Sie investieren in Bauten, weniger in Menschen

(Neue Zürcher Zeitung)

Wie China zu einer Grossmacht an den Paralympics geworden ist – doch der Profit für seine behinderten Athleten ist überschaubar


An den Paralympics in Peking hat das Gastgeberland China nach drei Tagen bereits 16 Medaillen gewonnen. ANDY WONG /AP

 

RONNY BLASCHKE

Im Sport gibt es nur noch wenige Botschaften der Kommunistischen Partei Chinas, die im Westen unkritisch aufgegriffen und weiterverbreitet werden. Eine davon: die Sommer-Paralympics 2008 hätten die Rechte von behinderten Menschen in der Volksrepublik gestärkt.

Immer wieder verweist Peking auf den «Aufbruch» von damals, den Bau von barrierefreier Infrastruktur in den Metropolen, die Verabschiedung von Gesetzen zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, die Etablierung des Behindertensports. Es ist eine Erzählung, die das Regime nun fortschreiben möchte. Am Freitag haben in Peking die ersten Winter-Paralympics begonnen. Mehr als 650 Athleten aus 49 Nationen nehmen am Anlass teil.

«Symbol für Absonderung»

Stephen Hallett kann gut beurteilen, was sich hinter der Fassade verbirgt. Der britische Wissenschafter, der an der Universität Leeds forscht, hat lange in China gelebt und dort 2006 mit sehbehinderten Journalisten ein pädagogisches Radioprogramm aufgebaut.

«Es sind damals in der Zivilgesellschaft interessante Netzwerke entstanden», sagt Hallett, «das hat zu Fortschritten geführt. Doch leider haben die Behörden häufig auf den Rat von Menschen mit Behinderung verzichtet.» Als Beispiel nennt er Blindenleitsysteme, die nicht gewartet wurden oder keinen Sinn ergaben. «Es wurde viel Geld für Baumassnahmen ausgegeben, die am Ende nur wenigen Menschen zugutekommen.»

Die Kommunistische Partei möchte den paralympischen Erfolg für sich sprechen lassen. Mit Blick auf 2008 wurde in einem Vorort Pekings das weltweit grösste Trainingszentrum für Behin- dertensport errichtet. «Die Talentsichtung reicht von der nationalen Ebene über die Provinzen und Städte bis in die Dörfer», sagt der chinesische Gesundheitsexperte Wei Wang, der in Australien lehrt, «daran beteiligt sind Spitäler, Wohltätigkeitsorganisationen und Schulen.» Die Folge: Seit 2004 in Athen dominiert die Volksrepublik den Medaillenspiegel der Sommer-Paralympics – bei keinem anderen Sportereignis kann sie ihre politischen Rivalen so weit hinter sich lassen.

Das chinesische Regime deutet diese Überlegenheit als Sinnbild für die Fürsorge des Sozialstaates. «Tatsächlich haben die Paralympics in China wenig Einfluss auf die Bevölkerung», sagt Hallett, «sie sind gar ein Symbol für Absonderung.» Athleten, die für den Spitzensport rekrutiert werden, müssen monatelang in spartanischen Trainings-zentren verbringen, weit entfernt von Familie und Freunden. «Wer es nicht an die Spitze schafft, wird vom System ausgespuckt», sagt Hallett. «Auch Medaillengewinner erhalten nach ihrer Laufbahn wenig Unterstützung. Einige leiden unter Depressionen.»

Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung ändert sich in China nur langsam – auch wegen jahrhundertealter Traditionen. Im Konfuzianismus gelten gesunde und «produktive» Kinder als ideal, weil sie ihre Vorfahren pflegen und die Familienlinie fort-schreiben können. Im ebenfalls einflussreichen Buddhismus gilt eine Behinderung mitunter als Strafe für ein früheres Leben. In der jüngeren Geschichte haben radikale politische Umwälzungen wie die Kulturrevolution Millionen Menschen mit einer Behinderung hervorgebracht. Gegenwärtig sind es auch Umweltschäden und frühere Abtreibungen als Folge der Ein-Kind-Politik, die sich auf die Gesundheit auswirken.

Laut einer Volkszählung von 2006 leben in China mehr als achtzig Millionen Menschen mit einer Behinderung, neuere Zahlen gibt es nicht. Drei Viertel der behinderten Menschen leben auf dem Land, fernab der modernen Grossstädte und der prestigeträchtigen Medaillenproduktion. Hallett sagt: «Die Regierung hat zu wenig dafür getan, den Sport als Teil der Gesundheitsvorsorge und der Rehabilitation zu etablieren.» Doch gerade darin liegt der Ursprung der paralympischen Bewegung. Bereits in den 1940er Jahren hatte der Neurologe Ludwig Guttmann die positive Wirkung von Sport für behinderte Menschen betont. In der englischen Kleinstadt Stoke Mandeville organisierte er 1948 für Kriegsveteranen einen Wettkampf im Bogenschiessen – das Fundament der späteren Paralympics, die seit 1976 auch im Winter stattfinden.

Doch die Entwicklung verlief nicht linear. 1980, nach den Olympischen Sommerspielen in Moskau, weigerte sich die Sowjetunion, auch die Paralympics auszutragen. 1984 lehnte Los Angeles die Paralympics ebenfalls ab. Die Begründung: Dies passe nicht zum makellosen Image der Stadt.

1996 liessen die Organisatoren in Atlanta etliche Sportstätten nach den Olympischen Spielen abbauen, so dass behinderte Athleten in Bauruinen auftreten mussten. «Die Paralympics können nur ein Anstoss sein», sagt Andrew Parsons, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees. «Der gesellschaftliche Wandel kann Jahrzehnte dauern.»

Immer wieder Rückschläge

Immer wieder gab es Rückschläge. Nach den Sommer-Paralympics 2000 in Sydney erweiterte die australische Regierung die Bauvorgaben für Barrierefreiheit, aber die Sportförderung wurde zurückgefahren. Im Winter 2014 in Sotschi galten die Sportstätten als Musterbauten, doch fernab der russischen Metropolen sind behinderte Menschen bei Gesundheitsvorsorge und Jobsuche weiter im Nachteil. Vor den Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 erarbeitete die brasilianische Regierung ein differenziertes Antidiskriminierungsgesetz, in den Favelas jedoch können Menschen mit Behinderung häufig ihre Wohnungen nicht verlassen.

In westlichen Gesellschaften hat sich das Konzept der Inklusion durchgesetzt, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Im Sport würde das bedeuten, dass Athleten mit und ohne Behinderung von den gleichen Sportstätten, Prämienregeln und Fort- bildungen profitieren. In China sei man davon noch weit entfernt, sagt Stephen Hallett. Auch weil die Regierung unter Xi Jinping kaum noch für Empfehlungen aus der Zivilgesellschaft empfänglich ist.

Inhaltlich wird das Thema in China durch den staatsnahen Behindertenverband dominiert, gegründet 1988 von Deng Pufang, dem Sohn des Reformers Deng Xiaoping. «Diese Organisation ist relativ verschlossen und beschäftigt nur wenige Mitarbeiter mit einer Behinderung», sagt Hallett. Der Verband unterstützte in den vergangenen Jahren die Suche nach paralympischen Trainern und Technikexperten aus Europa.

China möchte auch an den Winter-Paralympics an die Spitze vorstossen. An jenen 2018 in Pyeongchang gewann die Volksrepublik nur eine Medaille – nun, nach drei Tagen in Peking, sind es bereits 16 Medaillen, 6 in Gold. Die positiven Effekte für behinderte Menschen ohne Medaillenchancen dürften sich allerdings in Grenzen halten.