Bundesgericht stützt IV-Praxis

(Tages-Anzeiger)

Knapper Entscheid Geringverdiener mit stark reduzierter Leistungsfähigkeit haben weiter schlechte Chancen auf eine Invalidenrente. Zwei der fünf Bundesrichter kritisieren jedoch das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen.


Körperlich schwere Arbeiten kommen für die meisten IV-Bezüger mit gesundheitlichen Schäden am Bewegungsapparat nicht mehr infrage. Foto: Getty Images

 

Markus Brotschi

Der Fall des 58-jährigen Anlageführers, der gestern vor dem eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern behandelt wurde, ist exemplarisch für die Praxis der IV. Der Mann kann aufgrund seiner körperlichen und psychischen Einschränkungen nur noch Hilfsarbeiten verrichten: «einfach strukturierte, sehr leichte und wechselbelastende Tätigkeiten», wie es im IV-Entscheid heisst. Dafür soll der Mann aufgerechnet auf ein Vollzeitpensum jährlich 67’766 Franken verdienen können, was nach Ansicht seines Anwalts kaum realistisch ist. Denn das sind nur gerade 2 Prozent weniger als in seinem früheren Beruf als Anlageführer. Unter Berücksichtigung einer 40-pro zentigen Arbeitsunfähigkeit ergibt das für den auf einem Auge blinden Mann mit Schäden am Bewegungsapparat einen Invaliditätsgrad von 47 Prozent, was lediglich zu einer Viertelsrente berechtigt.

Behindertenverbände erhofften sich nun vom Bundesgericht ein Grundsatzurteil und eine Korrektur der IV-Praxis. Diese ist seit Jahren umstritten. Das Problem liegt in den Annahmen der IV für das Einkommen, welches die gesundheitlich beeinträchtigte Person noch erzielen kann. Dieses theoretische Invalideneinkommen ist häufig unrealistisch hoch, insbesondere für leichte Hilfsarbeiten. Viele Versicherte erhalten keine Rente, weil die IV unterstellt, sie könnten trotz starker gesundheitlicher Einschränkungen eine gut bezahlte Arbeit finden.

Die Argumente der Richter

Das Bundesgericht kam jedoch nach vierstündiger öffentlicher Beratung zum Schluss, dass es die geltende Rechtspraxis nicht ändern will. Das fünfköpfige Gremium lehnte mit drei zu zwei Stimmen die Beschwerde ab, mit der der 58-Jährige eine halbe statt der ihm seit November 2018 gewährten Viertelsrente verlangte. Dazu hätte bei der Berechnung des Invalidenlohns nicht wie üblich der statistische Medianlohn verwendet werden dürfen. Der Anwalt verlangte, dass das Bundesgericht sich auf das unterste Viertel der Löhne stützt, die das Bundesamt für Statistik in seiner Erhebung für die jeweiligen Berufsgruppen beizieht.

Es gebe keinen Grund, von der über 20-jährigen Praxis abzurücken, argumentierte Bundesrichter Marcel Maillard. Die neuen Studien, auf welche die Beschwerdepartei verweise, brächten keine wirklich neuen Erkenntnisse. Zudem sei seit Anfang 2022 eine IV-Reform in Kraft. Da der vorliegende Fall noch nach altem Recht beurteilt werde, könnten in dieser Über-gangsphase nicht die Spielregeln geändert werden.

Maillard verwies zudem dar- auf, dass die IV einen sogenannten Leidensabzug von maximal 25 Prozent auf dem Invaliden einkommen machen könne, um spezifische Nachteile des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen.

Dem widersprach Gerichtspräsident Martin Wirthlin. Der Leidensabzug habe seine Korrekturfunktion längstens verloren. Ihm seien kaum Fälle bekannt, in denen die IV diesen Abzug voll gewähre. Auch beim Beschwerdeführer setzte die IV diesen bei 10 Prozent fest, obwohl für den Mann nur gering belastende Arbeit möglich ist und er lediglich über eine Grundschulbildung in Kosovo und keine Berufsbildung verfügt.

Beschwerde in Strassburg?

Dass beim Leidensabzug in der heutigen Praxis das fortgeschrittene Alter nicht berücksichtigt werde, verstosse gegen Bundesrecht, sagte Wirthlin. Er beantragte deshalb, den Leidensabzug auf 15 Prozent festzulegen, womit der Mann rechnerisch Anspruch auf eine halbe IV-Rente gehabt hätte. Unterstützt wurde Wirthlin von einem Richterkollegen. Maillard sowie die beiden anderen Bundesrichterinnen lehnten jedoch den höheren Leidensabzug ab. Die Höhe des Abzugs sei ein Ermessensentscheid. Das Bundesgericht dürfe die Vorinstanz nur korrigieren, wenn diese den Abzug rechtsmissbräuchlich oder willkürlich festgelegt habe.

Für viele Behinderte sei das In- valideneinkommen auf dem realen Arbeitsmarkt unerreichbar, ergänzte hingegen Wirthlin. Insbesondere das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) müsse nun «mit Energie» die Anwendung der BSV-Lohntabellen überprüfen, sagte er. Die Mehrheit des Gerichts stützte hingegen das Vorgehen des Bundesrates und des BSV, welches zwar eine Überprüfung der Praxis in Aussicht stellte, sich dafür allerdings bis fünf Jahre Zeit lassen will.

