr sei es sinnvoll, Prioritäten zu setzen. So könnten zum Beispiel Sensibilisierungs- und Bildungsmassnahmen zum Thema ins Auge gefasst, Integrationsprojekte für bestimmte Zielgruppen geplant oder Unterstützungs-massnahmen für Betriebe (etwa Finanzierung von Coaching-Massnahmen) bereitgestellt werden. Integration als Chance Die Studie hält fest, dass alle Mitarbeitenden ihre Stärken und Schwächen haben, auch Mitarbeitende mit Behinderungen. Statt auf ihre Schwächen solle vermehrt auf ihre Stärken geachtet werden. Denn, so die Argumentation, Menschen mit Behinderungen verfügen oft über vielfältige Kompetenzen, die sie sich über Ausbildungen angeeignet haben. Die Studie kommt zum Schluss, dass dieses Potenzial besser ausgenutzt werden sollte, schliesslich würden in der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen immer Chancen stecken, die es zu nützen gelte.


Menschen mit Behinderungen sollten laut einer Studie von Travail.Suisse
auch in der Arbeitswelt gefördert und unterstützt werden.
Bild Forolia

 

Viele SP-Stimmen für Observationen

(Freiburger Nachrichten)

Das Referendum gegen das Gesetz, das den Sozialversicherungen künftig erlaubt, ihre Versicherten heimlich zu überwachen, provozierte in der SP einen Streit. Parteipräsident Christian Levrat wollte das Referendum nicht unterstützen, die Basler SP-Nationalrätin Silvia Schenker wollte es. Levrat unterlag. Diese Differenz mag sich in den Resultaten der Umfrage spiegeln, welche Tamedia von Freitag bis Sonntag bei 9120 Personen durchführte: 38 Prozent der SP-Sympathisanten unterstützten die Vorlage. Bei den Grünen waren es 22 Prozent – erstaunlich viel angesichts des Engagements der Partei gegen die Vorlage. Die Bevölkerung sagte mit 64,7 Prozent klar Ja.

Entspricht dem Wähleranteil

Das deutlichste Ergebnis gab es am Sonntag bei der Selbstbestimmungsinitiative, sie wurde mit wuchtigen 66,2 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Die SVP sprach also nur 33,8 Prozent an, eine Grösse, die etwa ihrem eigenen Wähleranteil entspricht. Die Befragung zeigt, woher sie kamen:vor allem von der SVP. 83 Prozent der SVP-Sympathisanten unter den Umfrageteilnehmern stimmten zu. Am anderen Ende der Skala sind SP, Grüne und Grünliberale mit Zustimmungsquoten von 6 Prozent. Das klare Muster SVP gegen den Rest habe sich insbesondere in der sinkenden Unterstützung bei der FDP gezeigt, schreiben die Politologen Lucas Leemann und Fabio Wasserfallen, welche die Resultate gewichtet und ausgewertet haben. Hornkuhinitiant und Bauer Armin Capaul erreichte mit 45,3 Prozent Ja-Stimmen einen Achtungserfolg – den er vor allem den Städtern verdankt. Naturgemäss stimmen diese eher für Tier- und Naturschutzanliegen. Auch diesmal: In der Stadt stimmten 51 Prozent zu, auf dem Land nur 39 Prozent.bl


Tamedia-Nachbefragung zu
den Abstimmungen vom 25.November

 

Kommission will Persönlichkeitsschutz der Versicherten stärken

(parlament.ch)

Medienmitteilung von 07. November 2018

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-SR) will sicherstellen, dass die Verhältnismässigkeit gewahrt und der Persönlichkeitsschutz gestärkt wird, wenn das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bei den Versicherern Daten über alle Versicherten erhebt. Sie erarbeitete eine entsprechende Gesetzesänderung.

Mit 8 zu 0 Stimmen bei 4 Enthaltungen hiess die Kommission ihren Vorentwurf über die Datenweitergabe der Versicherer in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) gut. Sie setzt damit die parlamentarische Initiative «Für den Persönlichkeitsschutz auch in der Aufsicht über die Krankenversicherung» (16.411; Eder) um. Gemäss dem Vorentwurf soll das BAG die Daten gruppiert erheben, damit einzelne Versicherte nicht identifiziert werden können. Nur unter genau definierten Voraussetzungen soll es anonymisierte Daten pro einzelnen Versicherten verlangen dürfen. Noch im laufenden Monat wird die Kommission das Vernehmlassungsverfahren eröffnen.

