Blind Tram fahren, gehörlos singen

(Tages-Anzeiger)

Aktionstage für Behindertenrechte Anüber 130 Veranstaltungen treffen sich dieser Tage Menschen mit und ohne Behinderungen.Wir haben am Wochenende drei davon besucht.

Helene Arnet(Text)und Dominique Meienberg(Fotos)

-Im Tram

Ich sehe die Welt wie durch eine dicke Vaselineschicht,ertaste einen freien Platz im Tram.Ich versuche auszusteigen,kapituliere aber,weilich die Tür nicht ausmachen kann,denn mein Blick ist bis auf einen kleinen hellen Punkt eingeschränkt.Es ist stockdunkel.Und ich weiss nicht einmal,in welche Richtung das Tram fahren würde,wenn es denn fahren würde.

Am Wochenende starteten unter dem Titel«Zukunft Inklusion»in Zürich die Aktion stage für Behindertenrechte.Initiiert wurden sie von der Behindertenkonferenz Kanton Zürich und dem kantonalen Sozialamt.Bis zum 10.September finden über 130 Veranstaltungen statt,bei denen es darum geht,aufzuzeigen,was Menschen mit Behinderungen den Alltag zusätzlich schwer macht. Etwa im öffentlichen Verkehr.

Tramdepot Burgwies:Die erste Brille,mit der ich das neue Flexity-Tram betrat,simulierte eine starke Sehbehinderung,die zweite einen Röhrenblick,die dritte vollständige Blindheit. Mir ist nach wenigen Schritten übel und schwindlig.Eine andere Frau stochert mit einem weissen Stock und geführt von einer VBZ-Mitarbeitenden durch das Tram und fragt:«Wie soll ich so herausfinden,wo ein Platz frei ist?»

Für Nicole ist das Alltag.Sie studiert an der Universität Zürich,kann nur knapp hell und dunkel unterscheiden und benutzt fast täglich Tram oder Bus.Mit dem neuen Rollmaterial habe sich zwar einiges verbessert,sagt sie,doch ersetze das nicht die Durchsagen und die Aufmerksamkeit des Personals.So sei sie darauf angewiesen,dass der Tramchauffeur oder die Tramchauffeuse ihr jeweils mitteilten, um welche Tram-oder Buslinie es sich handle.

Nicole und Stephanie haben die Rollen gewechselt.Normalerweise besteht die Aufgabe der normal sehenden Stephanie darin,Nicole zu begleiten,wenn sie wegen ihrer Sehbehinderung Hilfe braucht.Jetzt hat Nicole sich eine Augenbinde übergestreift und lässt sich von Nicole die Funktion der Schraffierungen am Boden zeigen: Leitlinien,das kleine schraffierte Feld markiert eine Abzweigung, das breiter schraffierte «Aufmerksamkeitsfeld» bedeutet Obacht!

Doch Obacht wovor? Erika belustigt die Frage.Sie ist stark sehbehindert und sagt:«Wir müssen einfach immer konzentriert unterwegs sein,weil so viele Hürden im Weg stehen.»Sie müsse auf alles gefasst sein,da gelte es sich eben«durchzuwursteln».

-Im Gottesdienst

Einen «bewegten» Gottesdienst verspricht Pfarrer Matthias Müller Kuhn.Er macht dabei ausladende Gesten,denn er will von allen verstanden werden.Müller Kuhn vom Pfarramt für Gehörlose der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich zelebriert am Sonntagmorgen zusammen mit Pfarrer Christoph Sigrist im Grossmünster den Gottesdienst.

Bewegt ist der Gottesdienst zu Beginn vor allem in den ersten paar Reihen,wo die Tanzgruppe Gehörlosen dorf Turbenthal und der Zürcher Mimenchor sitzen. Ihnen wird laufen düber setzt, was vorne gesprochen wird.Und manchmal «flüstern» sie auch untereinander in ihrer Gebärdensprache,was viel weniger stört,als wenn mein Bruder und ich früher in der Kirche leise geschwatzt haben.

