«Bürger zeiter Klasse»

(Plädoyer)


Markierungen für Sehbehinderte,Luzern: Uno-Ausschuss fordert grundsätzliche Änderungen statt nur Einzelmassnahmen

 

Behindertenrecht Der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ortet in der Schweiz Handlungsbedarf. Unter anderem kritisiert er das System der Beistandschaft im Erwachsenenschutzrecht.

Die Stärke des Volks messe sich am Wohle der Schwachen,heisst es in der Präambel der Bundesverfassung.Welchen tatsächlichen Stellenwert Bund, Kantone und Gemeinden diesem Passus im Hinblick auf Behinderte zurechnen,führt der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen vor Augen:Mitte März überprüfte dieser zum ersten Mal die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Uno durch die Schweiz und kam zu einem vernichtenden Ergebnis: Die Schweiz tue viel zu wenig für deren Umsetzung.Der Ausschuss richtete insgesamt 80 Empfehlungen an die Schweiz.

In vielen Gebieten hoher Nachholbedarf

Markus Schefer,Staatsrechtsprofessor ander Universität Basel und Mitglied des Uno-Ausschusses: «Das zeigt einen sehr hohen Nachholbedarf in der Schweiz.Und zwar in vielen Gebieten und auf grundsätzlicher Ebene.»

Der Ausschusshat 18 Mitglieder,die teil weise in ihren Herkunftsländern in Politik, Wissenschaft oder gemeinnützigen Organisationen tätig sind. Alle Mitglieder ausser Markus Schefer leiden an einer Behinderung.So ist zum Beispiel die australische Juristin Rosemary Kayess, Vorsitzendedes Ausschusses, wegen einer Rückenmarkverletzung auf einen Rollstuhl angewiesen.Und die brasilianische Psychologin Mara Christina Gabrilli ist seit 1994 nach einem Autounfall querschnittgelähmt.Nach ihrem Unfall gründete sie das Instituto Mara Gabrilli,eine Organisation,die Programme zur Verteidigung der Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickelt.

Der Beistand soll nicht anstelle einer Person entscheiden, sondern ihr helfen, sich zu äussern»
Markus Schefer, Staatsrechtsprofessor,Basel

Mit der«grundsätzlichen Ebene»meint Schefer zum Beispiel die Kritik des Ausschusses,wonach hiesige «Gesetze die Rechtsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen verneinen oder einschränken und ihre Entmündigung vorsehen».Damit ist insbesondere der Erwachsenenschutz des Zivilgesetzbuchs gemeint.Ein Beistand verwalte bei Leuten mit einer Behinderung bestimmte Bereiche seines Lebens.«Er ist seine rechtliche Stimme.Was der Betroffene sagen kann,hat keine rechtlichen Auswirkungen.»Die Konvention lehne dieses System ab.«Der Beistand soll nicht anstelle einer Person entscheiden, sondern ihr helfen,sich zu äussern. Wenn sie das nicht kann,muss er die bestmögliche Interpretation dessen finden,was sie will.»

Weiter zeigt sich der Ausschuss besorgt über die fehlende Gleichheit von Menschen mit Behinderung.Er fordert die Schweiz auf, Rechtsvorschriften und Gesetze anzupassen und das sogenannte Fakultativprotokoll endlich zu ratifizieren.Damit könnten sich Personen oder Gruppen bei einem Verstoss gegen die Behindertenrechtskonvention an den Uno-Ausschuss zum Schutz von Menschen mit Behinderungen wenden. Vorher müssten alle innerstaatlichen Beschwerdemöglichkeiten ausgeschöpft sein.

Der Ausschuss fordert die Schweiz auch auf,die Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderung ausdrücklich in alle gleichstellungs-und behinderungsbezogenen Rechtsvorschriften aufzunehmen.Dabei sollten die Vorschriften aus der IstanbulKonvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen beachtet werden.Der Ausschuss kritisiert auch die hiesigen Medien: Die Schweizer Medienlandschaft thematisiere die Würde und Rechte von Menschen mit Behinderung kaum.Er empfiehlt Sensibilisierungskampagnen in der Öffentlichkeit,um negativen Stereotypen entgegenzuwirken.Caroline Hess-Klein,Leiterin der Abteilung Gleichstellung beim Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen «InclusionHandicap», dazu:«Menschen mit Behinderung in der Schweiz fühlen sich oft nicht ernst genommen.Sie kritisieren, dass sie nicht gehört werden.»Das zeige sich in vielen Beratungsgesprächen.

