«Meine Hände sind meine zehn Augen»

(Berner Zeitung / Ausgabe Burgdorf+Emmental)

Gesetz für Menschen mit BehinderungenDamit Urs Schwarz seinen Alltag meistern kann, wird er von Assistenten unterstützt.Dafür erhält der blinde Korbflechter aus Aeschau direkt vom Kanton Geld. Er ist einer von noch wenigen.


Urs Schwarz entscheidet selbst, wann er mit der Arbeit beginnt. In der Werkstatt unterstützt ihn sein Assistent Ernst Lehmann (r.). Foto Adrian Moser

 

Nina-Lou Frey

Gemeinsam mit einem seiner Assistenten überprüft Urs Schwarz einen Korb, den ein Kundefür Reparaturen vorbeibrachte. «Wenn mir jemand seinen Gegenstand übergibt, habe ich keine Ahnung, welche Farbe dessen Weiden haben», so der gelernte Korbflechter EFZ aus Aeschau.«Meine Hände sind meinezehn Augen.» Aber es gebe gewisse Dinge, die er damit nicht sehen könne. Dann unterstützt ihn der ehemalige LandwirtErnst Lehmann, der seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Nun istLehmann als Assistent beimKorbflechter tätig. «Die Arbeit mit dem Leim und dem Heissluftföhn überlasse ich ihm», so Schwarz. Er wolle sich nicht die Finger verbrennen.

Will nicht in Heim wohnen

Schwarz, 54 Jahre alt, erblindete als Kind. Zudem hat er seit Geburt eine schwere Gehbehinderung. Trotzdem bestimmt Schwarzselbst, wann er mit der Arbeit in der Werkstatt beginnt und wann er Mittagspause macht. «Für mich wäre es nichts, in einem Heim zu wohnen.» Dort werden die Tages-strukturen vorgegeben. Vor über 30 Jahren machtesich Schwarz als Korbflechter selbstständig. «Ich möchte entscheiden, wie ich lebe.» Dies ist dank eines Unterstützungsmodells möglich. Seitdem Schwarz am Pilotprojekt Berner Modell teilnimmt, habe sich seine Situation stark verändert.

Die Rolle des Bittstellers

Neun Assistenzpersonen konnte Urs Schwarz im Stundenlohn anstellen. Der Stundenlohn variiert je nach Qualifikation zwischen 25 und 34 Franken. Die Angestellten fahren ihn beispielsweise zu Märkten, an denen er seine Produkte verkauft. Vorher habe er Bekannte und Familien-angehörige immer darum bitten müssen. Jegliche Unterstützung, die er im Alltag erhalten habe, sei auf freiwilliger Basis gewesen.

«Es war schwierig und unangenehm, schon für kleine Aufgaben die Rolle des Bittstellers einnehmen zu müssen.» Er kenne viele Menschen mit einer Beeinträchtigung, die diese Rolle nicht mehr innehaben wollen. Doch im Pilotprojekt werden keine weiteren Leute aufgenommen.

Er erhalte, sagt Schwarz, etwas über 1100 Franken von der Invalidenversicherung als sogenannten Assistenzbeitrag. Dazu kommen 1000 Franken, die dank des Berner Modells auf sein Konto überwiesen werden. «Ohne den zusätzlichen Batzen könnte ich nicht genügend Assistenten und Assistentinnen anstellen.»

Was für Urs Schwarz dankdes Pilotprojekts bereits heute Alltag ist, soll im Gesetz verankert werden. Dieses stellt einen Systemwechsel dar – wenn das Gesetz dann in Kraft tritt. Vor einigen Jahren wurde dieEinführung per 2018 angekündigt. Nun soll es ab 1. Januar 2024 gelten.

Keine Person mit Behinderung bestimmt über das neue Gesetz mit. Im Berner Grossrat sitzt niemand mit Beeinträchtigung. Daran stört sich der Korbflechter Schwarz. Er rechnet vor: Ungefähr jede fünfte Person lebt mit einer Beeinträchtigung. Auch das Bundesamt für Statistik (BFS) gibt diese Zahl der Behinderten in der Schweiz mit etwa 1,8 Millionen an, also gut einem Fünftel der Bevölkerung.

Nicht angemessen vertreten

Gemäss dem Gleichstellungs – gesetz bezeichnet das BFS Personen als Menschen mit Behin-derungen, die «ein langwieriges Gesundheitsproblem haben und bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens (stark oder teilweise) eingeschränkt sind».

