Barrieren sind dazu da, sie zu überwinden

(Procap / DasMagazin)

Knapp acht Jahre nach dem Inkrafttretender Uno-Behindertenrechtskonvention [BRK) in der Schweiz findet eine erste Überprüfung statt. Da es bei der Umsetzung noch immer viel Handlungsbedarf gibt, muss die Schweiz wohl mit einer Rüge rechnen. Für das Procap Magazin Anlass, über die Bedeutung der BRK und in diesem Zusammenhang über die Menschenrechte zu reflektieren.

Text Sonja Wenger Illustration Jan Zablonier

Laut dem US-Wetterarchiv war es am Freitag, dem io. Dezember 1948, in New York trocken. Die Temperatur betrug etwas über i Grad Celsius, und der Himmel war leicht bewölkt. Für den Rest der Welt ging jedoch die Sonne auf. An jenem Tag verabschiedeten die Vereinten Nationen (Uno) in New York die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In 3o Artikeln wurde ein Wertekatalog festgelegt, der für alle Menschen gelten und sie vor will-kürlicher Gewalt schützen soll. So heisst es im ersten Satz von Artikel 1: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.»

Mit ihrer Erklärung bekräftigte die damals noch junge Weltorganisation – die Uno war Mitte 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet worden – ihren Glauben an die Würde des Menschen. Gleichzeitig versprach sie, bessere Lebensbedingungen für alle Menschen zu fördern.

In den folgenden Jahrzehnten entstand zu diesem Zweck eine Vielzahl von Uno Sonderorganisationen, die sich beispielsweise für Flüchtlinge oder für das Recht auf Nahrung und Gesundheit einsetzen. Mit internationalen Pakten, Verträgen und Konventionen versucht die Uno zu erreichen, dass ihre 193 Mitglieder – alles souveräne Staaten – die Menschenrechte in geltendes Recht umsetzen. So gibt es unter anderen einen Uno-Sozialpakt, eine Uno-Kinderrechtskonvention, eine Antifolterkonvention und seit 2006 das Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, abgekürzt als Behindertenrechtskonvention (BRK).

Bedeutung und Inhalt

Die Bedeutung der Uno-BRK für die ganze Gesellschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Je nach Definitionsgrundlage leben zwischen 15 und 20 Prozent der Weltbevölkerung mit irgendeiner Form von Behinderung. Sie sind damit die grösste Minderheit der Welt.

Doch bis heute werden Menschen mit Behinderungen aufgrund von Tabus oder Vorurteilen gesellschaftlich ausgegrenzt. Noch immer werden sie etwa beim Zugang zu Ausbildungen oder zum sogenannten ersten Arbeitsmarkt eingeschränkt oder diskriminiert. Viele Strukturen, etwa bei der Architektur, im Ausbildungssystem oder im öffentlichen Verkehr, sind nicht an ihre Bedürfnisse angepasst oder werden nur zögernd verändert. Und nicht nur in armen Ländern sind Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen.

Die Uno-BRK beinhaltet deshalb sowohl bürgerliche und politische wie auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Ihr Geltungsbereich ist sehr weit und umfasst beispielsweise:

– das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung
– das Recht auf persönliche Mobilität
– das Recht auf Zugang zu Informationen
– das Recht auf Bildung
– das Recht auf Gesundheit
– das Recht auf Arbeit und Beschäftigung
– das Recht auf Barrierefreiheit

Wichtig ist: Mit der Uno-BRK wurden keine neuen Rechte oder Sonderrechte geschaffen, sondern die allgemein gültigen Menschenrechte präzisiert und auf die Situation von Menschen mit Behinderungen angepasst. Bisher haben 164 Uno Mitgliedstaaten die BRK unterschrieben. Zweck der Uno-BRK ist es, Menschen mit Behinderungen die «volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft» zu ermöglichen. Es sollen also die vielfältigen Barrieren in der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit wie auch in den Köpfen der Menschen überwunden respektive abgebaut werden. Oder um den Westschweizer Philosophen und Schriftsteller Alexandre Jollien zu zitieren, der seit Geburt mit einer Cerebralparese lebt: «Wir Menschen müssen unseren Vorurteilen den Hals umdrehen.»

