Interview mit Christian Lohr

(Faire Face)

Herr Lohr, Sie sind seit 8 Jahren Mitglied des Nationalrates. Am 20. Oktober 2019 wurden Sie für eine dritte Amtszeit gewâhlt. Sie ermutigen Menschen mit Behinderungen, sich in der Gesellschaft zu behauptenund ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Menschen mit Behinderungen stehen aber immer noch vor vielen Hindernissen.Die Personen stellen die Wirksamkeit der Rechte für Menschen mit Behinderungenin Frage, wâhrend diese sich in unserem Land ohne angemessene Rechtsgrundlage nur schwer etablieren können. Die Betroffenen haben oft das Gefühl, dass sie für die Gleichstellung betteln müssen. Gemâssder UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) gibt es jedoch Grundrechte.Nehmen wir das Recht auf Beteiligung, um die Gesetze zu definieren, die sie betreffen:Das Prinzip «Nichts über und ohne uns» wird in der Gesetzgebung oft nicht beachtet. Auch in der von der UNO, im November,publizierten «List of Issues» zur BRK wird die Schweiz aufgefordert, die «verfügbaren Mechanismen sowie die auf Bundes-,Kantons- und Gemeindeebene verfügbarenpersonellen und finanziellen Ressourcen für eine sinnvolle Konsultation von Menschen mit Behinderungen (…), betreffend der Gestaltung und Überwachung von Gesetzen und Politiken zur Umsetzung der Konvention» aufzuzeigen.


Christian Lohr

 

C. L.: Für mich ist es ein absolutes Grundverstândnis, dass man aile Gesetze, die man macht, mit Menschen bespricht, die sie betreffen. Wennwir z.B. ein Landwirtschaftsgesetz machen, dass wir mit Landwirten, mit Bauern sprechen; wenn wir ganze Gesetzgebungen über Klimawandel machen, dass wir mit Fachexperten aus dem Energiebereich sprechen; wenn wir Gesetze über Lebensmittel erarbeiten, gibt man das in Vernehmlassungen bei entsprechenden Gruppen. Egal, wo wir Gesetze machen, ist dies selbstverstândlich, damit man abschâtzen kann, was das Gesetz bewirken wird. Es kommt aber beim Thema Behinderung von einer Fürsorgegrundeinstellung her, die immer noch verbreitet ist: Man behauptet, man wisse,was für Menschen mit Behinderung gut sei. Es ist ein Ansatz, der nicht mehr zeitgemâss ist. Die UNO-BRK sagt klar, man solle Menschen mit Behinderung miteinbeziehen. Ich habe vor einigen Jahren einen Vorstoss gemacht, indem ich klar gefordert habe, dass keine Gesetze gemacht werden, ohne mit den Betroffenen zu sprechen. Es hat schon ein bisschen gebessert. Wir Menschen mit Behinderungen werden mittels unserer Or-ganisationen schon ôfters in Vernehmlassungen miteinbezogen.Dass es aber noch nicht immer der Fall ist, hat verschiedene Gründe: Man hôrt oft in der Gesetzgebung, dass die Forderungen manchmal zu weit gehen, dass man individuelle Lôsungen finden muss. Man wünscht nur mit einzelnen Organisationen zu sprechen. Da bin ich nicht sicher, ob die ganze Breite an Bedürfnissen vernünftig abgedeckt ist. Es wird so gehandhabt,um die Komplexitât zu verringern.

Manchmal habe ich auch das Gefühl,dass man auf Verwaltungsebene meint,Menschen mit Behinderungen seien kompliziert, wollen sehr ins Detail gehen. Das liegt aber am Thema. Das Thema Behinderung ist komplex. Man kann nicht eine Schublade aufmachen, ein Formular rausnehmen und sagen, aile Menschen sind so oder alle Menschen sind so, sondern jeder Mensch und seine Lebenssituation sind einzigartig.

Das Problem ist, dass das Thema der Menschen mit Behinderungheute viel zu fest in der Sozialpolitik verankert ist. Wir haben mit Menschen zu tun, also mit der Gesellschaft. Das Thema sollte viel mehr in den gesellschaftlichen Themen diskutiert werden. Wenn man sich mit dem Thema Behinderungbeschâftigt, denken viele Leute an Probleme, an Fâlle, an Zahlen. Dabei geht es in erster Linie um Menschen.Ich höre oft, wir wollen politische Partizipation. Ich weiss nicht, was gemeint ist.In unserem System muss man gewâhlt werden. Hierfür muss man sich in der Gemeinde einbringen und mitgestalten. Wir leben alle in einer Gemeinde, wir könen uns dort einbringen, in der Kultur, im Sport, es gibt so viele Möglichkeiten. Das ist, was wir, Menschen mit Behinderungen,wahrnehmen müssen. Das Fordern reicht nicht. Den Weg sollen wir mitgestalten. Ich sage ganz bewusst, es muss von unten her passieren. Natürlich ist die Politik wichtig und ich weiss, dass ich da meine spezielle Rolle und Aufgabe habe und auch wahrnehmen möchte – ich muss Klare Worte bringen, Klare Botschaften. Aber die Partizipation muss viel stàrker von unten, vomIndividuum kommen.

«It’s all about attitudes»

Faire Face: Dafür spielt die individuelle Haltung eine grosse Rolle. Was ist Ihrheimnis? Wieso hôrt man auf Sie?

