IV-Rentenanspruch bei Suchterkrankung

(Sozial Aktuell)

Das Bundesgericht hat seine bisherige Rechtsprechung in einem Leitentscheid geändert: Menschen mit einer Suchterkrankung können unter Umständen aufgrund ihrer Abhängigkeit eine IV-Rente erhalten.
Ursula Christen, Dozentin FH für Soziale Arbeit, und Stefanie Kurt, Assistenzprofessorin FH für Soziale Arbeit

Bisher erhielten Suchtkranke nur danneine IV-Rente, wenn die Abhängigkeit aufgrund einer anderenprimärenKrankheit (z. B. einer Persönlichkeits-störung) entstanden war. Eine wegen Grobfahrlässigkeit gekürzte Rente erhielten sie, wenn durch Folgeschäden andere Krankheiten vorlagen, die die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigten. Die Sucht selbst wurde als selbstverschuldet und durch Willensanstrengung überwindbar betrachtet.

Ein 44-jähriger Mann, abhängig von Heroin und Schlafmitteln, hat gegen diese Sichtweise gekämpft. Sowohl die IV-Stelle wie auch das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hatten eine Leistungspflicht der IV verneint. Das Bundesgericht hat nun seine eigene langjährige Rechtsprechung zu Sucht revidiert und folgt in seinem Urteil‘ der medizinischen Sichtweise. Nach aktueller psychiatrischer Auffassung (sowohlnach ICD2 wie auch nach DSM3) gelten Suchterkrankungen als psychische Störungen. Abstinenzorientierung ist nicht immer ein realistisches Behandlungsziel, und Therapien werden individuell angepasst.

Dies bedeutet, dass künftig wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen anhand eines strukturierten Beweisverfahrens abzuklären ist, ob sich eine fachärztlich diagnostizierte Suchtmittelabhängigkeit auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt.


Hes.so Valais Wallis Haute Ecole de Travail Social Hochschule für Soziale Arbeit

 

Fussnoten
1 Urteil vom 11. Juli 2019 (9C724/2018).
2 WHO (Weltgesundheitsorganisation):International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
3 APA (American Psychiatric Association):DSM-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 2016.