Das BAG erhebt seit 2014 bei den Versicherern anonymisierte Individualdaten. Es nutzt diese Daten, um die generelle Kostenentwicklung in der Grundversicherung zu überwachen und die Versicherer zu beaufsichtigen. Um die Gründe des Kostenanstiegs besser zu verstehen, soll das BAG neu auch Individualdaten nach Art und Erbringer der medizinischen Leistungen erheben dürfen. Weitergehenden Plänen zur Datenerhebung will die Mehrheit der Kommission jedoch einen Riegel schieben. Eine Minderheit will solche Erhebungen zulassen, damit das BAG zusätzlich die Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen im Bereich der Arzneimittel sowie der Mittel und Gegenstände überprüfen kann.

Im Zusammenhang mit der Datenthematik beschloss die Kommission einstimmig das Postulat «Kohärente Datenstrategie für das Gesundheitswesen». Sie will den Bundesrat beauftragen, eine Datenstrategie zu erarbeiten mit dem Ziel, die Transparenz in der OKP zu verbessern und wirksame Massnahmen zur Kostendämpfung zu identifizieren.

Forum Handicap Valais-Wallis sagt Nein zu willkürlichen Überwachungen

(1815.ch)

Forum Handicap Valais-Wallis (FH-VS) sagt Nein zur willkürlichen Überwachung von Versicherten. Deshalb lehnt FH-VS die «Gesetzliche Grundlage zur Überwachung von Versicherten», die am 25. November zur Abstimmung kommt, ab.


FH-VS ist der Ansicht, dass Observationen nur in Einzelfällen berechtigt sind.Foto: Keystone

 

Sozialversicherungen hatten bis 2017 die Möglichkeit, Versicherte zu überwachen, die verdächtigt wurden, missbräuchlich Leistungen zu beziehen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte jedoch im Oktober 2016 geurteilt, dass die Schweizer Gesetzgebung keine Grundlage hat, solche Observationen bei der Unfallversicherung durchzuführen. Im Juli 2017 entschied das Schweizerische Bundesgericht, dass auch in der IV die gesetzliche Grundlage nicht genüge. Beide Versicherungen stellten in der Folge die Observationen ein.

Um dieses Problem zu lösen, erarbeitete das Parlament auf Druck der Versicherungen eine Gesetzesvorlage. Mit der Überarbeitung des allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sind nun sämtliche Sozialversicherungen betroffen. Somit kann potenziell die gesamte Bevölkerung observiert werden.

Massive Einschränkung der Persönlichkeitsrechte

Es dürfen Bild- und Tonaufnahmen gemacht werden und Personen können beobachtet werden, wenn sie sich an einem allgemein zugänglichen Ort befinden oder dieser von einem allgemein zugänglichen Ort aus ohne weiteres frei einsehbar ist. Eine Hausüberwachung ist erlaubt, zum Beispiel im Garten, auf dem Balkon oder durch ein Fenster. Diese Beobachtungen können über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr erfolgen. Es handelt sich hier nach Ansicht von FH-VS um einen sehr bedeutenden Eingriff in die Privatsphäre.

Die Bild- und Tonaufnahmen können direkt von der Versicherung angeordnet werden. Nur der Einsatz von Ortungsgeräten (GPS-Trackern, Drohnen) muss von einem Gericht geprüft und genehmigt werden. Diese Regelung verleihe den Versicherungen unverhältnismässige Befugnisse, heisst es weiter, und stehe nicht im Einklang mit den Grundsätzen eines Rechtsstaates.

Bei Privatdetektiven, die von Versicherungen bezahlt werden, bestehe zudem die Gefahr, dass der Auftrag nach Gefallen der Versicherungen ausgeführt werde und kein Interesse an einer objektiven Aufklärung des Sachverhalts bestehe. Darüber hinaus seien die Vorschriften über das Profil der Detektive nicht präzise genug.

Unbedeutende Anzahl von Fällen

In den Jahren 2017 und 2016 wurden jeweils 20 Strafanzeigen wegen Sozialversicherungsbetrug gesamtschweizerisch erhoben. Nicht kommuniziert ist, in wie vielen Fällen es zu einer Verurteilung gekommen ist. «Die Anzahl der IV-Betrüger mit krimineller Energie ist marginal», so FH-VS in einer Mitteilung.

