Mehr Wahlfreiheit für Menschen mit Behinderung

(Neue Zürcher Zeitung)

Breite Unterstützung für einen Gesetzesentwurf, der den Forderungen einer Uno-Konvention Rechnung trägt.

Von Dorotée Vögeli


Betroffene sollen ihre Wohnsituation künftig selber gestalten können.
Gaëtan Bally/Keystone

 

Menschen mit einer Behinderung sollen frei entscheiden können, ob sie Unterstützung wünschen und, wenn ja, welche. Ob sie Hilfe in einer Institution oder zu Hause erhalten, soll keine Rolle mehr spielen. Das verlangt die Uno-Behindertenrechtskonvention. 2014 hat sie die Schweiz ratifiziert. Ein grosser Umsetzungsschritt ist nun im Kanton Zürich auf guten Wegen. Wie die zuständige Kantonsratskommission mitteilt, stellt sie sich einstimmig hinter den Gesetzesentwurf des Sozialdirektors Mario Fehr (parteilos), der einen Systemwechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung ermöglicht.

Heute unterstützt der Kanton Zürich Menschen mit Behinderung nur dann finanziell, wenn sie in einer Institution leben. Das schränkt nicht nur die Wahlfreiheit der Betroffenen ein, sondern verhindert alternative Wohn- und Betreuungsangebote. Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz wird sich das ändern. Künftig sollen die Behörden die IV-Renten und Hilflosenentschädigungen nicht mehr den Behinderteninstitutionen, sondern direkt den Betroffenen überweisen. Diese können dann selbst entscheiden, ob sie ein externes Unterstützungsangebot beanspruchen wollen.

Auch Private entschädigen

Die Kosten des schrittweisen Aufbaus eines ambulanten Angebotes, mit dessen Anbietern der Kanton Leistungs- vereinbarungen abschliessen wird, schätzt der Regierungsrat auf jährlich 15 bis 30 Millionen Franken. Langfristig dürften sich aber die Investitionen für den Kanton auszahlen, wie die Regierung in ihrem Antrag schreibt. Würden künftig verstärkt ambulante Angebote statt die Dienstleistungen von Wohnheimen oder Werkstätten genutzt, lasse sich das Kostenwachstum im Behindertenbereich bremsen.

Das neue Gesetz wurde in enger Zusammenarbeit mit dem kantonalen Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung (Insos) erarbeitet. Dessen Geschäftsleiterin Sabrina Gröbli zeigte sich am Donnerstag sehr erfreut über die einstimmige Annahme des Gesetzesentwurfs in der Kommission. Zu den einzelnen Anträgen wollte sie sich aber noch nicht äussern. Deren konkrete Inhalte würden in Verordnungen festgelegt. Insos werde auch in den Detailfragen mit dem kantonalen Sozialamt in einem engen Austausch stehen, sagte Gröbli.

Anders als von der Regierung vorgesehen beantragt die Kommission dem Kantonsrat, auch Privatpersonen und nicht nur professionelle Anbieter für ihre Hilfestellungen zu entschädigen. In der Realität seien es oft Freunde oder Nachbarn, die sich mehrmals täglich kurz Zeit für Unterstützungsleistungen nehmen würden, schreibt die Kommission in ihrer Mitteilung. Deshalb sollen ihres Erachtens hilfeleistende Privatpersonen mittels Vouchers oder Geld entschädigt werden können.

Menschen mit einer Behinderung, die für ihre Betreuung zu Hause Drittpersonen anstellen und dafür Assistenzbeiträge aus der Invalidenversicherung erhalten, sollen aus Sicht der Kommissionsmehrheit anstelle von Vouchers einen gewissen Geldbetrag zur Selbstverwaltung erhalten können. Eine Minderheit aus SP, Grünen und EVP fordert, den Betroffenen den vollen Leistungsanspruch auszuzahlen und auf Vouchers zu verzichten. Der Regierungsrat sieht dies nur in Ausnahmefällen vor.

Unbestritten ist in der Kommission, dass das Kernelement des neuen Systems der Subjektfinanzierung eine Abklärungsstelle ist. Sie begrüsst deshalb die von der Regierung vorgesehene Stelle, die den individuellen Bedarf im Gespräch mit den Betroffenen ermittelt und den Leistungsanspruch bemisst. Die Kommission beantragt jedoch, die Abklärungsstelle aus der Sicherheitsdirektion auszugliedern. Für die Akzeptanz des Paradigmenwechsels sei zentral, dass die zuständige Stelle fachlich unabhängig arbeite, schreibt die Kommission. Der Branchenverband Insos Zürich unterstützt dieses Ansinnen. «Es ist wichtig, dass eine unabhängige Stelle die Abklärungen macht», sagt Gröbli.

Parteien des Lobes voll

Schliesslich möchte der Regierungsrat der Sicherheitsdirektion ermöglichen, Leistungserbringungen in Institutionen anzuordnen, wenn keine Leistungsvereinbarung zustande kommt. Eine FDP- Minderheit ist damit nicht einverstanden. Sie beantragt, dass Leistungsvereinbarungen im Einvernehmen erarbeitet werden müssen. Eine SVP-Minderheit will die Anordnungskompetenz der Direktion auf systemrelevante Anbieter beschränken.

Insgesamt ist jedoch der Grundtenor zum Gesetzesentwurf von rechts bis links sehr positiv. In Pressecommuniques waren SP, Grüne, EVP und FDP des Lobes voll. Das Selbstbestimmungsgesetz basiert auf einem Vorstoss von Mitgliedern der FDP, SP und EVP. Vor vier Jahren reichten sie eine entsprechende Motion ein. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen, die im Alltag regelmässig auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind, ziehen eine autonome Lebensgestaltung einem Aufenthalt in einer Institution vor, wie die FDP am Donnerstag schreibt. Diese Menschen sollen aus Sicht der FDP ihr Leben selber gestalten können.

Heute unterstützt der Kanton Menschen mit Behinderung nur dann finanziell, wenn sie in einer Institution leben.

Andere Menschen mit Beeinträchtigungen wiederum seien auf Institutionen angewiesen oder würden lieber in einer Institution leben. Auch dies müsse durch das Finanzierungssystem weiterhin gewährleistet sein, heisst es im Pressecommunique.

Die Möglichkeit, Leistungsvereinbarungen mit Privatpersonen abzuschliessen, sei ein zentrales Anliegen der FDP und der Kommission. Auch die Sicherheitsdirektion begrüsse die entsprechende Anpassung der Vorlage. SP, Grüne und EVP freuen sich ebenfalls über die breite Unterstützung für das neue Selbstbestimmungsgesetz. Es sei ein erster Schritt in der konkreten Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention, schreibt die SP.