C.L.: It’s all about attitudes. Ich erlebe heute, dass man auf mich hört. Das freut mich auf der einen Seite, auf der anderen Seite musste ich es mir erarbeiten. Dabei versuche ich immer klar, authentisch und ehrlich zu sein.Es bedeutet, dass man in der Politik sagen muss, was geht und was nicht geht. Manchmal muss ich Behindertenorganisationen sagen, dass etwas nicht môglich ist. Zwar nicht, weil ich gegen sie bin, sondern weil ich gezwungen bin, realistisch zu sein, das Machbare zu sehen und daraus eine Strategie zu entwickeln.

Ich habe eine Gesprâchskultur, indem ich eher versuche, mich mit anderen Menschen auszutauschen, als dass ich immer mit einem Banner winke und sage «ich fordere, ich fordere, ich fordere».die Diskussionskultur braucht es Geduld. Ich verstehe auch sehr die Ungeduld einzelner Menschen und Organisationen.

«Inklusion ist ein Weg, und nicht ein Ergebnis»

Das Produkt entsteht dann mit der Glaubwùrdigkeit, die wir ausstrahlen und erarbeitet haben. Manchmal geht es gar nicht um die Gesetze, sondem um die Sensibilisierung, um das Verstehen, es geht um Empathie.Menschenverstand ist wichtig …gegenseitig. Natürlich werden in den Gruppenarbeiten des Parlaments Experten miteinbezogen. Organisationen für und mit Behinderten geheiren dazu. Aber wenn manchmal drei verschiedene Organisationen das Interesse der gleichen Gruppe vertreten und mit unterschiedlichen Meinungen kommen, dann bitte ich sie, sich zuerst zu einigen. Das ist auch mit einer der Gründe, warum die Organisationen manchmal übergangen werden.

Faire Face:Meist sind private Anbieter von Transport-Dienstleistungen besser für die selbststândige Nutzung durch Menschen mit einer Beeintrâchtigung ausgestattet (Stâdtische Verkehrsbetriebe Bern, BLS, div. Bergbahnen) als die staatliche SBB. Bahnhöfe und Haltestellen (Bus, Bahn) sind eine Angelegenheit von Kantonen und Gemeinden. In diesen Kôrperschaften fehlen aber die gesetzlichen Grundlagen zum Erzwingen der Barrierefreiheit. Es ist eine Forderung der Konvention, sie ist aber zeitlich nicht definiert. Es gibt viele Meiglichkeiten, sich herauszureden. Wie kann die Bundespolitik auf die Behindertengleichstellung auf Kantonsebene einwirken? Wie kônnen wir (die Behindertenorganisationen)die Politik unterstiitzen?

C.L.: Auch da geht es darum, in einen Dialog einzusteigen. Gesetze sind gut und recht. In Basel, wo das kantonale Gesetz für die Gleichstellung sofortgeschritten ist, sind die ÖV aber beispielsweise bei weitem noch nicht optimal Wenn wir Prozesse führen wollen, ist es komplex, es ist teuer und ich weiss nicht, ob wir damit wirklich die gewünschten Ziele erreichen.

Ich sehe eher den Weg des strukturierten Gesprâchs mit den Kantonen. Das Gesprâch mit Regierungsrâten, mit Parlamentariern ist zu suchen. Das ist der erste notwendige Schritt. Es gibt keinen zweiten Schritt ohne ersten Schritt. Manmuss auch klar sehen, dass Menschen mit Behinderung zu wenig Lobby haben, obgleich Menschen mit einer Behinderung 2o% der Bevölkerung ausmachen. Wenn 2o% (Betroffene) und, sagen wir, 15 bis 2o% Sympathie-Mitbringer direkt abstimmen würden, würde jede Abstimmung durchkommen. Wir wissen aber, dass es nicht so funktioniert. Die Gleichstellung kann durch stârkere Lobby funktionieren. Ich denke, man muss seine Rechte, seine Mög-lichkeiten «verkaufen» – es ist zwar kein schônes Wort – man muss seine Rechte aber aufzeigen kônnen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Menschen mit Behinderung einen Mehrwert für die Gesellschaft bringen. Das muss man aber herauszeichnen können.

«Die Organisationen sollen die Lobbyarbeit verstârken, sie ist für mich zu wenig stark, um Druck auf die politische Ebene zu auszuüben.»

Es braucht aber natürlich den politischen Willen, um zum Beispiel einen Beauftragten für Behinderungsfragen in einer Gemeinde einzustellen. Wenn wir, als Menschen mit Behinderung, eine Diskussionskultur anwenden, indem wir die Notwendigkeiten aufzeigen, dann bin ich überzeugt, dass man besser auf uns hôrt.

In der Wahl der Bereiche, die anzugehen sind, sehe ich Prioritäten. Wichtig sind für mich die Wohn-, Arbeits- und Bildungsbedingungen und weniger das Rententhema für die Integration der Menschen mit Behinderung. Die Integration kommt durch die Verbesserung dieser Themen und mit diesen menschlichen Themen sind Politik und Gesellschaft grundsâtzlich offener. Die BehiG soll nicht Behinderungspolitik sein, sondern Gesellschaftspolitik. Wie wir Menschen miteinander leben, gehôrt nicht zur Sozialpolitik, sondern zur Gesellschaftspolitik.

Faire Face:
Auf welcher Stufe befindet sich die Diskussion in der schweizerischen Politik über das Thema Behinderung? Wie gross ist der Platz für die Diskussion?

C.L.: Es gibt Leute in der Kommission, die dafür sehr offen sind, weitere haben ihre anderen Themen. Schauen wir mit dem neuen Parlament, wie das Thema aufgenommen wird. Ich bin zuversichtlich, dass wir in verschiedenen Fragen weiterkommen werden.

Die Fragen stellte Florence Montellier,
Kommunikationsbeauftragte ASPr-SVG


Christian Lohr