Briefe an die SÄZ

(Schweizerische Ärztezeitung)

Stören die Deutschen Fliegenden Gutachter? Ja, sie stören!

Brief zu: Weiss M. Der deutsche Arzt als «fliegender Gutachter».Schweiz Ärzteztg. 2020;101(8):270-2.

Anwalt Weiss fragt, ob wir Deutsche Fliegende Gutachter (DFG) benötigen. NEIN! Vorausgesetzt, die Sozialversicherer vertrauen uns Schweizer Haus- und Spezialärzten nach 6 Jahren Studium, mindestens gleich langer Assistentenzzeit und jährlich verlangter Fortbildung. Wir benötigen weder DFG noch Schweizer Gutachterhochburgen. Weiss argumentiert, die DFG seien wirtschaftlich von der IV unabhängig. Aber: «Wess Brot ich ess, dess Lied ich sing», alte Minnensängerweisheit. Zudem: Welcher gute Arzt kann seine Praxis verlassen und für einen Tag im Ausland ihm fremde Menschen begutachten!

Gesundheit und Krankheit des Menschen sind mit seiner Geschichte verwoben. Dazu zwei Beispiele: Tom verbrannte sich als 9-Jähriger mit einer zu heissen Suppe die Speiseröhre, so dass sie vernarbte. Eine epigastrische Fistel war nötig. Bei Wolf und Wolff wurde ihm als erwachsenem Labordiener Prostigmin in den Magen gebracht. Er reagierte mit Krämpfen und Durchfall, späterebenso nach einer Placebolösung und (!) nacheiner Atropininstillation. Tom hatte aufgrundseiner ersten Erfahrung dem Atropin die Bedeutung Prostigmin aufgeprägt, er hatte aus seiner Geschichte gelernt und die zweiteilige Ursache-Wirkungs-Kette in eine dreiteilige verändert:Ursache-Interpretant-Wirkung.Hier erkennen wir die Bedeutung der Lebensgeschichte: Sie gestaltet die Wirklichkeit INDIVIDUELL. Zweites Beispiel: Papst Johannes Paul verkündet eines Morgens seinem Kämmerer, er wolle heute die Sauna besuchen.Dieser: «Heute ist sie gemischt!» Der Papst:«Diese paar Protestanten stören mich nicht.»Papst und Kämmerer haben die gleiche Tatsache aufgrund ihrer Lebenserfahrung individuell und unterschiedlich interpretiert.

Bei den IV-Patienten handelt es sich um Menschen, bei denen ihre Geschichte eine Hauptrolle spielt, mit oder ohne organische Veränderungen. Auch bei «rein Organischen» ist die Geschichte entscheidend. Der eine kann mit der gleichen organischen Störung noch arbeiten, der andere nicht, aufgrund ihrer Geschichte. Diese zu erfassen benötigt die Kenntnis der Geschichte dieser Menschen.Das braucht Zeit und Erfahrung mit ihnen. Diese besitzt der Hausarzt und in einigen Fällen sein Spezialist-Kollege.

Die Lösung: Diese verfassen die nötigen Berichte, Gutachten gestützt auf das moderne,biopsychosoziale Konzept der Medizin, und nicht wie die reinen Gutachter, die sich bedauerlicherweise wie die IV und die Juristen noch auf das aus dem 17. Jahrhundert stammende Biologische Konzept stützen, das unmenschlich ist, der Natur des Menschen nicht entspricht.
Prof. em., Dr. med. Rolf H. Adler, Kehrsatz


Juristische Deutung statt medizinisch fachlicher Diskussion und Differenzierung?

Der Rechtsanwalt Dr. iur. Marco Weiss stellt gegenüber ausländischen «Fluggutachtern» keine stichhaltigen Einwände fest. Dabei zeigt sich eine Problematik, welche sich in der Entwicklung der IV-Verfahren wiederholt zeigt:Juristen übernehmen Auslegung und Deutung, bevor eine differenzierte medizinische Diskussion geführt wurde.

In der Beurteilung psychiatrischer und psychosomatischer Störungen stellen deutsche Gutachterinnen per se tatsächlich kein Problem dar. Es stellt sich generell die Frage der fachspezifischen Qualität von psychiatrischen Gutachterbeurteilungen. Die RELY-Studien I und II des versicherungsmedizinischen Instituts der Universität Basel haben aufgezeigt,dass die gutachterliche Beurteilung psychischer Störungen keine genügende Validität aufweist, dass die Interraterqualität ungenügend ausfällt. In der Studie wurde der Hauptpunkt der Übereinstimmung verschiedener Gutachter-Beurteilungen nicht erfüllt. Die Studienverfasser fragen deshalb, ob es eine gesellschaftliche Diskussion über das Ausmass an gewünschter Übereinstimmung unter Gutachtern brauche [1].