«Ohne den zusätzlichen Batzen könnte ich nicht genügend Assistenten und Assistentinnen anstellen.»
Urs Schwarz Korbflechte

Schwarz sagt: «Von 160 Mitgliedern des Grossen Rats müssten 32 behindert sein, damit wir angemessen vertreten wären.»Im Nationalrat ist Christian Lohr aus dem Thurgau der einzige Politiker mit einer Behinderung. Kann sich Schwarz vorstellen, im Berner Rathaus zu sitzen? «Ja,mit der nötigen Assistenz.»

Das Berner Modell

Seit fünf Jahren zahlt der Kanton Unterstützungsbeiträge an die Teilnehmenden des Pilotprojekts «Berner Modell» – auch an ungefähr jene 200 Personen, die zu Hause wohnen. Die weiteren 400 Projektteilnehmenden leben in Institutionen. Sie können selbst bestimmen, ob sie in den eigenen vier Wänden mithilfe von Angehörigen oder Assistenzpersonen leben wollen. Wer nicht am Pilotprojekt teilnimmt und zu Hause lebt, erhält keine zusätzliche Unterstützung des Kantons. Die Care-Arbeit aus dem Familienkreis wird durch den Kanton nicht entschädigt. Das «Berner Modell» ist das Pilotprojekt für das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen. (lou)

Gesetz weiter hinausgeschoben Menschen mit einer Behinderung sollen im Kanton Bern künftig die Wahl haben, in welchem Setting sie betreut werden wollen. Seit über zehn Jahren versuchen die Behörden diesen Systemwechsel rechtlich zu verankern, und zwar im neuen Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG).

Neu soll der Kanton nicht mehr die Institutionen finanzieren, sondern – wie im Pilotmodell – direkt die Menschen mit Behinderung vergüten, und zwar je nach persönlichem Betreuungs- und Pflegebedarf. Dies hat insbesondere für Menschen, die zu Hause wohnen und häufig von Familien- angehörigen oder Partnerinnen oder Partnern betreut werden, eine grosse Änderung zur Folge. Sie konnten bisher keinen Anspruch auf den sogenannten Assistenzbeitrag erheben.

Die zuständige Berner Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion teilte im Herbst mit, dass die Einführung des Gesetzes erneut, um ein weiteres Jahr, aufgeschoben wird. Begründet wird der Entscheid mit den Grossratswahlen, die 2022 stattfinden. Infolge der Wahlen könne es zu Neubesetzungen in der zuständigen Kommission kommen, was die Beratung des neuen Gesetzes erschweren würde, heisst es in der Mitteilung.

«Wir sind sehr enttäuscht, dass es noch einmal länger dauert», sagt Rolf Birchler, Geschäftsführer des Heimverbands Socialbern. Leidtragende seien die Menschen mit Behinderungen. Dass nächsten Frühling Wahlen stattfinden, wisse man schon lange. Die Begründung seitens der Behörden zeige, dass die Projektplanung nicht vorausschauend erfolgt sei. Birchler räumt aber ein, dass etliche Kernelemente, wie die Bedarfsermittlung, die Leistungsfinanzierung oder die Steuerung, nach wie vor ungenügend geklät seien und es dafür Zeit brauche. Unklar sei beispielsweise, wie viel Geld letztlich aus der Bedarfsermittlung für die Betroffenen gesprochen werden. «Es ist wichtig, dass die Unterstützungsleistungen auch in angemessener Qualität erbracht werden können.» Fachlich qualifizierte Arbeiten müssten durch entsprechend qualifiziertes Fachpersonal geleistet werden können.

Auch die Kantonale Behindertenkonferenz (KBK) kritisiert, dass die Einführung der Subjektfinanzierung weiter hinausgeschoben wird. Die KBK ist die Dachorganisation von rund 40 Organisationen aus dem Behindertenbereich. Laut der Geschäftsleiterin Yvonne Brütsch sei unter anderem die Frage nach einer Obergrenze der Leistungen nicht geklärt. «Wenn eine absolute Obergrenze festgelegt würde, hätten insbesondere Menschen mit einem hohen Betreuungsbedarf vielleicht doch nicht die Wahlfreiheit, zu Hause zu leben», bedenkt Brütsch. (lou)