Spitalschulen: Kantone knausern

(NZZ amSonntag)

Eine neue Regelung verletze Recht auf Bildung, kritisieren Vertreter behinderter Kinder

Rene Donze

«Wo ist meine Lehrerin?» Der neun jährige Marc* ist tags zuvor sechs Stunden am Schädel operiert worden und liegt noch auf der Intensivstation. Seine Augen sind zu, seine Hände dick bandagiert. Dennoch will er unbedingt seine Mathematiklektion haben. Zeigen, wie gut er schon im Zahlenraum bis 1000 rechnen kann. So erzählt es sein Vater. Marckennt den Spitalbetrieb von klein auf. Wegen seiner Behinderung muss er sich immer wieder Operationen unterziehen oder zur Überwachung für ein paar Tage einrücken. Die Spitalschule gehört zu seinem Leben.

Rund 30 Spitalschulen gibt es in der Schweiz. Sie sollen sicherstellen, dass junge Patientinnen und Patienten trotz Unfall, Krankheit oder Operation den Anschluss in der Schule nicht verlieren. Die Sache hat aber einen Haken: Sie hat ihren Preis -zumal es sehr oft Einzelunterricht ist, der speziell auf das Kind abgestimmt werden muss. Ein Spitalschultag am Kinderspital Zürich etwa kostet 300 Franken.

Die Verrechnung dieser Leistungen führt immer wieder zuKonflikten – vor allem wenn essich um Kinder handelt, die ausserhalb des Kantons Zürich wohnen. Bezahlen sollte eigentlich deren Wohngemeinde oder -kanton. «Ich bin ständig am Verhandeln mit Behörden», sagt Barbara Trechslin, die Leiterin der Kinderspital-Schule. Eine anderePerson, die sich im Dossier gut auskennt, spricht von einemDschungel der Zuständigkeiten und Bestimmungen.

Das soll sich ändern. Jüngsthaben die Kantone unter Federführung der Erziehungsdirek-torenkonferenz eine Vereinbarung erarbeitet, welche die Abgeltung untereinander regelt. Sie befindet sich derzeit in der Vernehmlassung. Und sie wird nunheftig kritisiert: «Damit wird das Recht der Kinder auf Bildung verletzt», sagt Alex Fischer, Leiter Sozialpolitik beim Behindertenverband Procap Schweiz.

Rückstände befürchtet

Der Kern der Kritik: Der Unterricht der Kinder im Spital soll erst ab dem achten Tag finanziertwerden. Damit würden Kindermit chronischen Krankheitenoder Behinderungen benachteiligt, die regelmässig für kürzere Zeit ins Spital müssen, sagtFischer. Es gebe keinen Grund, die Spitalschule nicht ab demersten Tag zu bezahlen.

Marc zum Beispiel muss in den nächsten 14 Monaten mehrereOperationen und Überwachungen erdulden – keine davon dauert viel länger als sieben Tage. Insgesamt würde er rund einen Monat Schule verpassen.

Auch Schulleiterin Barbara Trechslin stört sich an der Karenzfrist von sieben Tagen:«Ob und wann eine Beschulung sinnvoll ist, müssen medizinische und pädagogische Fachleute beurteilen», sagt sie. Das dürfe nicht von der Finanzierung abhängig sein. Bei gewissen Verletzungen sei es sogar essenziell, möglichst schnell wieder mit Unterrichten zu beginnen, damit keine kognitiven Rückstände entstünden.

Wie wichtig dies auch für die spätere berufliche Entwicklung chronisch kranker Kinder ist, betont Christine Walser, Schweizer Vertreterin der europäischen Vereinigung der Spitallehrpersonen: Oft können siespäter keine schweren körperlichen Arbeiten ausüben, umso wichtiger sind die intellektuellen Fähigkeiten. «Erhalten diese Kinder keine ziel-führende schulische Unterstüt-zung, ist denkbar, dass sie später schneller IV-Rente und Sozialleistungen beziehen müssen.»

Die Karenzfrist ist nur ein Kritikpunkt. Für Ärger sorgt auch die Bestimmung, dass der Unterricht während der Ferienzeit am Standort des Spitals nicht finanziertwird. Dies, obwohl viele Spitalschulen durchgehend geführtwerden. So könnte etwa ein Berner Kind, das in Zürich operiertwird, wegen versetzter Feriensehr lange schulfrei haben.

Keine Zahlen vorhanden

Die Erziehungsdirektorenkonferenz will sich zu dieser Kritikwegen der laufenden Anhörung nicht äussern. Sie verweist jedoch darauf, dass die Vereinbarungnicht das Angebot regle – dafürseien die Kantone zuständig -sondern dessen Finanzierung bei ausserkantonalen Spitalaufent-halten. Grundsätzlich könntendie Kinder schon vor Ablauf der Karenzfrist beschult werden, nur würden dann die interkantonalen Beiträge nicht fliessen. Und die Karenzfrist entfalle, wenn derAufenthalt voraussichtlich mehr als 14 Tage daure.

Wie viele Kinder und Jugendliche von der Vereinbarung überhaupt betroffen wären, ist nichtbekannt. Entsprechende Erhe-bungen hat die Konferenz nicht durchgeführt. Das KinderspitalZürich, das wohl eine der grössten Spitalschulen führt, zählt pro Jahr rund 700 Schülerinnen und Schüler mit insgesamt rund 3800 Betreuungstagen. Davon entfalen rund 850 Tage auf schul-pflichtige Kinder aus anderenKantonen. Es ist also rund eineViertelmillion Franken pro Jahr, die das Kinderspital diesen verrechnen dürfte.

Sollte die Vereinbarung zu-stande kommen, wird allerdings noch lange nicht alles automa-tisch vergütet. Jeder Kanton kann wählen, ob er dem Konkordat beitreten will und mit welchen Spitälern er die Vereinbarung ein gehen will. Auch das führe zu Ungerechtigkeiten, kritisiert Procap. Wenn die Kantone an dieser Â-la- carte-Lösung festhielten und an der Karenzfrist von sieben Tagen, müsste der Bund eingreifen, sagt Fischer. «Oder es wird im Einzelfall zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen.»

Marc übrigens erhielt noch am gleichen Tag Besuch von der Spitallehrerin. Und er war stolz auf die vielen richtigen Resultate.Auch wenn er sie nur aufsagen und noch nicht schreiben konnte.
Marc muss viele Operationen erdulden – erwürde einen Monat Schule verpassen.


Kinderspital Zürich: Hier werden jährlich rund 700 Schüler unterrichtet. (21. Januar 2019)