Zudem sollte auch die Einordnung sogenannter psychosozialer Belastungsfaktoren nicht den Juristinnen überlassen werden aufgrund mangelnder diagnostischer Differenzierung.Sonst werden aufgefundene soziale Faktoren pauschal als Belastungsfaktoren und als IV-fremd gewertet. Belastungsfaktoren sollten zwingend unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsentwicklung und allfällig vorhandener Einschränkungen der psychischen Regulationsfähigkeit eingeschätzt werden. Dies bedarf jedoch der vertieften Kenntnis und Erfahrung in der Diagnostik und Behandlungvon Persönlichkeitsfaktoren/-störungen, wie beispielsweise die operationalisierte psychodynamische Diagnostik einen Beitrag dazu leisten kann. Nur so kann unterschieden werden, ob Belastungsfaktoren als «versicherungsfremd» und damit rentenmindernd zu gelten haben oder nicht.

Wenn die Versicherungsmedizin von der Justiz zur Ausdifferenzierung und Qualitätsverbesserung in den Rentenabklärungs-verfahren aufgefordert wird, ist dies ein wünschenswerter Prozess. Wenn stattdessenb aber die Rechtsprechung Beurteilungen im medizinischen Fachbereich vornimmt, so entstehen Unklarheit und absurde hybride Konstrukte (juristische Diagnosekategorie Päusbonog [2], der juristische Krankheitsbegriff usw.), welche nur schwer wieder korrigiert werden können.

Wird die Unschärfe gutachterlicher Einschätzungen gegenüber IV-Juristen und Sozialversicherungsgerichten nicht deklariert, wirkt sich dies gegen die IV-Antragstellerinnen aus.Es braucht weitere medizinisch-fachliche Diskussionen, eine Weiterentwicklung der gutachterlichen Qualität und eine Ausdifferenzierung der IV-Rentenabklärungsprozesse unter stärkerer Gewichtung der Behandlerbeurteilung, um Antragstellerinnen eine faire Beurteilung zukommen zu lassen.

Ende Februar 2020 ist die Meldestelle zu IV-Gutachten des Dachverbandes Behindertenorganisationen Schweiz Incusion Handicap online gegangen. Behandelnde Ärztinnen und Patientinnen können Fälle von Fehlbeurteilungen melden auf inclusion-handicap.ch
Dr. med. Maria Cerletti, Zürich
1.https://www.unispital-basel.ch/lehre-forschung/ebim-forschung-bildung/rely-studie/ergebnisse/
2. Päusbonog = pathogenetisch ätiologisch unklaresyndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbareorganische Grundlage


«Fliegende Gutachter»-eine Verteidigungsschrift?

Brief zu: Weiss M. Der deutsche Arzt als sfliegender Gutachter».Schweiz Ärzteztg. 2020:101(8):270-2.

Ich hoffe ja nicht, dass sie wirklich «ein-fliegen», aber das war nur ein Punkt, der mich beim Lesen nachdenklich gestimmt hat. Ein anderer ist, dass wir Schweizer offensichtlich nicht in der Lage sind, der grossen Nachfrage nach Gutachten mit eigenen Ressourcen zu begegnen. Eigentlich sollte ja die Nationalität der Gutachter in einem europäischen Binnenland wie der Schweiz, in dem unsere Nachbarn auch in ganz andern Disziplinen und Berufen gut vertreten sind, nicht die entscheidende Rolle spielen. In den fünf Jahren, in denen ich – nach der altersbedingten Pensionierung – bei der Suva als Versicherungsmediziner tätig sein durfte, gab es Momente,in denen ich der einzige Schweizer am Pausentisch war. Ich habe dort als Vertreter der schneidenden Zunft (das war es schliesslich,was ich kannte und bis dahin tat) auch dank ihrem Wissen und ihrer Kenntnis der schweizerischen Versicherungsmedizin sehr viel gelernt und profitiert. Nun ist es aber beim fliegenden Gutachter so, dass er/sie «besondere Kenntnisse der schweizerischen Versicherungsmedizin nicht vorzuweisen hat». Das tönt so etwas nach «learning by doing», und dabei erinnere mich an die eigenen, durchlaufenen SIM-Kurse mit Abschlussprüfung. Aber ein Gutachten sollte fundiert, umfassend,schlüssig und gnadenlos sachlich sein, denn sonst gibt es ein weiteres Gutachten (zumgleichen Fall). Ob das bei fliegenden Gutachtern bei den oben und im Artikel erwähnten Prämissen immer zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Und so tönt dieser Artikel für mich wie eine Verteidigungsschrift der gegenwärtigen Praxis im versicherungsmedizinischen Wesen in der Schweiz, ganz im Tenor «faute de mieux». Wollen wir das? Wo sind eigentlich die Schweizer?

PD Dr. med. Dominik Heim, Facharztfür Chirurgie, Lexlatrik, Luzern

PS. Anschliessend sah ich mir j’accuse, den neuen Film von Roman Polanski zur Affäre Alfred Dreyfus an. Es geht dort um das Recht des Angeklagten und um die Gerechtigkeit.Etwas, was wir mit der Versicherungsmedizin (auch) für die Patienten/Versicherten erreichen möchten. Die realen Fakten im Prozess Dreyfus erlaubten kein richtiges Happy End.Ob dies in der schweizerischen Gutachterszene so erreicht werden kann?