Ihre Freiheit ist akut gefährdet

(Tages-Anzeiger)

Wohngemeinschaften von Behinderten Das eigenständige Leben in einer WG bedeutet Peter Buri viel.Doch weil ihm und seinem Wohnpartner die finanzielle Unterstützung gekürzt wird,droht die Auflösung des Haushalts in Ostermundigen BE.

Markus Brotschi


Eishockey ist die gemeinsame Leidenschaft der beiden WG-Bewohner Peter Buri(links)und Thomas Bertolosi.Foto:Markus Schneeber

 

Als Peter Buri vor acht Jahren aus dem Wohnheim Rossfeld in Bern in eine WG im Vorort Ostermundigen zog,war das für den damals 26-Jährigen ein grosser und mutiger Schritt.Mit der Hilfe einer von der IV finanzierten Pflegeassistenz wurde für ihn und seinen Wohnpartner ein selbstverantwortliches Leben möglich.

Rund 100’000 Franken hat die IV für den Umbau der Fünfeinhalbzimmerwohnung zu einer behindertengerechten Viereinhalbzimmerwohnung bezahlt. Möglicherweise muss die Invalidenversicherung aber schon bald mehrere 10’000 Franken für den Rückbau der Wohnung aufwerfen.Denn ein neues Berechnungsmodell der Ergänzungsleistungen(EL)gefährdet die Wohngemeinschaft von Peter Buri und Thomas Bertolosi.

Buri leidet wie sein WohnPartner an der progressiven Muskeldystrophie Duchenne,einer Erbkrankheit.Die Muskeln bilden sich dabei bereits im Kindesalter stetig zurück.Ein Alltagsleben ohne Unterstützung ist für beide seit langem undenkbar.

Bis zu seinem sechsten Lebensjahr konnte Peter Buri noch normal gehen,heute vermag er Arme und Beine kaum noch zu bewegen.Er braucht Atemunterstützung und einen Elektrorollstuhl.Haus-und Balkontür der Wohnung lassen sich mit dem Handy ferngesteuert öffnen.Tag und Nacht ist eine Assistenzperson in der Wohnung,die die beiden unterstützt,ihnen bei der Körperpflege und beim Ankleiden hilft,die kocht,putzt,sie am Abend ins Bett bringt und sie am Morgen wieder in denRollstuhl setzt.

Die Nachtassistenz ist lebenswichtig

In der Nacht muss die Assistenzperson da sein,falls ein Beatmungsgerät ausfällt oder die bei den sonst etwas brauchen.Während des Tages kann Buri zur Not noch für eine gewisse Zeit ohne externe Atemunterstützung sein. In der Nacht, wenn er liegt,ist das Beatmungsgerät lebenswichtig. Beide haben Alarmknöpfe in ihren Schlafzimmern.Vier-bis sechsmal wird die Assistenzperson pro Nacht von den beiden gerufen.Die extern zugeführte Atemluft trocknet die Schleimhäute starkaus,sodass Buri nachts mehrmals abhusten muss.

Damit die beiden ausserhalb eines Behindertenheims leben können,waren ander Wohnung beträchtliche Anpassungen nötig.Eine Wand wurde herausgerissen,damit ein grosses rollstuhlgängiges Wohnzimmer mit Büroarbeitsplatz entsteht.Die Türen wurden mit elektrischer Öffnungsmechanik ausgerüstet, der Lift des Wohntrakts angepasst, Badezimmer und WC miteinander verbunden,der Boden im Bad durch gehend wasserdicht versiegelt.Auch die Küche wurde auf die Bedürfnisse der beiden Männer eingerichtet.

Bisher erhielten die beiden je 1400 Franken an Wohnkostenbeiträgen,womit sie den monatlichen Mietzins mit Nebenkosten von 2790 Franken gerade decken konnten.Künftig aber bekommen sie je 360 Franken weniger im Monat,weil die EL die Wohnbeiträge anders berechnet. «Für uns ist das relativ viel Geld», sagt Buri.

Das Paradoxe an der Neuberechnung der EL-Wohnbeiträge ist, dass sie WG-Bewohner schlechter behandelt als Einzelwohnende und damit sogar noch Mehrkosten verursacht.Ein Schildbürgerstreich.WGs wurden bei der Reform schlicht vergessen.

Wohngemeinschaften werden mit der Gesetzesänderung von 2021 wie Ehe-und Konkubinatspaare behandelt,die sich ein Schlafzimmer teilen können und für die eine Dreizimmerwohnung ausreicht.Der Rollstuhlzuschlag wird zudem nur noch pro Wohnung und nicht mehr pro Person entrichtet.Buri und Bertolosi könnten sich mit den neuen Ansätzen zusammen zwar eine rollstuhlgängige Dreizimmerwohnung leisten,in der jeder sein eigenes Zimmer hat.

Wichtige Rolle der Assistenzperson

Doch sie brauchen zwingend ein drittes Schlafzimmer für die Nachtassistenz.Das ist arbeitsrechtlich vorgeschrieben.«Und es ist auch nicht zumutbar,dass diese Assistenzperson im Wohnzimmer auf dem Sofa schläft.Genau sowie Thomas und ich einen Rückzugsraum benötigen, braucht auch die Assistenzperson einen solchen»,sagt Buri.

Falls künftig jeder für sich eine Wohnung mieten würde,erhielte jeder einen Wohnbeitrag von 1870 Franken pro Monat,womit sie sich je eine rollstuhlgängige Dreizimmerwohnung leisten könnten,in der die Assistenzperson ein Zimmer für sich hätte. Doch Peter Buri möchte die WG nicht auflösen.

