Neue Abgeltung unter Beschuss

(Luzerner Zeitung)

Soziale Einrichtungen Seit Anfang Jahr wird die Betreuung von Behinderten leistungsorientiert abgegolten. DasSystem sei aber nicht praxistauglich, sagen die Heime. Trotzdem will es die Regierung im Gesetz festschreiben.


Die Dauer einer Leistung, hier in der Stiftung Rodtegg, wird nicht erfasst.Bild: Boris BürgisserLuzern, (15.5.2019)

 

Niels Jost
nielsjost@luzernerzeitung.ch
Der Kanton Luzern tüftelt derzeitan einem neuen Abgeltungssystem für soziale Einrichtungen.Seit Anfang Jahr werden Leistungen im stationären Bereich Wohnen und Tagesstruktur für Erwachsene mit Behinderungen nicht mehr pauschal, sondern leistungsorientiert abgegolten.Die Institutionen müssen dabei den individuellen Betreuungsbedarf (IBB) erfassen. Damit sollen Leistungen transparent und zwischen den Institutionen vergleichbar werden.

Obwohl die Organisationen schon gut fünf Monate mit dem System arbeiten, wird die gesetz-liche Grundlage erst noch geschaffen. Dies mit der Teilrevision des Gesetzes über sozialeEinrichtungen (Ausgabe vom28. Dezember). Eine Umfrage unserer Zeitung zeigt: Mit dem System sind viele Organisationen unzufrieden. Es führe zu grossem administrativen Mehraufwand, weil jede Leistung separat erfasst,mit Punkten versehen und fünf Stufen zugeordnet und abgegolten werden muss. «Diese Vereinfachung macht das System ungenau und somit auch undurchsichtig»,sagt etwa Luitgardis Sonderegger-Müller. Die Direktorin der Stiftung Rodtegg fügt an: «Das IBB-System ist nicht realitätsnah und widerspiegelt auch nicht die tatsächlich erbrachten Leistungen.»

System berücksichtigt nur Häufigkeit, nicht Dauer

So werde zwar erfasst, wie häufig jemand zum Beispiel geduscht oder beim Essen unterstützt wird,aber nicht, wie lange dies dauert.«Es ist doch ein grosser Unterschied, ob eine Betreuungsperson dafür zehn oder 50 Minuten aufwenden muss», so Sonderegger.Daher sei es auch nicht möglich,die erbrachten Leistungen der unterschiedlichen Institutionen miteinander zu vergleichen.

Auch die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) hat gewisse Vorbehalte, was die Vergleichbarkeit betrifft. Zwar begrüsst sie die leistungsorientierte Abgeltung grundsätzlich. Aller-dings müsse dieses flexibler definiert werden, um etwa Sonderfälle besser abdecken zu können,so Direktor Pius Bernet: «Zur besseren Kostengenauigkeit müsste der Kanton den Mut haben, das System zu verfeinern,das heisst, Ausnahmen und höhere sowie tiefere Sonderstufen zuzulassen.»

Bedenken hat auch Bruno Ruegge. Der Geschäftsleiter der Stiftung Contenti in Luzern merkt an, dass der IBB defizitorientiert sei – also die Aufmerksamkeit auf die Schwächen der Personen lenkt, nicht auf deren Stärken. «Das widerspricht dem formulierten Ziel von Ermächtigung und Teilhabe.» Zudem stehe die Einführung des IBB -Systems im stationären Bereich im Widerspruch dazu, dass der Kanton gleichzeitig ambulante Angebote fördern möchte. Denn in diesem Bereich gilt die Subjektfinanzierung. «Somit gibt es weiterhin unterschiedliche Finanzierungsarten», so Ruegge.

Dasselbe kritisiert Martina Bosshart, Geschäftsleiterin von Pro Infirmis Luzern, Ob- und Nidwalden. Sie begrüsst zwar diegenerelle Stossrichtung der Gesetzesrevision, da der Kanton mehr Selbstbestimmung und Wahlfreiheit ermöglichen sowie ambulante Angebote fördern will. Vor diesem Hintergrund sei es aber «unverständlich», wieso die Regierung jetzt noch auf ein System setze, welches nur für den stationären Bereich konzipiertist. Für eine regional breit gestreute, gemeindeintegrierte Angebotsvielfalt müsse vielmehr die Durchlässigkeit zwischen den ambulanten und stationären Angeboten verbessert werden. Gemeint ist damit, dass Personen mit Behinderungen darauf angewiesen sind, zwischen ambulanten und stationären Angeboten hin und her wechseln zu können,wenn zum Beispiel pflegende Angehörige ausfallen. Dies bleibe nun wegen der unterschiedlichen Finanzierungsmodelle aber weiterhin kompliziert, etwa was die Abrechnung betrifft. «Wir hätten erwartet, dass der Kanton Luzern unter Einbezug aller Akteure direkt ein zukunftsfähiges Bedarfsabklärungs- und Finanzierungssystem für alle Betroffenen gewählt entwickelt hätte», so Bosshart.

Sie plädiert daher für eine«konsequente, unbürokratische Subjektfinanzierung und die individuelle Bedarfserhebung aller Leistungsbezüger durch eine unabhängige Abklärungsstelle ».Eine solche Stelle kennt Luzern nicht. Sie könne aber aufzeigen,welche ambulanten und stationären Angebote in Frage kommen.

Regierung hat mit neuem System mehr Kontrolle

Nicht alle sozialen Einrichtungenteilen diese kritische Haltunggegenüber dem IBB. Die Einführung dieses Systems hält Martin Schelker, Geschäftsleiter bei Novizonte, für «sehr pragmatisch».«Klar ist die Einstufung miteinem gewissen Zusatzaufwandverbunden», sagt er, «doch fürunsere Institution mit 45 Plätzenhält er sich in Grenzen.»Der Regierungsrat erhofft sichvom IBB ein einheitlicheres Leis-tungs- und Kostenrechnungssystem, das Vergleiche zwischenden Institutionen zulässt. Auchsollen die Leistungen dank des IBB besser dokumentiert werdenkönnen. Mit anderen Worten: DerKanton möchte sicherstellen,dass er nur jene Leistungen zahlt,die er auch bestellt.

Entwickelt wurde der IBB von den Ost schweizer Kantonen und Zürich, verwendet wird er auch inanderen Deutschschweizer Kantonen. Wegen der erwähnten Mängel sind in einigen Kantonen allerdings Bestrebungen in Gange, das System bereits wieder zu wechseln. Im Rahmen der Vernehmlassung zur Gesetzesteilrevision sind beim Luzerner Gesundheits- und Sozialdepartement über 100 Stellungnahmen eingegangen, wie Departementssekretär Guido Roos auf Anfrage sagt. Inwiefern diese berücksichtigt werden, wird sich noch vorden Sommerferien zeigen: Dann wird der Regierungsrat die definitive Botschaft verabschieden. Der Kantonsrat berät das Gesetz voraussichtlich im September.