Die Schweiz und die Uno-BRK

In der Schweiz trat die Uno-BRK im Mai 2014 in Kraft. «Mit der Annahme dieser Konvention verpflichtete sich die Schweiz, die Uno-BRK umzusetzen und ihre Gesetzgebung entsprechend anzupassen», sagt Martin Boltshauser, Leiter Rechtsdienst von Procap Schweiz. «Sie verpflichtete sich allerdings nicht auf eine schnelle Umsetzung.» Dadurch habe die Regierung einen grossen zeitlichen Spielraum. «Was das bedeutet, zeigt sich sehr gut bei jenen Anpassungen, die im öffentlichen Verkehr nötig wären. Hier wurde die Umsetzungsfrist, die derzeit 2024 ist, bereits zweimal verlängert.»

Der Grund: Bei vielen der geforderten Massnahmen kommt in der Schweiz die in der Verfassung festgehaltene Verhältnismässigkeit zur Sprache. Hierbei werden die Kosten, der Aufwand oder die Dringlichkeit für eine Anpassung oder eine Massnahme dem direkten Nutzen gegenübergestellt. Dies gilt auch dann, wenn eine Forderung gesetzlich und rechtens ist.

Dennoch sind die Grundlagen der Behindertengleichstellung in der Schweiz breit abgestützt. Neben der Uno-BRK gelten die Schweizerische Bundesverfassung und das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), welches vor allem beim Bauen, im öffentlichen Verkehr und bei staatlichen Dienstleistungen zum Tragen kommt. Hinzu kommen verschiedene kantonale Behindertenrechtsgesetze. Das föderalistische System der Schweiz erlaubt es den einzelnen Kantonen, weiter zu gehen, als es auf Bundesebene vorgegeben wird. So hat der Kanton Genf das politische Wahlrecht für Personen angenommen, die einen Beistand haben. Die Kantone Basel-Stadt und Neuenburg haben ein eigenes Behindertengesetz verabschiedet. Und in mehreren anderen Kantonen wurde bereits die Subjekfinanzierung eingeführt oder steht zur Diskussion. Es ist anzunehmen, dass dieser Prozess in den nächsten Jahren an Dynamik zunehmen wird.

Schattenbericht und Überprüfung

Doch auch wenn die kantonalen Bemühungen zu begrüssen sind: Kontrolle ist nötig. Aus diesem Grund überprüft ein Uno-Ausschuss jedes Jahr einige Staaten und fragt nach, wie es mit der Umsetzung aussieht. Im März 2022 wird die Schweiz erstmals seit der Einführung der Uno-BRK zum Stand der Dinge befragt.

Die Bundesregierung vertritt hierbei die Haltung, dass die Umsetzung bereits weit fortgeschritten ist. So sei das Verbot, Menschen mit Behinderungen zu diskriminieren, in der Verfassung festgelegt. Und die Invalidenversicherung (IV) setze mit ihrer Unterstützung von Betroffenen und etwa dem Grundsatz «Eingliederung in den Arbeitsmarkt vor Rente» bereits viele Elemente der Uno-BRK um.