Das Thema sind die Blumen, die Lilien auf dem Felde,die nicht arbeiten und nicht spinnen und trotzdem schöner sind als König Salomons Kleider.Der Text wird in leichter Sprache vorgelesen,was seiner Schönheit keinen Abbruch tut.Die Musik kommt von der Orgel und von der Hora-Band-Bachund und poetischer Pop,ein gelungenes Nebeneinander.Und die Predigt kommt nicht nur vonder Kanzel,sondern wir dauch noch getanzt.

«Gott ist die grösste inklusive Kraft»,sagt Pfarrer Müller Kuhn. «Alle Menschen haben in seiner Hand Platz.»Er zeigt drei Gebärden:Die jenige für «Gott»-eine in den Himmel weisen derechte Hand.Für «ganz»-ein kleiner Kreis geformt mit der Hand.Und für «Welt»-ein grosser Kreis geformt mit den Armen.Und schon singen und gebärden alle gemeinsam,Hörende und Gehörlose,das nächste Lied,was diesen Gottesdienst
nicht nur zu einem bewegten, sonder nauch zu einem bewegenden macht.

-Im Konservatorium

Zain leidet an einer seltenen Krankheit,die ihn an den Rollstuhl fesselt und auch sonst beeinträchtigt.Er ist sechs und entdeckt gerade im grossen Saal des Konservatoriums Zürich das Musizieren für sich.Seine Eltern sind mit ihm am Sonntagmittag ins Konservatorium gekommen,um Instrumente zu testen, die auch einzig mit einem Augenaufschlag oder dem Heben eines Arms gespielt werden können.

Aufgebaut hat diese das Zentrum für barrierefreie Musik Tabula Musica.Es setzt sich dafür ein,dass auch jene Menschen Instrumente spielen lernen können,die aufgrund einer Beeinträchtigung keine Tasten anschlagen,keine Saiten drücken, keine Töne blasen können.

Ein Selbstversuch einer Person,die seit ihrer Jugend kein Instrument mehr angefasst hat. Nun kann ich tatsächlich Harfe spielen.Auf dem Soundbeam. Indem ich die Hand auf ein Mikrofon zubewege und wegziehe. Ich kann Mozarts Vogelsängerlied auf dem Klavier klimpern, wenigstens halbwegs,auf dem EXA,indem ich durch eine Virtuality-Brilles chauend farbige Tasten mit einem Stick drücke. Etwas üben müsste ich allerdings noch.

Doch diese Instrumente taugen für mehr als Spiel und Spass, wie es etwa das Berner Tabula-Musica-Orchester zeigt.Es kombiniert konventionelle Instrumente wie Klarinetten oder Geigen mit musiktechnologischen Instrumenten,die auch von Menschen mit teils schweren Beeinträchtigungen gespielt werden können. Der Klang ist überzeugend.

Patrick Vogel von der Musikschule Konservatorium Zürich MKZ schaut interessiert zu,wie ein etwa 10-jähriges Mädchen, das im Rollstuhl sitzt,mit fliessenden Bewegungen auf dem Motion Composer Klaviertöne hervorbringt.

Bei ihnen in der Musikschule sei es durchaus möglich,dass Menschen mit Behinderungen den Unterricht besuchten,sagt Vogel.Allerdings habe man noch keine Erfahrung mit solchen Instrumenten.«Wir sind aber interessiert und können uns auch vorstellen,solche anzuschaffen.» Denn ihre Vielseitigkeit beeindrucke ihn.

Ganz hat der kleine Zain den Zusammenhang zwischen seinen Bewegungenund den Tönen,welche diese hervorzaubern, wohl noch nicht erfasst.Er ist ja auch erst sechs Jahre alt. Doch er lächelt,und die Eltern sagen:«Er ist sehr entspannt und fühlt sich wohl.Sonst will er meist schnell wieder gehen, wenn wir mit ihm eine Veranstaltung besuchen.»


Blick durch eine Brille,welche die altersbedingte Makula-Degeneration simuliert

 


Die Tanzgruppe Gehörlosendorf Turbenthal führt einen Blumentanz auf

 


Der 6-jährige Zain entdeckte das Musizieren für sich