FH-VS spricht sich dezidiert gegen Versicherungsbetrug aus und ist der Ansicht, dass in Einzelfällen Observationen berechtigt sind. Die gesetzliche Vorrichtung, um dieses Thema zu regeln, müssten jedoch auf den Grundsätzen eines Rechtsstaates basieren. Ausserdem müsse die Verletzung der Grundfreiheiten verhältnismässig bleiben. Der Gesetzentwurf entspreche eindeutig nicht diesen Kriterien und sei daher abzulehnen.

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Invalidenversicherung (IV): Zulage für Kinder soll gesenkt werden

(SGK-N Sekretariat der Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit)

Die Kommission führte die Detailberatung über die Weiterentwicklung der IV (17.022 n) weiter. Mit 13 zu 8 Stimmen bei 2 Enthaltungen beantragt die Kommission, den Begriff «Kinderrente» in «Zulage für Eltern» zu ändern. Dies beschreibe den Sachverhalt klarer, wurde in der Kommission argumentiert. Mit 12 zu 7 Stimmen bei 3 Enthaltungen beantragt die Kommission weiter, diese Zulage für Eltern von 40 auf 30 Prozent der Rente zu senken, und zwar sowohl in der IV wie auch in der AHV (Art. 38 IVG und Art. 35ter AHVG). Damit sollen Fehlanreize korrigiert werden, die bei kinderreichen Versicherten einer Reintegration entgegenstehen. Wird die Zulage nach einer dreijährigen Übergangsfrist gesenkt, lassen sich in der IV 88 Millionen Franken einsparen und in der AHV 40 Millionen Franken (Auswertung von 2017, im Mittel der Jahre 2020-2030). Diese Einsparung sei nötig, da die IV immer noch Schulden habe und die Prognosen des Bundesrates im Hinblick auf den Schuldenabbau zu optimistisch seien, argumentierte die Mehrheit. Die Minderheit erachtet die Einsparung als zu einschneidend für behinderte Eltern; zudem würden andere Sozialversicherungen wie die Ergänzungsleistungen (EL) stärker belastet.

Mit 14 zu 9 Stimmen folgte die Kommission dem Vorschlag des Bundesrates für ein stufenloses Rentensystem. Bei einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent soll es wie bisher eine Viertelsrente geben, dann soll die Rente mit zunehmendem Invaliditätsgrad stufenlos ansteigen, bis bei 70 Prozent die ganze Rente erreicht wird. Auf diese Weise sollen IV-Bezüger einen stärkeren Anreiz erhalten, möglichst weitgehend erwerbstätig zu bleiben. Für Rentenbezüger ab 60 Jahren soll nichts ändern; für Rentenbezüger zwischen 30 und 59 Jahren soll die Rente nur dann angepasst werden, wenn sich ihr IV-Grad verändert. Das vom Bundesrat vorgeschlagene Modell wäre für die IV kostenneutral. Die Kommission hat die Verwaltung beauftragt, auch die Kosten eines anderen stufenlosen Modells zu rechnen. Eine Minderheit will beim heutigen System mit den vier Rentenstufen bleiben, da das stufenlose Rentensystem zulasten von IV-Bezügern mit einem hohen IV-Grad und schlechten Eingliederungschancen gehe. Zudem sei mit viel mehr Beschwerden zu rechnen. Die Kommission wird die Detailberatung im November weiterführen.

Medienmitteilung

Aufklären! Mit stoischer Geduld!

(Saiten)

Nils Jent ist mehrfach behindert und Professor für Diversity Management an der Universität St.Gallen. Im Interview plädiert er für Kompromisse statt Konfrontation. Wenn eine Lösung mehrheitsfähig ist, so ist sie gut. Wenn sie nur Partikularinteressen befriedigt, kommen wir nicht voran, sagt Jent. Interview: Peter Surber und Christoph Popp


Nils Jent. (Bild: Daniel Ammann)

 

Peter Surber: Nils Jent, wer über Behinderung spricht, hat es mit begrifflichen Minenfeldern zu tun. In aller Munde ist zurzeit die Forderung nach «Zugang für alle»…

Nils Jent: «Zugang für alle» ist ein spezifischer Begriff, reserviert für das Postulat barrierefreier IT-Technik. Es geht dabei also beispielsweise um das uneingeschränkte Informieren auf Internetseiten, auch wenn jemand blind ist. Geht es um die uneingeschränkte Zugänglichkeit von Infrastrukturen wie Gebäuden oder Eisenbahn, so wird von «barrierefrei» oder «behindertengerecht» gesprochen.

Surber: «Behinderung» – darf man das überhaupt noch sagen? Ist «Handicap» korrekter? Welche Terminologie ist aus Betroffenensicht am wenigsten diskriminierend?