Kritik an Zwangsmitteln in Heimen und Kliniken

Höchste Priorität misst der Ausschuss«dem Schutz der Unversehrtheit von Menschen mit Behinderung»zu.Er fordert,die Schweiz solle die «Anwendung von medizinischen Verfahren und Behandlungen,chemischen, physischenundmechanischen Zwangsmitteln und Isolationsmassnahmen ohne die Zustimmung der Betroffenen» endlich beenden.Das Zivilgesetzbuch «erlaube diese Praktiken,die tagtäglich angewandt» würden,sagt Markus Schefer.Auf kantonaler Ebene seien sie nach den Bestimmungen für die Psychiatrie ebenfalls zulässig.«Die medizinische Kultur muss sich ändern»,fordert der Basler Staatsrechtsprofessor.

Der Ausschuss geht auch auf drei Artikel der Konvention ein, bei denen institutionelle Dienstleistungen eine wichtige Rolle spielen: Artikel 19 regelt die unabhängige Lebensführung und die Einbeziehung der Behinderten in die Gemeinschaft, Artikel 24 die Bildung und Artikel 27 die Beschäftigung.

Kritisiert wird,dass zu viele Behinderte in Heimen leben müssen.Schefer:«Jeder Mensch möchte selbst entscheiden können,wo, mit wem und wie er lebt.»Staatlichen Zwang gebe es bloss in der Armee oder im Gefängnis,und nur für einen begrenzten Zeitraum.Manche Menschen mit Behinderungen hingegen seien oft ihr ganzes Leben staatlichem Zwang ausgesetzt.Niemandem gefalle die Aussicht,in einem Pflegeheim zu leben. «Und während der Pandemie verwandelten sich viele Heime faktisch in Gefängnisse.Das war katastrophal.»Der Ausschuss kritisiert zudem, dass es für die Behinderten kaum erschwinglichen Wohnraum gibt. Die Schweiz solle deshalb die persönlichen Assistenzleistungenausbauen. Hardy Landolt,der in St.Gallen Privat-und Sozialversicherungsrecht lehrt und in Glarusals Anwalt tätig ist,hält die heutige Situation in der Schweiz klar für ungenügend:«Einebehinderte Person erhält von der Invalidenversicherung zwar einen Assistenzbeitrag.Das Problem ist nur,dass dieser die tatsächlich benötigte Hilfeleistung nicht einmal ansatzweise abdeckt.»

Auch Menschen in Altersheimen betroffen

Mit dem Assistenzbeitrag haben Betroffene die Möglichkeit,eine Hilfsperson anzustellen, jedoch keine Angehörigen in gerader Linie.«Das ist absurd»,so Landolt,der seit dem 14.Lebensjahr Tetraplegikerist.Würden Bund und Kantone die Forderung nach einem «selbstbestimmten Leben»
ernst nehmen,müssten sie den Betroffenen auch die entsprechenden Mittel und Dienstleistungen zur Verfügung stellen,fordert Landolt.

Konkrete Hilfsmittel,um ein eigenständiges Leben führen zu können,würden von der Invalidenversicherung immer wieder abgelehnt.So müssten viele ältere Leute in Altersheime eintreten, «weil sie ambulant keine genügenden Hilfeleistungen erhalten». Diese älteren Personen seien im Sinne der Behindertenrechtskonvention ebenfalls behindert,weil sie Hilfe im Alltag brauchen.«Wir haben Menschen mit einer Behinderung vor Augen,die im Rollstuhl sitzen.Dabei vergessen wir, dass der Behinderungsbegriff sowohl vom hiesigen Behindertengesetz als auch von der Konvention viel breiter gefasstist.»

