Wenn eine Behinderung nicht mehr die Hauptrolle spielt

(srf.ch)

Noch immer werden Menschen mit Behinderungen im Film, Theater und Tanz selten engagiert. Aber es tut sich etwas – auch in der Schweiz.

Nicole Salathé

«You’re a freak.» Mit diesen Worten wird Schauspieler Peter Dinklage, bekannt aus der Serie «Game of Thrones», im neuen Musicalfilm «Cyrano» verspottet. Dinklage misst 135 Zentimeter und spielt und singt den Titelhelden Cyrano de Bergerac.

«Dass Liebhaber in Film und Fernsehen gutaussehende, weisse Männer sind, ist bloss eine altmodische Hollywood- Idee», sagt Peter Dinklage. Es sei an der Zeit, Klischees zu überdenken. Seine Kampfansage gilt jenen, die Menschen mit Behinderungen nicht achten, ausgrenzen oder gar missbrauchen.


Peter Dinklage in Joe Wrights «Cyrano» als unglücklich verliebter Soldat und Dichter. Universal Pictures International Switzerland, All Rights Reserved

 

Die Sache mit Schneewittchen

So kritisierte Dinklage Disney mit Blick auf die geplante Realverfilmung von «Schneewittchen und die sieben Zwerge ». Die Geschichte von Zwergen, die in einer Höhle leben, sei «verdammt rückständig». Disney bekräftigt nun, kleinwüchsige Menschen beratend hinzuzuziehen.

In der Schweiz leben rund 1.7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Weltweit sind es über eine Milliarde. Noch immer werden Schauspielerinnen oder Tänzer mit einer Behinderung äusserst selten engagiert. Und wenn, dann oft für Figuren mit Handicap. Meist werden selbst diese Figuren von Menschen ohne Behinderungen gemimt. In der Fachsprache heisst dieses Vorgehen «Cripping up».

Der Fokus liegt auf der Behinderung

Lucy Wilke, Schauspielerin und Sängerin aus München, bewegt sich wegen einer genetischen Veranlagung mit dem Rollstuhl. Sie relativiert: «Mich persönlich stört ‹Cripping up› nicht, solange sich jemand mit der Rolle richtig auseinandersetzt.»

Wilke ärgert sich aber, dass in Filmen Menschen mit Behinderungen am Ende entweder sterben oder wieder gesund sind. «Selten sind sie einfach da, beschäftigen sich mit etwas ganz anderem und sind eben zufällig auch behindert.»


Julia Roberts spielte 2014 im Film «The Normal Heart» eine Ärztin im Rollstuhl. Im echten Leben braucht die Schauspielerin keinen Rolli. Im Bild ist Roberts bei der Emmy-Verleihung 2014, an der auch der Film ausgezeichnet wurde. IMAGO / ZUMA Wire

 

Die Münchner Kammerspiele machen es vor

Lucy Wilke ist seit 2020 eines der sechs festen Ensemblemitglieder der Münchner Kammerspiele. Intendantin Barbara Mundel probt hier das Stadttheater der Zukunft.

Am Haus lief auch das Projekt «Scores that shaped our friendship» von und mit Lucy Wilke und Pawel Dudus. Die beiden wurden für ihr Stück, das ein fühlsam vom «Anders-Sein» erzählt, mit dem Theaterpreis «Der Faust » ausgezeichnet.


Lucy Wilke und ihre Mutter sind das Duo «blind & lame». Mit dem unverblümten Namen wollen sie das Thema Behinderung direkt abhaken und ihre Musik in den Fokus rücken. IMAGO / Sven Simon

 

«Man fühlt sich hilflos»

Wilke wollte schon früh Schauspielerin werden, Regie führen und Filme machen. Sie bewarb sich zweimal an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film. Zweimal schaffte sie es in die Endrunde. Zweimal wurde sie abgelehnt.

Eine Assistentin habe sie angerufen und gesagt: «Das hat nichts mit der Qualität Ihrer Bewerbung zu tun». Wilke konnte sich ausrechnen, was der wahre Grund war. «Man fühlt sich hilflos, wenn man gegen Wände läuft, sich Mühe gibt, aber es nützt einfach nichts.»

Die Schweiz hinkt hinterher

In der Schweiz wird das Thema Inklusion viel diskutiert: Pro Infirmis etwa hat die Fachstelle «Kultur inklusiv» ins Leben gerufen. Alle Label-Partner verpflichten sich zur ganzheitlichen Inklusion von Menschen mit Behinderungen: als Kulturschaffende, als Publikum und als Mitarbeitende.

Längst werden auch hierzulande Vorstellungen und Museumsführungen etwa mit Audiodeskription und Gebärdensprache angeboten. Doch bei Filmrollen und Bühnenengagements sieht es für Betroffene nach wie vor düster aus.

Eine erste Weiterbildung gibt es seit letztem Jahr an der Accademia Dimitri. Ansonsten sind Möglichkeiten für Schauspiel- und Tanzausbildung an Hochschulen rar, meistens ist «learning by doing» die einzige Option. Die USA oder Grossbritannien sind da fortschrittlicher.

Behinderungen als Chance verstehen

Bühnenerfahrung gesammelt hat auch die gebürtige Freiburgerin Cornelia Jungo. Die Tänzerin im Rollstuhl wurde mit der Glasknochenkrankheit geboren. Um einen Ausgleich zu all den Therapien zu schaffen, nahm sie mit Ende 20 an einem Workshop von «BewegGrund» teil. Der inklusive Verein wurde 1998 von der Tänzerin Susanne
Schneider in Bern gegründet. Ein Schweizer Novum.


Cornelia Jungo (links) im Projekt «Menschen unter sich», einer Zusammenarbeit von «BewegGrund» mit dem Zentrum Paul Klee. Matthias Dömötör / BewegGrund

 

Jungo schwärmt: «Ich gewann die Erkenntnis, dass der Rollstuhl mir meine Bewegungsfreiheit nicht nimmt, sondern zurückgibt. Ich war ein gleichwertiges Mitglied eines Ensembles. Das gab mir Selbstvertrauen.» Seither tanzt Jungo in «BewegGrund»-Produktionen mit.

Mehr Mitsprache gefordert

Bei der letzten Produktion wurde die Choreografin Vanessa Cook auf sie aufmerksam. Nun tanzt Cornelia Jungo erstmals mit Profis. Es braucht Mut, Geduld und Hartnäckigkeit, um sichtbar zu sein, sagt sie. Und es brauche Mut
in der Politik, an Hochschulen, an Theatern und im Filmbusiness.

Cornelia Jungo wünscht sich, «dass wir Menschen mit Behinderungen endlich mitdiskutieren können.» Denn Entscheidungen fällen auch heute noch weitgehend Menschen ohne Behinderungen.