Jent: Darüber werden epische Debatten geführt. Ich bevorzuge den Ausdruck «Mensch mit Behinderung», was offiziell die politisch korrekte Bezeichnung ist. Von «Handicap» zu reden, halte ich im deutschsprachigen Gebiet für nicht sinnvoll. Dabei sind die Begriffe für sich allerdings harmlos. Ich selber kann auch damit leben, als «behindert» bezeichnet zu werden, denn ich bin es tatsächlich – entscheidend ist nicht das Wort, sondern vielmehr, was in den Köpfen der Menschen passiert.

Heraus aus den Schubladen!

Christoph Popp: Es passiert schnell, dass ein Mensch mit dem Attribut «behindert» in eine ganz bestimmte Schublade gesteckt wird. Und dann mühsam darauf bestehen muss: Ich habe zwar eine Behinderung, ich stosse an gewisse Grenzen, aber ich möchte dennoch als Individuum mit all meinen Qualitäten wahrgenommen werden.

Jent: Was ich oft erlebe: Wer wie ich mehrfach behindert ist, gilt wohl automatisch als intellektuell ebenfalls ausserhalb der Norm. Wenn einer undeutlich spricht, kann er ja nur geistig behindert sein… Es scheint eine Art Hierarchie bei den fünf Behinderungsarten zu geben: Rollstuhlfahrende erleben etwas seltener, in diskriminierender Art angesprochen zu werden. Wer wie ich verwaschen spricht, erfährt diskriminierendes Verhalten etwas häufiger. Ich muss dann jeweils darauf beharren: «Sie können ganz normal mit mir reden.» Wenn ich noch darauf hinweise, dass ich einen Doktortitel und eine Professur innehabe, ist die Irritation komplett. Peinlich, wenn das Gegenüber mich dann weiter mit Babysprache anspricht. Wer ist jetzt da behindert?

Surber: Was kann man dagegen tun?

Jent: Mit stoischer Geduld aufklären! Dass Nicht-Behinderte jemanden, wie beispielsweise mich, in der geschilderten Art «nicht für voll» nehmen, ist einerseits entsetzlich, andererseits aber psychologisch durchaus erklärbar. Für Nicht-Behinderte ist das Leben mit einer Behinderung eine fremde, praktisch unerfahrbare Welt. Damit die fremde Welt zumindest über die Kognition etwas nachvollziehbarer wird, benötigen Menschen ohne Behinderung die Bereitschaft, vorurteilslos hinzuschauen und hinzuhören sowie ihr Gegenüber als gleichwertig wahrzunehmen. Zum einen geht es um Information und Kommunikation. Zum andern gilt die Regel: Geh mit deinem Gegenüber gleich um, wie du es für dich selber wünschst.

Ein Beispiel: Eine blinde Person steht etwas unschlüssig am Strassenrand. Plötzlich wird sie am Arm gepackt und unerwartet wird ihr über die Strasse «geholfen». Anschliessend an diese kommunikationslose Aktion flippt die blinde Person aus und übersät den «helfenden» Passanten mit groben Verwünschungen. Klar ist: Beide Parteien haben misslich gehandelt. Wie hoch allerdings wird die Motivation seitens des helfenden Passanten sein, sich in einer nächsten, ähnlichen Situation zu engagieren? In einer Situation vielleicht, in der die Hilfe – und dann auch noch richtig ausgeführt – ausserordentlich wertvoll sein kann.

Es ist die Verantwortung jedes Einzelnen von uns Menschen mit Behinderungen, mit stoischer Geduld und immer wieder den Menschen ohne Behinderung nachvollziehbar zu machen, was wir an sich benötigen. Als Minderheit, die wir als Gesellschaftsmitglieder mit Behinderung sind, sind wir gefordert, die Hände nicht in den Schoss zu legen und erwartungsfroh zu fordern, dass uns die Sahneschnittchen direkt in den Mund fliegen. Es gilt, aktiv etwas dafür zu tun sowie unermüdlich die Herausforderungen konstruktiv anzunehmen und verantwortungsbewusst mitzugestalten. Dies stets im starken Miteinander mit sämtlichen Mitgliedern unserer Gesellschaft.

Surber: Das überrascht mich: dass Sie nicht in erster Linie die Nicht-Behinderten in die Pflicht nehmen, sondern die Behinderten selber.

