Gemeinde bremst Rollstuhlfahrerin aus

(Beobachter)

GLEICHSTELLUNG.Eine Rentnerin wartet seit Jahren auf denbehindertengerechten Zugang zu ihrem Zu hause.Doch ihre Gemeinde ergreift immer neue Massnahmen dagegen


Ursula Saller und ihr Mann Reinhard:
Die Rentnerin kann auch kurze Strecken kaum ohne Rollstuhl bewältigen

 

Wer wie Ursula Saller auf einen Rollstuhl angewiesenist,weiss:Wiese, Schotter und Rollstühle vertragen sich schlecht.Sie und ihr Mann Reinhard suchten deshalb eine behindertengerechte Eigentumswohnung.

Fündig wurde das Paar 2015 ineinem Neubauquartier in Scherzingen in der Thurgauer Gemeinde Münsterlingen.Gleich neben dem Wohnhaus führte ein geteertes Strässchen hoch zur Hauptstrasse.Diese Flurstrasse würde man bequem über einen Fussweg erreichen,den der von der Gemeinde bewilligte Umgebungsplan vorsah.

Dieses Projekt war von der Pro Infirmis gutgeheissen worden,die Pläne entsprachen den Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes. Dienstbarkeiten und öffentliches Wegrecht für die Flurstrasse sind im Grundbuch eingetragen.Alles schien perfekt. Doch das sollte sich schnell ändern.

1.Akt:Die geänderten Pläne

Nach dem Einzug der Sallers 2016 teilte die Baufirma mit,der Umgebungsplan habe sich geändert.Die Gemeinde wolle die Flurstrasse aufheben.Das mache den geplanten Fussweg überflüssig,man verzichte auf den Bau. «Die Planänderungen waren nie öffentlich aufgelegt worden,wir hatten keine Chance,dagegen Einsprache zu erheben»,sagt Reinhard Saller heute.Ob das Vorgehender Gemeinde rechtens war,darüber brütet der Rechtsdienst desThurgauer Departements für Bau und Umwelt nunmehr seit zweieinhalb Jahren.
Jedenfalls rissen kurz darauf Bagger den Teer vonder Flurstrasse,hoben das Kiesbett aus und füllten das Strässchen mit Humus. Auf Anfrage des Beobachters sagt Gemeinde präsident Renö Walther,die Massnahme sei «Bestandteil des Gestaltungs-und Erschliessungsplans aufgrund historischer Erfahrungen»gewesen,der Feldweg kaputt und für die Bauerschliess ungunbrauchbar. Nur wenige Wochen nach dem Aufheben der Flurstrasse krebste die Gemeinde zurück. Feuerwehr,Landwirtschaft und das Elektrizitätswerk würden die Strasse benötigen.Der Humus kam wieder raus und der Schotter rein. Nur geteert wurde nicht mehr.

2.Akt:Der Zaun

Wenig später kündigte die Gemeinde an,sie werde entlang der Flurstrasse einen Zaun errichten -was den Zugang vom Wohnhaus über den geplanten Fussweg zur Flurstrasse verunmöglicht hätte.Anwohner und ein Landwirt hätten «Missstände moniert»,begründet Gemeindepräsiden tWalther diesen Schritt.Gebaut wurde der Zaun dann doch nicht.Die Erklärung des Gemeindepräsidenten:«Privatrechtliche Differenzen wurden erkannt und die gutgläubige Absicht des Gemeinderats überprüft.»

3.Akt:Das Trottoir

Darauf fasste die Gemeinde den Plan,ander Einmündung der Flurstrasse in die Hauptstrasse ein Stück Trottoir abzureissen.Nach einem kurzen juristischen Hickhack mit Anwohnern liess man dieses Vorhaben wieder fallen. Ursula Saller nützte das nichts.Den Fussweg zur Flurstrasse gibt es noch immer nicht. Sie wartet seit vier Jahre nauf eine Lösung.Der Weg von ihrer Wohnung zur Hauptstrasse führt mit dem Lift in die Tief garage und dann über die eigentliche Erschliessungsstrasse zur Hauptstrasse:eine lange Strecke über eine unübersichtliche Kurve mit zehn Prozent Steigung und ohne Trottoir.Gemäss Behindertengleichstellungsgesetz sind nur sechs Prozent Steigung erlaubt.Vor allem aber:«Das ist gefährlich,da ich ja auf der Fahrbahn fahren muss.Und im Winter,wenn die Strasse vereist ist,ist es schlicht unmöglich»,sagt Seller.

4.Akt:Die neue Baueingabe

Frühling 2020.Die Firma,die die Überbauung erstellthatte,erklärte sich nun doch bereit,den Fussweg zur Flurstrasse wie geplant und bewilligt zu bauen.Doch nun klagten zwei Wohnparteien,an deren Gartensitzplätzen der Weg vorbeiführen wird,dagegen-obwohl sie wie alle anderen vor dem Kauf ihrer Wohnungen noch ihre Zustimmung gegeben hatten. Das Bezirksgericht Kreuzlingen wies diese Klage im September2020 zurück.Trotzdem verlangte die Gemeinde eine neue Baueingabe für den bereits bewilligten Fussweg.Die Bewilligung hat sie bis heute nicht erteilt-mit Verweis auf den ausstehenden Entscheid des kantonalen Baudepartements.


Nachträglich geändert: Auf dem von der Gemeinde bewilligten Umgebungsplan war der Fussweg von Anfang an eingeplant

 

5.Akt:Die Rüge des Baudepartements

Der Entscheid traf kurz vor Drucklegung dieser Beobachter-Ausgabe ein-er ist noch nicht rechtskräftig.Darin kritisiert das kantonale Baudepartement die Gemeinde unüblich heftig:Sie habe kein ordentliches Verfahren durchgeführt,ihr Vorgehen stelle eine Verweigerung des rechtlich geschützten Gehörs dar. Der zweite Umgebungsplan sei deshalb formell rechtswidrig,für ihn liege auch keine rechtsgültige Baubewilligung vor. Kurz:Der ursprüngliche Plan von 2015 gilt. «Ich freue mich sehr,dass der Entscheid endlich da ist.Hoffentlich gehts jetzt vorwärts und unser Haus wird bald behindertengerecht erschlossen>«,sagt Ursula Saller dazu. Und wie teuer waren die Leerläufe?Abriss und teilweiser Wiederaufbau der Flurstrasse kosteten laut Gemeindepräsident Walther 15000 Franken.Auf wie viel sich die Anwaltskosten belaufen,wollte er nicht sagen.

TEXT:ANDREA HAEFELY-FOTOS:PASCAL MORA