Er und sein Wohnpartner bilden auch eine Art Schicksalsgemeinschaft,können sich austauschen und Freizeitinteressen teilen.Sie schauen sich zusammen Hockeyspiele und Filme an oder hören Metal-und Rock musik. Besonders froh war Buri um seinen Wohnpartner während der Pandemie.Da beide Hochrisikopatienten sind,konnten sie kaum noch Besuch empfangen.

Die Assistenzperson leistetihnen zwar auch Gesellschaft,aber letztlich handelt es sich um ein Arbeitsverhältnis.Die beiden suchen die Assistenz personen auf Vermittlungsplattformen,stellen sie an und bezahlen sie.Von der IV erhalten sie den festgelegten. Stundenansatz von 33.50 Franken vergütet.Für die Nachtassistenz erstattet die IV pauschal 160.50 Franken pro Nacht.

Ziehen Buri und Bertolosi in eigene Wohnungen,entstehen der EL höhere Wohnkosten als in der WG.Aber auch die IV fährt schlechter,weil dann jeder für sich eine Assistenzperson braucht und eine angepasste Wohnung, statt sie wie bisher teilen zu können.Buri,der politisch in der SP aktiv ist,bezeichnet die EL-Reformal seine «bürgerliche Idiotie».Geradezu grotesk sei es,dass der IV bei einem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung horrende Rückbaukosten entstünden und zusätzlich noch Umbaukosten in den neuen Wohnungen.

Inder Schweiz gibt es rund 400 Menschen mit Behinderung, die auf EL und eine Nachtassistenz angewiesen sind.Ein grosser Teil dürfte in Wohngemeinschaften leben,sagt Alex Fischer von der Behindertenorganisation Procap.Falls diese alle in eine Einzelwohnung ziehen würden oder gar in Behindertenheime, entstünden für EL und IV Kosten in Millionenhöhe.

Der Fehler muss im Parlament korrigiert werden

Da sei dem Parlament tatsächlich ein Fehler unterlaufen,sagt Erich Ettlin,Präsident der ständerätlichen Sozialkommission. Die EL-Reform sei sehr komplex gewesen,und bei den WGs mit Assistenzzimmer handle es sich um einen Spezialfall.Nun müsse geprüft werden,wie der Fehler korrigiert werden könne,sagt der Mitte Politiker.Dass eine Korrektur nötig sei,sei offensichtlich,denn die Auflösung solcher Wohngemeinschaften sei nicht sinnvoll,nur schon weil dies Mehrkosten verursache.

In einer Übergangszeit bis Ende 2023 erhalten Buri und Bertolosi noch den höheren Wohnkostenbeitrag,obwohl die EL-Reformbereits 2021 in Kraft trat. Falls sie die WG behalten,werden die beiden den ab 2024 fehlenden Betrag mit der Hilflosenentschädigung oder dem Geld für den Grundbedarf decken müssen.Das wird einen Verzicht bei anderen Ausgaben erfordern.

Peter Buri nennt Freizeitvergnügen wie die Meisterschafts spieledesSCB.Mit grosser Freude besuchen die beiden zusammen Rockkonzerte,etwa das Greenfield-Festival in Interlaken. Für den Besuch solcher Anlässe müssen sie sich nicht nur die Tickets leisten können,sondern auch die Fahrt mit dem Behindertentaxi.Zurzeit kann Buri sich zudem noche in kleines Zusatzeinkommen verdienen.Als selbstständiger Bürodienstleister macht er für einige über forderte Eltern von Kindern mit Autismus die Lohnbuchhaltung.

Buri möchte sich künftig politisch stärker engagieren,unter anderem um auf die Rechte und die Situation von Menschen mit Behinderungen aufmerksam zu machen.Für das Gemeindeparlament in Ostermundigen hat er bereits einmal kandidiert, schaffte die Wahl aber nicht.Sein Traum wäre ein Sitz im Grossen Rat oder sogar im Nationalrat,wo mit Christian Lohr nur ein Rollstuhlfahrer vertreten sei.

Um die Benachteiligung von behinderten Menschen in einer WG zu beseitigen,macht Buri auch gleich einen Vorschlag:Wer auf eine Nachtassistenz angewiesen sei,sollte einen Zuschlag erhalten,um sich ein zusätzliches Zimmer leisten zu können. Das ist allerdings erst Schritt zwei.Schritt eins:die eigene Wohnung behalten.


Die Reform der Ergänzungsleistungen

Mit der EL-Reform wurde ein Systemwechsel bei den Wohnbeiträgen vorgenommen.Zwar wurden diese erhöht-für Allein- wohnende und für Ehepaare. Allerdings werden Wohngemeinschaften mit zwei Personen neu wie Ehepaare behandelt.Ein Ehepaar erhält in der Wohnregion zwei(Agglomerationen)monatlich maximal 1575 Franken.In der Zweier WG bekommt somit jede Person die Hälfte,also 787.50 Franken. Bisher waren es 1100 Franken.

Für WG-Bewohner,die auf eine rollstuhlgängige Wohnung angewiesen sind,bringt die EL-Reform ebenfalls eine Verschlechterung. Bisher erhielt jede Person einen Zuschlag von 300 Franken,neu beträgt der Rollstuhlzuschlag 500 Franken pro Wohnung.Mit der EL-Reform von 2021 wurde eine Vielzahl von Bereichen neu geregelt.Bereits einmal musste das Parlament die 2021 in Kraft getretene EL-Reform korrigieren. Denn vergessen wurden Gross-WGs von fünf und mehr Personen.(bro)