Jent: Ich halte das für ganz entscheidend. Wenn man die aktuellen Debatten um Inklusion verfolgt, namentlich in Deutschland, aber auch in der Schweiz, so zeigt sich ein verheerendes Bild: Es wird, von Seiten der Inklusionsbefürworter, gefordert, gefordert und nochmals gefordert. Keiner fragt sich dabei, ob die Forderungen zum zusätzlichen Nutzen verhältnismässig oder ihre Umsetzung finanzierbar sei. Statt katalogweise Maximalforderungen zu stellen, wären vielmehr im tatsächlich gleichwertigen Miteinander konstruktive Vorschläge zu erarbeiten, mit welchen Kompromissen die für eine möglichst breite Vielfalt von Menschen optimalen Lösungen zu erzielen sein würden.

Aushandeln – auf Augenhöhe

Popp: Um das an zwei Beispielen zu diskutieren: Auf dem neuen Bahnhofplatz der Stadt St. Gallen sichern hohe Rampen den schwellenfreien Einstieg in den Bus. Wer nicht so gut zu Fuss ist, für den können die hohen Absätze hingegen zur Stolperfalle werden. Oder ein anderer, aktuell kontroverser Fall: Bei der Haltestelle Spisertor der Appenzeller Bahnen in St.Gallen soll die Rampe verlängert werden, um bei den neuen, längeren Zügen den durchgehenden barrierefreien Einstieg auch im hinteren Zugteil zu ermöglichen. Das würde aber die Zufahrt zu den angrenzenden Geschäftsparkplätzen verunmöglichen. Ginge es auch hier darum, statt nach Maximalforderungen nach einem Kompromiss zu suchen, nach dem Motto: Aufeinander zugehen statt «Zugang für alle»?

Jent: Falls der Komfort im vorderen Zugteil ebenso vollumfänglich gewährleistet ist, und damit Gehbehinderten und auch Eltern mit Kinderwagen keine diskriminierenden Verhältnisse zugemutet werden, so scheint mir das bisherige Angebot zumutbar sowie verhältnismässig. Demgegenüber stehen dem geringen zusätzlichen Nutzen durch die Verlängerung der Einstiegsrampe hohe Kosten sowie eine starke Abnahme der Nutzung der angrenzenden Parkfelder gegenüber: Bad deal… Solche Beispiele gibt es im Thema «Barrierefreiheit im öffentlichen Raum» zu Hauf. Wir müssen an Verbesserungen arbeiten, die möglichst allen nützen. Denn Inklusion funktioniert so: Wenn eine Inklusionsmassnahme mehrheitsfähig ist und möglichst für viele sowie unterschiedlichste Menschen Nutzen stiftet, so ist die Massnahme gut. Wenn sie nur Partikularinteressen befriedigt, kommen wir nicht voran.

Surber: Ist das nicht zu theoretisch gedacht? Interessen sind so spezifisch wie Behinderungen. Rollstuhlfahrer wollen möglichst keine Randsteine – für Blinde, die sich mit dem Langstock orientieren, sind Randsteine dagegen hilfreich. Die Mehrheit hat diese Interessen nicht, aber sie gibt viel Geld aus, zum Beispiel um Rampen zu bauen. Sind das nicht unauflösbare Widersprüche?

Popp: Mich überzeugt der vorhin genannte Grundsatz: Wenn Diversitätsinteressen so formuliert werden, dass sie mehrheitsfähig sind oder den Gemeinnutzen fördern, dann geht es. Auf eine Formel gebracht: Intelligente Lösungen erzeugen Mehrwert für Viele. Aber das setzt die Bereitschaft zu anspruchsvollen Aushandlungsprozessen voraus.

Jent: Das ist richtig. Und vergessen wir die gleichzeitige Bedingung nicht von Verhältnismässigkeit, möglichst optimalem Kompromiss und möglichst breiter Nutzenstiftung. Ganz falsch wäre es, Diskriminierungssituationen quasi gegeneinander auszuspielen. Die Schweiz ist Weltmeisterin im Kompromisseschliessen – das sollte auch auf dem Gebiet der Barrierefreiheit so sein. Dass heute Forderungen von Behindertenseite oft mit grosser Vehemenz vorgebracht werden, liegt allerdings daran, dass der Nachholbedarf gross ist. Lange Zeit war Behinderung in unserer Gesellschaft «unsichtbar» und wurde kaum ernsthaft thematisiert. Die Behindertenbewegung ist eine junge Bewegung. Auch unsere Gesellschaft hat sich nun langsam darangemacht, Altlasten zu beseitigen, vor denen wir wie die Kleinkinder bisher die Augen zu machten. SBB-Züge beispielsweise hätte man schon seit vielen Jahren barrierefrei zugänglich bauen können.