Landolt kritisiert auch das Bundesgericht.Lausanne höhle das in der Verfassung festgehaltene Diskriminierungs verbot und Egalisierungsgebot aus,indem es«bei triftigen Gründen»eine Ungleichbehandlung zulasse.Der Anwalt veranschaulicht dies mit einer Analogie:«Stellen Sie sich vor, man sagt einer dunkelhäutigen Person:Hör zu,wir dürfen dich weiterhin wegen deiner Hautfarbe diskriminieren, wenn es triftige Gründe gibt».Das sei doch absurd.

Anreize im Arbeitsmarkt schaffen

Auch im Bereich der Arbeit stellt der Ausschuss der Schweiz ein schlechtes Zeugnis aus:So bestehen noch zu wenige Möglichkeiten für den Übergang vom «geschützten Arbeitsmarkt»zum allgemeinen Arbeitsmarkt mit gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit.Er kritisiert,dass kein Arbeitsumfeld vorhanden ist,das Menschen mit Behinderung berufliche Weiterentwicklungen ermöglicht.Die Schweiz solle«geeignete politische Massnahmen wie Zielvorgaben, positive Aktionsprogramme und Anreize» schaffen,damit mehr Personen-insbesondere Frauen-mit Behinderung im allgemeinen Arbeitsmarkt Anschluss finden.

Wenn der Ausschuss Kritikpunkte wie Armut,Zwangssterilisationen,eingeschränktepolitische Rechte,fehlender Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt und öffentlichen Plätzen formuliert,stellt sich unweigerlich die Frage,ob Menschen mit Behinderung hierzulande als Bürger zweiter Klasse gelten.«Ja,die grosse Mehrheit ist es tatsächlich»,antwortet Markus Schefer.Sie könnten nicht wie alle anderen an der Gesellschaft teilhaben,weil diese von und für Menschen ohne Behinderung geschaffen wurde.Als Analogie nennt der Professor die Gleichstellung von Mann und Frau-im 19.Jahrhundert noch undenkbar.Das Thema Behinderung sei eine ähnliche Herausforderung und «eine Sache von Jahrzehnten».

Wie reagiert der Bund auf die Kritik des Ausschusses? Andreas Rieder,Leiter des eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB),versichert,Bund wie Kantone seien in praktisch allen Bereichen,indenen Empfehlungen formuliert seien,«bereits an der Umsetzung».Man brauche aber Zeit.Laut dem Juristen sei «die Zugänglichkeit und Verständlichkeit von Informationen-vor allem Informationen in einfacher Sprache und in Gebärdensprache»zurzeit prioritär.

Laut Rieder zeichnet sich auch eine Verbesserung der individuellen Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben ab:«Die direkte Unterstützung von Betroffenen anstatt der Finanzierung von Institutionen»komme auf Kantonsebene voran.Die beiden Basel hätten eine solche Finanzierung schon eingeführt,Kantone wie Bern, Zug und Zürich seien ebenfalls daran.


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Finanzierung der Institutionen ändern

Anwalt Landolt bleibt skeptisch: Auch Glarus arbeite an einem Behindertenkonzept:«Wir dürfen uns nicht Sand in die Augen streuen lassen,es werden immer irgendwelche ausgearbeitet.Diese müssen dann aber auch in Gesetze und Verordnungen umgesetzt werden.»Die Finanzierung von Institutionen durch Bund und Kantone hält Landolt für falsch:«Das ist paternalistisch diskriminierend.» Weshalb sollte der Dienstleister Geld erhalten-und nicht der Dienstleistungsempfänger? Landolt sagt:«Stellen Sie sich vor, Sie gehen zur Arbeit und der Chef sagt Ihnen:Du erhältst den Lohn nicht,ich gebe ihn der Migros und du kannst dort einkaufen.»Menschen,die in einem Heim leben und Ergänzungsleistungen beziehen,würden monatlich für persönliche Bedürfnisse 250 bis 400 Franken erhalten.Das ergibt rund 8 bis 14 Franken proTag für die privaten Ausgaben.
Gjon David

«Assistenzbeiträge der Invalidenversicherung decken die Hilfeleistung nicht einmal ansatzweise»
Hardy Landolt,Titularprofessor für Sozialversicherungsrecht,St.Gallen