Der Anwalt zeigte sich vom Urteil enttäuscht und prüft einen Weiterzug an den Europäischen Gerichtshof in Strassburg. Als Lichtblick sieht der Anwalt die Kritik an der heutigen IV- Praxis, die von Wirthlin und einem weiteren Richter geäussert wurde. Zudem hofft er, dass das Bundesgericht bei der künftigen Beurteilung eines Falls unter dem seit 2022 geltenden Recht doch eine Korrektur der Berechnung des Invalidenlohns verlangen wird.

Kommentar
Nun muss das Parlament die Diskriminierung beenden

Die heutige IV-Praxis zur Ermittlung eines Rentenanspruchs benachteiligt vor allem Versicherte mit kleinen Einkommen. Denn häufig kommt die Invalidenversicherung (IV) zum Schluss, dass trotz gesundheitlichem Leiden am Bewegungsapparat noch eine Hilfsarbeit mit einem Monatslohn von über 5000 Franken möglich ist.

Dass der reale Arbeitsmarkt nicht den fiktiven Vorstellungen der IV entspricht, kümmert das Bundesamt wenig.

In einem solchen Fall haben die Betroffenen schlechte Karten. Denn einerseits bekommen sie keine oder nur eine minimale Rente, weil sie nach Ansicht der IV in einem angepassten Job fast gleich viel verdienen wie als Gesunde. Und andererseits gibt es auf dem realen Arbeitsmarkt immer weniger Hilfsjobs für gesundheitlich Angeschlagene, und schon gar nicht zu solchen Löhnen. Doch dass der reale Arbeitsmarkt nicht den fiktiven Vorstellungen der IV entspricht, kümmert das zuständige Bundesamt für Sozialversiche-rungen (BSV) wenig. Und dies, obwohl mehrere Studien den Missstand ausführlich dokumentieren und Sozialpolitiker des Nationalrats von SP bis SVP eine Korrektur verlangt haben.

Die Behindertenverbände haben deshalb auf das Bundesgericht gezählt. Doch auch dieses sieht sich nicht zuständig, um der IV realistischere Lohnvorgaben für gesundheitlich Angeschlagene zu machen. Das Gericht begründet seine Zurückhaltung unter anderem damit, dass auf Anfang Jahr eine IV-Reform in Kraft getreten ist. Mit dieser hat das BSV die geltende Praxis allerdings für weitere Jahre zementiert.

Deshalb ist nun die Politik gefordert. Das Parlament muss Bundesrat Alain Berset und sein BSV zu einer realistischen und fairen Rentenformel zwingen. Denn heute zahlen wir alle in eine Sozialversicherung ein, die ihren Zweck nur mehr teilweise erfüllt. Tausende von gesundheitlich Angeschlagenen werden an die Sozialhilfe verwiesen, weil sie von der IV keine Rente erhalten.

Die IV wurde vor 20 Jahren von Bundesrat und Parlament zum Sparen gezwungen, weil sie zuvor allzu grosszügig Renten zugesprochen hatte. Nun muss die Politik die nötigen Korrekturen anbringen, auch wenn das etwas kostet.


1Markus Brotschi

 


So wird der Invaliditätsgrad berechnet

Wer gesundheitlich stark angeschlagen ist, kann seine angestammte Arbeit häufig nicht mehr ausüben. Trotzdem bekommen viele der Betroffenen keine Invalidenrente, weil die IV eine umstrittene Berechnungsmethode anwendet. Für die IV entscheidend ist der Invaliditätsgrad, welcher für eine Rente mindestens 40 Prozent und für eine Umschulung mindestens 20 Prozent betragen muss.

Viele Arbeitnehmende mit gesundheitlichen Einschränkungen fallen unter diese Grenzen, weil zur Berechnung des IV- Grads das frühere Einkommen mit einem fiktiven Invalideneinkommen verglichen wird, das die Betroffenen laut IV trotz Behinderung erzielen könnten. Für das tiefste Kompetenzniveau geht die IV bei Männern von 5417 Franken Monatslohn aus, bei Frauen von 4371 Franken. Damit fällt für Gering- und Normalverdiener die errechnete Lohneinbusse gegenüber dem früheren Job oft zu klein aus, als dass sie eine Rente erhielten. Stossend daran ist, dass das fiktive Einkommen auf dem realen Arbeitsmarkt insbesondere für einfache Hilfsarbeiten kaum bezahlt wird.

Die IV stützt sich beim Invalideneinkommen auf die Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik. Es handelt sich dabei um die mittleren statistischen Löhne von gesunden Arbeitnehmern, aufgeschlüsselt nach Kompetenzanforderungen. Allerdings sind diese Löhne gerade für einfache Hilfsarbeiten überzeichnet, da darin auch die Gehälter der Baubranche enthalten sind, wo für körperlich anstrengende Arbeiten mit geringen Anforderungen oft gute Löhne bezahlt werden. Das zieht das statistische Einkommen in die Höhe. Nur: Hilfsarbeiten auf dem Bau eignen sich kaum für die IV-Klienten. (br)