Bevor wir jammern: «Behinderte kosten immens», sollten wir uns als Gesellschaft fragen, ob die heutigen Kosten in unserer Ignoranz und in der wenig weitsichtigen Planung und Gestaltung unserer Vergangenheit liegt. Wir also als Kollektiv für die zusätzlichen Kosten eines Miteinanders mit unseren Gesellschaftsmitgliedern mit Behinderung letztlich selber verantwortlich sind.

Surber: Kommt der Anstoss dafür vom Behindertengleichstellungsgesetz, das inzwischen allerdings auch schon zwölf Jahre in Kraft ist?

Jent: Das schweizerische Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) ist zwar seit 2006 da – aber es ist leider relativ zahnlos. Die Vorschriften, etwa bei der barrierefreien Zugänglichkeit, werden zum Teil umgangen oder wenig tauglich umgesetzt. Aktuell liegt die SBB mit «Inclusion Handicap», dem schweizerischen Dachverband der Behindertenverbände vor dem Bundesgericht im Streit. Hauptzankapfel sind die für Bahnreisende mit Rollstuhl praktisch unüberwindbaren Ein- und Ausstiege der nagelneuen Langstreckenzüge. Bei einem Entscheid zu Ungunsten der Rollstuhlfahrenden droht von unserem höchsten Gericht jener Präzedenzfall, der die Potenz hat, das BehiG auszuhebeln.

Behinderung gibt es nicht – es gibt nur Menschen

Surber: In der Architektur kann behindertengerechtes Bauen Einschränkungen etwa in der Vielfalt von Wohnungsgrundrissen zur Folge haben – eine Maisonette-Wohnung mit Treppe ist dann nicht mehr erlaubt. Ist das nicht ein Verlust?

Jent: Hmmm… eine Maisonette-Wohnung mit Treppe und Lift: da profitieren doch alle, vor allem die jungen Fitten, die mir öfter Mal vom Lift entgegenkommen… Wie erwähnt bildet die Verhältnismässigkeit die Richtschnur. Bei Massnahmen zur Verbesserung der Zugänglichkeit muss die Verhältnismässigkeit gewahrt bleiben. Allerdings ist die radikalere Haltung weit verbreitet: die möglichst kompromisslose Verwirklichung von Behindertengerechtigkeit.

Popp: In meinem Berufsalltag mache ich die Erfahrung, dass sich Nicht-Behinderte tendenziell davor scheuen, an die Selbstverantwortung der Behinderten zu appellieren. Und umgekehrt verharren viele Menschen mit einer Behinderung im Benachteiligungsmodus.

Jent: Wir können unsere Forderungen heftig auf den Tisch bringen, und das kann auch mal richtig und wichtig sein – aber noch wichtiger ist die Frage, ob ich damit meine Ziele erreiche und wie ich Veränderungen konstruktiv in Gang bringen kann. Die gute Lösung kommt erst dann, wenn wir gelassen an ihr arbeiten – das gilt für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermassen. Und meist wird sie entscheidend besser im vielfältigen Miteinander auf gleicher Augenhöhe.

Surber: Ähnliches wie vorhin in der Architektur angesprochen gilt für die Forderung nach «Universal Design»: Am Ende drohen gestalterische Monokulturen. Auch die «Leichte Sprache» geht auf Kosten von Differenzierungen. Correctness kills Diversity – ist diese Angst berechtigt?

Jent: «Correctness kills Diversity» kann ich gar nichts abgewinnen. Das eine schliesst das andere nicht aus. Zu beachten gilt ferner, dass sich die Diversity-Bewegung auf die Vielfalt und Verschiedenartigkeit von Menschen bezieht; nicht auf Sprache, Kaffeesorten, Automarken und derlei Dinge! Selbstverständlich sollen Verbesserungen nicht auf Kosten der Vielfalt von Menschen geschehen. Technischer Fortschritt, gesetzliche Regulatoren, Werthaltungen usw. dürfen beispielsweise mich als Mensch mit Behinderung an der Teilhabe an Leben und am Alltag weder ausschliessen noch zusätzlich behindern, aber auch nicht illegitim diskriminieren.