Anders sieht es Inclusion Handicap (IH), Dachverband der meisten Schweizer Behindertenorganisationen. Im Sommer 2017 verfasste IH einen sogenannten Schattenbericht zum «Ersten Staatenberichtsverfahren der Schweiz vor dem Uno Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen». Darin wird detailliert gezeigt, dass in der Schweiz noch viel Handlungsbedarf bei der Umsetzung der Uno-BRK besteht (siehe auch das Interview mit Caroline Hess-Klein von IH auf Seite 12). Besonders kritisiert wird dabei das Fehlen einer umfassenden Strategie des Bundes zur Umsetzung der Uno-BRK. Es hapert aber auch bei den Rechten auf Selbstbestimmung, Arbeit, Bildung oder dem Schutz vor Diskriminierung durch Private. So gibt es in der Schweiz nach wie vor nicht genug Möglichkeiten bei der freien Wahl der Wohnform und des Wohnsitzes. Und auch der Zugang zur Justiz oder zu politischen Rechten ist nicht für alle gegeben.

Ein weiterer Kritikpunkt von IH ist die fehlende Unterschrift der Schweiz unter das sogenannte Fakultativprotokoll respektive Zusatzprotokoll der Uno-BRK. Mit einer Zustimmung zum Zusatzprotokoll könnte die Umsetzung wesentlich schneller erfolgen, weil dann ein Einzelklagerecht bestehen würde. Eine betroffene Person kann mit dem Zusatzprotokoll ihre Rechte aus der Uno-BRK direkt beim Uno-Ausschuss einklagen, wenn sie zuvor bei allen rechtlichen Instanzen ihres Landes abgewiesen worden ist.

Der vollständige Text des Schattenberichts von 2017 sowie der aktualisierten Version 2022, die sich derzeit noch in Bearbeitung befindet, finden Sie auf der Website von Inclusion Handicap.

Procap und die Uno-BRK

Grundsätzlich soll und kann mit der Uno-BRK die vollständige Inklusion von Menschen mit Behinderungen in unsere Gesellschaft ermöglicht werden. Allerdings reichen Gesetze allein dafür nicht aus. Für eine vollumfängliche Inklusion aller Menschen braucht es ein anderes Gesellschaftsmodell mit einem anderen Wertesystem und ohne jenes Leistungsdenken, das heute einen grossen Teil unseres Handelns bestimmt.

Es braucht aber auch jene, die für Menschen mit Behinderungen kämpfen, indem sie wie Procap etwa Fachberatung im Bereich Rechtsdienst oder Sozialversicherungsrecht oder Dienstleistungen im Bereich Bauen, Reisen und Sport oder Bildung und Sensibilisierung anbieten. Zwar werden nicht alle dieser Angebote direkt als Förderung der Uno-BRK angesehen. Doch gerade die konkreten rechtlichen oder sozialpolitischen Errungenschaften, die Procap in den vergangenen Jahren durchsetzen konnte, sind im Alltag der Betroffenen spürbar und verhelfen zu mehr Selbstbestimmung. Dazu gehören unter anderem die Erhöhung der Mietzinsmaxima bei den Ergänzungsleistungen oder die Verbesserungen beim Intensivpflegezuschlag. Der Kampf für Inklusion hat also viele Formen – aber nur ein Ziel, für das wir noch einmal Alexandre Jollien zitieren: «Für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu kämpfen, bedeutet, für das Wohl der Menschheit zu kämpfen.»


Quellen
www.edi.admin.ch > Uno-Konvention
www.inclusion-handicap.ch > Schattenbericht
www.behindertenrechtskonvention.info
www.planet-wissen.de
Aktionsplan UN-BRK 2019-2023 von INSOS, CURAVIVA und VAHS
https://tingurl.com/UnTrucJollien: «J’ai 1 truc ä dire» («Eins möchte ich noch sagen»). Video mit Alexandre Jollien.


Aktion Uno-BRK am 9. März 2022
Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe hat der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgelegt, dass die Schweiz definitiv im März in Genf geprüft wird. Zu diesem Anlass wird Inclusion Handicap in Zusammen- arbeit mit ihren Mitgliedern am 9. März 2022 eine Aktion in Bern organisieren.

Aktualisierte Informationen zu den geplanten Veranstaltungen von Procap Schweiz und der Procap-Sektionen finden Sie unter www.procap.ch/uno-onu.