Was das Universal Design betrifft: Nicht für alle Probleme gibt es gestalterische oder technische Lösungen. Aber es gäbe für vieles Lösungen. Schauen Sie den Herd in meiner Wohnung an: Er ist mit heute gängigem, elegantem Touchscreen ausgerüstet. Eine echte Herausforderung für blinde oder sehbehinderte Personen. Viele Geräte sind unbrauchbar, selbst für technikaffine Menschen, zu denen ich mich zähle. Es existiert zum Beispiel eine App von einem der vier grössten Internetanbieter von E-Books, Musik, Hörbüchern und Weiterem – deren Navigation taugt jedoch nur für Sehende. Mit anderen Worten: Viele technische Lösungen wären da, aber sie werden nicht umgesetzt. Dabei täte sich mit dem Potenzial der blinden User ein Markt auf – gemäss Schätzungen gibt es weltweit etwa 253 Millionen blinde oder sehbehinderte Menschen. Schliesslich noch zwei Sätze zur einfachen Sprache. Sie dient, wenn sie die Standardsprache ergänzt und im Sowohl-Als-auch das Angebot erweitert. Sie nimmt jedoch den Reichtum unserer Sprache, würde sie im Entweder-Oder unsere Standardsprache ersetzen.

Popp: Wir hören in unserer Arbeit auch von subtiler Chancen-Ungleichheit, nicht technischer, sondern zwischenmenschlicher. So wünscht sich etwa eine selbständig wohnende erwachsene Frau mit Lernbehinderung, sie würde in ihrem Quartier ganz selbstverständlich und gleichwertig in die Nachbarschaft einbezogen, zum Grillplausch eingeladen oder um ein kurzes Kinderhüten gefragt.

Jent: Wir haben nach wie vor in vielen Bereichen Zweiklassen-Gesellschaften: Behinderte-Nichtbehinderte, Frauen-Männer, Schweizer-Ausländer… Wenn wir Diversity und Inklusion ernsthaft praktizieren wollen, so heisst das: Abschied zu nehmen von den Dichotomien. Behinderung gibt es nicht – es gibt nur Menschen. Und jeder einzelne ist einzigartig. Im sozialen Kontext kommen zusätzliche Prägungen wie Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, kulturelle und soziale Herkunft, materielle Bedingungen selbstverständlich hinzu, um Themen aus einer bestimmten Perspektive anzugehen – zum Beispiel aus der Perspektive der Frauen.

Popp: Daraus könnte man eine Art Merksatz ableiten: Diversity heisst, Einzigartigkeit zu akzeptieren und Gemeinsamkeiten zu berücksichtigen.

Noch in weiter Ferne: Chancengleichheit im Beruf

Surber: Wie steht es um die Chancengleichheit im Beruf für Menschen mit Behinderung?

Jent: Meines Erachtens sind wir nach wie vor sehr am Anfang. Noch immer herrscht in vielen Unternehmen und Institutionen eine Art Mitleidsdenken vor: «Wir machen etwas für die Behinderten.» Das ist schlicht der falsche Ansatz. In leicht sozialromantischer Verklärung wird sodann mehr oder weniger niederschwellig Dankbarkeit erwartet. Und schliesslich ist ernüchtertes Erstaunen festzustellen, wenn die erwartete Leistung nicht passt und die Arbeitskraft mit Behinderung ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt.

Gerade im Job muss der Grundsatz lauten: «Nothing about us without us» – Nichts über uns ohne uns. Es braucht Kommunikation auf Augenhöhe. Hinzu kommt: Soziales Engagement ist ein populäres Thema, solange die Auftragsbücher voll sind. Laufen die Geschäfte schlecht, dann sind – etwas plakativ gesagt – dagegen die ersten Leidtragenden unter den Mitarbeitern die Behinderten, dann die Ausländer, die Frauen und schliesslich die Männer und das Management. Dies in einer männerdominierten Unternehmenskultur und nachgewiesen in der Bankenkrise.

Surber: Wie ist die Situation an der Universität St.Gallen selber in Sachen Diversity? Sie sind sogar an Ihrem Institut, obwohl es sich professionell mit Inklusion befasst, quasi der Quotenbehinderte unter Nicht-Behinderten.

Jent: Das mögen Sie so aus der Home Page des Center for Disability and Integration entnommen haben. Fakt ist, dass wir eh nur eine kleine Gruppe Behinderter sind, die in jungen Jahren ins Bildungssystem kommen. Auch wenn durch Krankheit oder Unfall noch ein paar dazustossen, wir bleiben wenige. Und das dünnt sich dramatisch aus, je höher die Bildungsstufe ist. Dies, weil die Belastung und der Kampf im Vergleich mit den Klassengspänli überproportional wächst. Wen wundert es da, dass ich von Seiten Akademiker mit Behinderung kaum entsprechend qualifizierte Konkurrenz bei der damaligen Bewerbung ans Center for Disability and Integration der Universität hatte. Mag sein, dass ich der Quotenbehinderte bin. Andererseits ist auch klar, dass ich dieser nicht bin. Dies, weil wir in unserem Forschungsfeld schlicht von keinen Akademikern mit Behinderungen wissen, die abgeworben werden könnten.


Das Team des Centers for Disability and Integration CDI, in der Mitte Nils Jent. (Bild: HSG)

 

Surber: Wie gross ist die Zahl von Studierenden mit einer Behinderung an der Universität St. Gallen?

Jent: Denken Sie bitte an den in der Schweiz recht mächtigen Datenschutz! Was ich Ihnen geben darf, ist die Anzahl der Beratungen, die von der Beratungsstelle «Special Needs HSG» 2017 durchgeführt wurden. Das waren 269 im Herbstsemester 2017. Die hiesige Anzahl Studierender mit Behinderungen wissen wir aber tatsächlich nicht exakt. Die Dunkelziffer dürfte recht hoch sein. Denn erschwerend kommt hinzu, dass es vielen schwerfällt, sich als «behindert» zu outen, gerade bei weniger manifesten Einschränkungen. Die soziale und berufliche Stigmatisierung und deren Folgen werden nicht ganz zu Unrecht befürchtet.

Ein Outing erwirkt jedoch das gesetzlich verankerte Recht, den häufig entscheidend entlastenden Nachteilsausgleich in Anspruch nehmen zu dürfen. Nachteilsausgleich kann beispielsweise sein: die Zurverfügungstellung von Fachliteratur in Blindenschrift, oder zusammen mit einer Prüfungsaufsicht einen einzelnen Prüfungsraum zugewiesen zu bekommen, um dann ungehemmt mit Sprachein- und -ausgabe die Prüfung auf dem Laptop-Computer schreiben zu können.

Ich wünschte mir, dass die Stigmatisierung fällt und mehr Menschen den Mut haben, sich hinzustellen in ihrem So-Sein. Dann nämlich könnte im Bildungsbereich der bunte Strauss von Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs wesentlich mehr Auszubildende erreichen und selbstverständlicher seine oft entscheidende positive Wirkung entfalten. Möglicherweise müssten wir an der Universität St. Gallen dann nicht länger die Doktorierenden mit Behinderungen mit der Lupe suchen.

Surber: Was kann Ihr Center for Disability and Integration dazu beitragen, die Situation zu verbessern?

Jent: Das Center for Disability and Integration leistet seinen Beitrag in Forschung, Lehre und Praxis, um in Gesellschaft und Wirtschaft den Blick von den Disabilities hin zu den wesentlich potenteren Abilities zu lenken. Denn mit dem Begriff der «Ability» legen wir den Fokus auf Befähigungen und Ressourcen, nicht auf Defizite oder Leistungseinschränkungen. Dennoch bleibt die Kritik bestehen: Die Abteilungen für Diversität an der HSG müssten personell noch weit bunter zusammengesetzt sein. Wir haben ausgezeichnete Wissenschafterinnen und Wissenschafter am Institut – aber wer nicht behindert ist, dem fehlt ein wichtiger lebensweltlicher Bezug zum Thema. Zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten prallen Welten aufeinander. Und nur im gleichwertigen Miteinander entstehen jene Brücken und jener Austausch, der gegenseitiges Verständnis schafft; auch dann, wenn der Erfahrungsraum des Anderen einem selbst weitgehend eine Blackbox bleibt.

Surber: Was wäre Ihre grundsätzliche Forderung zur Verbesserung von Diversität und Inklusion?

Jent: Es braucht ein grundlegendes Umdenken, bei jedem Einzelnen wie in den Institutionen; einen grundsätzlichen Wertewandel. Ich selber habe Glück gehabt – und ich habe mir dieses Glück auch erzwungen. Wer mit einer Behinderung und erst recht, wie in meinem Fall, mit drei Behinderungen bestehen will, muss einen hohen Einsatz leisten. Und wir können nicht verlangen, dass die Welt der Nicht-Behinderten jene der Behinderten automatisch versteht.

Deshalb müssen wir uns mitteilen und einbringen. Wir haben eine Bringschuld, wir können nicht dasitzen und warten, dass sich die Welt um uns kümmert. Wir haben aber auch eine Holschuld. Nämlich dem nichtbehinderten Gegenüber zuzuhören, ebenfalls zu verstehen sowie dessen Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren.