«ICH BIN EIN HARTNÄCKIGER UND MACHTBEWUSSTER MANN»

(Neue Zürcher Zeitung / Folio)


Islam Alijaj

 

Islam Alijaj,36,wurde mit einer Cerebralparese geboren. Seine Geh-und Sprechfähigkeiten sind beeinträchtigt. Er arbeitet als Projektleiter und ist Handicap-Lobbyist. Alijaj lebt in Zürich und sitzt für die SP im Gemeinderat. Er ist verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter.

Wie fühlt man sich,wenn man intellektuell unterschätzt wird?
Gekränkt,sagt Islam Alijaj.
Von Frank Heer,Bilder Dominik Meier

Herr Alijaj, werden Sie oft nicht an Grillparties eingeladen, weil die Leute denken: Das wäre jetzt zu kompliziert für Islam in seinem Roilstuhl – und die Wurst kann er auch nicht halten.
Ich werde vermutlich eher wegen meiner Sprechbehinderung nicht eingeladen als wegen meines Rollstuhls. Sie hat einen weit grösseren Effekt auf mein Leben als der Rollstuhl.

Dazu muss man wissen: Sie sprechen etwa so wie ich nach vier doppelten Whiskies.
Darum dachten früher viele Leute automatisch, dass ich auch kognitiv beeintrachtigt sei. Ich wurde ständig unterschatzt. Als Jugendlicher redete ich aus Angst, dass man mich nicht versteben würde, so wenig wie möglich.

Das heisst, auch für Sie ist die Sprechhehinderung die grössere Beeinträchtigung als die körperliche Behinderung?
Dass ich mich mündlich nicht so ausdrückcn kann, wie ich es möchte, empfand ich immer als die grösste Kränkung, ja. Weil man mich intellecktuell nicht ernst nahm. Das war eine bittere Erfahrung, und ich brauchte viele Jahre, um dièse Kränkung zu überwinden und das Selbstbewusstsein zu erlangen, das ich heute habe: grösser als das Matterhorn!

Sie haben Cerebralparese, kurz CP. Ich schrieb beim Formulieren dieser Frage zuerst: «Sie leiden an CP…» Und dann dachte ich, das könnte schon das erste Fettnäpfchen sein. Ich frage jetzt trotzdem: Leiden Sie unter lhrer Behinderung?
Als ich jünger war, habe ich sehr darunter gelitten. Vor allem unter den Reaktionen, die ich auf meine Behinderung erfahren habe. Heute ärgere ich mich über die vielen Einschrankungen, die meine Behinderung mit sich bringt. Zum Beispiel, dass mir im Alltag Hindernisse im Weg stehen, die mich ständig daran erinnern, kein erwünschter Teil der Gesellschaft zu sein. Hürden wie fehlende Rampen für Rollstuhlfahrer, die man problemlos beseitigen könnte. Ich bin derjenige, der auf diese Hindernisse reagieren muss, niemand kommt auf mich zu und fragt mich, was getan werden muss. um sie wegzuraumen.

Sie sagen, früher hatten Sie stark an Ihrer Behinde- rung gelitten. Heute nicht mehr?
Nein. Die Person. die ich heute bin, kann man nicht mit der Person vergleichen. die ich mit 18 Jahren war.Damals war ich ein komplett anderer Mensch. Mein Leiden habe ich seither überwunden.

Es gibt auch keine Rückfalle mehr?
Doch. Jeden Tag. Die Behinderung ist ein Scheiss. das kann man nicht schönreden. Ich habe sie nun mal, und sie lässt sich nicht bewaltigen. Aber ich kann Einfluss darauf nehmen, wie ich damit umgehen möchte. Vielleicht auch deshalb, weil die Unmöglichkeit, die Behinderung zu überwinden, mir erst den Antrieb gab, sie zu akzeptieren.

Das Hauptproblem, das CP verursacht, ist die eingeschränkte Motorik, weil Ihr Gehim Ihren Körper nicht richtig steuert. Ist das einigermassen richtig zusammengefasst?
Ja. Ich kann meine Muskeln nicht so ansteuern, wie ich das gerne möchte, und bin daher in meiner Beweglichkeit stark eingeschränkt. Weil eben auch die Zunge ein Muskel ist, der mir nicht gehorcht, bereitet mir das Sprechen Mühe.

Ihr Gehim sagt zum Beispiel: «Heb den Ball auf und wirf ihn weg», aber Ihr Körper kann die Bewegung nicht ausführen.
Ich kann mir im Kopf ailes mögliche ausmalen, was ich tun möchte, aber meine Muskeln wissen nicht, wie sie das anstellen müssen.

Ich habe mich auf Wikipedia schlaugemacht: Die drei typischen Auspragungsformen von CP sind Spastik (unkontrollierte Bewegungen), Athetose (langsame, schraubenhafte Bewegungen) und Ataxie (Koordinationsstôrung).

«Die Behinderung ist ein Scheiss, das kann man nicht schönreden.
Ich habe sie nun mal, und sie lässt sich nicht bewaltigen.»

Was ist bei Ihnen am meisten ausgeprëgt?
Die Spastik. Ich hatte Glück im Unglück. Oftmals kann es bei der Cerebralparese auch kognitive Beeinträchtigungen geben. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich scherze gerne, dass mein Intellekt zu 150 Prozent intakt ist. Die 50 Prozent, die bei der Leistungsfahigkeit meines Körpers wegfallen, habe ich dafür im Kopf. Aber im Ernst: Früher fühlte ich mich lange auch geistig beeintrachtigt.

Warum?
Weil ich nicht gefördert wurde. Ich habe zwar ein vollkommen gesundes Gehirn, trotzdem verbrachte ich mein ganzes Schulleben in der Sonderschule. wo ich zusammen mit lernschwachen Kindern im Gleichschritt unterrichtet wurde. Als 16 jähriger löste ich Matheaufgaben für 12 jahrige. Das Kopftraining, das mir damals gutgetan hätte, um mein Potential auszuschôpfen, kam viel zu kurz.

Sie waren am falschen Ort.
Ich hätte mega profitiert von einem integrierten Schulsystem, wie das heute üblich ist. Denn ich hatte ja keine Lernschwäche. Dass ich schlecht reden konnte, führte dazu, dass man mich intellektuell ständig unterschätzte. Weshalb ich dann «nur» das KV machen durfte. Ich wäre lieber an die Uni gegangcn, um Wirtschaft zu studieren, aber mcin Lehrbetrieb hattc mir abgcratcn. Man sagte mir, ich ware hier besser aufgehoben. Im Nachhinein erfuhr ich, dass der Betrieb für meinen Arbeitsplatz von der IV viel Geld erhielt. Das war eine Riesenverarschung.

«Als sich meine ersten sexuellen Bedürfnisse bemerkbar machten, fiel ich in eine totale Krise.»

Ich habe Ihnen meine Interviewanfrage per Mail geschickt. Die Antwort kam postwendend. Wie haben Sie meine Mail beantwortet?
Mit einem Finger tippend.

Das geht trotz der Spastik?
Ja, aber ich bin sehr langsam. Und weil ich neuerdings in meinem Amt als Zürcher Gemeinderat so viele Mails beantworten mass, kann ich das nicht mehr alleine bewaltigen. Ich habe eine Assistentn, der ich meine Mails diktiere.

Programme, welche die gesprochene Sprache in Text umwandeln, nützen nichts?
Nein, wegen meiner Sprechbehinderung verstehen mich diese Programme nicht.

Wäre es besser gewesen, ich hätte Sie angerufen, statt eine Mail zu schreiben?
Das wäre noch schwieriger gewesen.

Weil es Ihnen schwerfällt, das Telefon zu bedienen?
Das geht, aber Sie hätten noch mehr Mühe. mich zu verstchcn, als im direkten Gespräch.

Ich finde, man gewöhnt sich daran. So wie man sich an den Walliser Dialekt gewöhnt…
(lacht)

Sie sagten, Sie hätten eine Assistenzperson, die Ihnen bei gewissen Dingen im Alltag hilft. Wie oft pro Woche erhaiten Sie diese Unterstützung?
Bevor ich Gemeinderat wurde, kam die Person etwa zwei bis drei Stunden pro Arbeitswochentag, bezahlt von der IV. Nach meiner Wahl hatte ich etwa 220 Assistenzstunden im Monat gebraucht, um mein Amt ausüben zu können. Die IV bezahlt aber nur 120. Der Rest ist ungedeckt. Darum habe ich beim Gemeinderatsbüro und bei Pro Infirmis Antrage für zusätzlichc Assistenzstunden gestellt. Das ist ein grosser politischer Kampf. Die Zeit, die ich darauf verwende, würde ich als Gemeinderat lieber anders nutzen. Aber vielleicht kann ich so auch neue Tatsachen für Politiker mit eincr Behinderung schaffen, die nach mir kommen.

Beim Wort Behinderung ist man sich ja uneins, ob dieses nun glücklich oder weniger glücklich ist. Es gibt Leute, die finden, es sei pauschalisierend. Warum stimmt für Sie der Begriff?
Gemäss UN-Behindertenrechtskonvention spricht man von «Menschen mit Behinderungen». Also im Plural. Diese Formulierung bezieht sich nicht nur auf die Behinderung, die ein Mensch hat, sondem schliesst die äusseren Behinderungen ein, mit denen er im Alltag konfrontiert ist. Also strukturelle Hürden oder geselschaftliche Ausgrenzung. Mir persönlich ist es égal, wie man dem sagen will. Es bringt ja nichts, sich einen schönen Namen auszudenken, wenn sich damit die Situation für uns «Menschen mit Behinderungen» nicht verbessert.

Sie haben vor vier Jahren den Verein Tatkraft gegründet, der sich für «Barrierefreiheit als gesellschaftliches Qualitätsmerkmal» einsetzt. Fühlen Sie sich vor allem strukturell ausgegrenzt oder auch menschlich?
Zwar habe ich mir ein Leben erkampft, in dem ich selbstbewusst und unabhängig agieren kann, aber die grössten Barrieren sind noch immer durch die Struktur der Gesellschaft gegeben. Dazu gehören auch der Kampf und die Kommunikation mit den Behörden. Mit den Stellen, die mich daran hindern, das machen zu kônnen, was ich machen will.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Wenn ich seit vier Monaten für mehr Assistenzstunden kampfen muss, damit ich meine Arbeit als Gemeinderat erledigen kann, dann ist das eine Diskriminierung und eine unnötige Verschwendung meiner Lebenszeit.

Blöde Frage, aber ich weiss es wirklich nicht: Tut Cerebralparese weh? Haben Sie Schmerzen?
Das ist unterschiedlich. Im Winter, wenn es kalt ist, ist mein Körper besonders angespannt. Noch mehr als sonst. Das fühlt sich dann wie eine starke Verkrampfung an und tut sehr weh. Wenn ich vielleicht noch Schüttelfrost habe zum Beispiel, wenn ich von der Wärme in die Kälte komme, sind die Schmerzen wirklich stark. und ich kann meinen Körper kaum mehr steuern. Gleichzeitig ist mein Wille so gross, dass ich mich über diese Widrigkeiten oft genug hinwegsetze. Zum Beispiel im letzten Januar, als ich eigenhändig Flyer für meine Kandidatur als Gemeindcrat von Zürich in die Briefkästen warf.

Ihr Kopf sagt, wlr ziehen das jetzt durch, und Ihr Körper rebelliert.
Genau.

Gibt es Medikamente gegen die Schmerzen?
Nur gegen die Spastik. Leider haben sie starke Nebenwirkungen. Ich habe sie mal ausprobiert. als ich in der Reha war. Die Müdigkeit war überwültigend. Ständig hatte ich das Geftühl. k.o. zu sein. So kann ich mein Leben unmöglich führen. Ich bin ein aktiver Mensch, ich muss funktionieren. da nehme ich lieber die Schmerzen in Kauf.

Der Autor Christoph Keller schildert in seinem Buch «Jeder Krüppel ein Superheld». wie er den Alltag aus der Perspektive im Rollstuhl wahrnimmt. Nämlich als die Hölle, an die man sich gewöhnen muss. Haben Sie sich daran gewöhnt?
Als Teenager war mein Leben die Hölle. Von dem Moment weg. als sich meine ersten sexuellen Bedürfnisse bemerkbar machten, fiel ich in eine totale Krise. Mir wurde plötzlich klar, dass niemand meine Gefühle erwidern würde. Solange ich im Rollstuhl sitze. Dabei wollte ich doch den Madchen Eindruck machen! Also begann ich, einen riesigen Ehrgeiz zu entwickeln. Ich fing an zu trainieren, bis ich mich aus dem Rollstuhl erheben und am Rollator gehen konnte. Aber sexy ist so ein Seniorengefährt auch nicht, damit konnte ich kein Madchen beeindrucken. Also schaffte ich auch das: ohne Rollator zu gehen.

Ihr sexuelles Erwachen hat Sie aus dem Rollstuhl geholt.
Wobei ich später feststellen musste, dass es nicht immer die beste Lösung ist, auf den Rollstuhl zu verzichten. Zwar tat es meinem Ego gut, auf eigenen Beinen zu stehen. aber es ist auch anstrengend. Etwa an einem Apéro, zu dem man als Politiker öfter eingeladen ist. Ich kann nicht entspannt mit einem Glas herumlaufen und Smalltalk betreiben, auch wenn das mein Ego möchte. Darum benutze ich heute wieder häufiger den Rollstuhl. Zwar schauen dann aile auf mich hinab, aber ich bin stark genug, um mit meiner Prasenz einen Raum zu füllen, damit ich nicht libersehen werde.

Warum waren Sie als Kind eigentlich so lange an den Rollstuhl gefesselt?
Durch meine Spastik konnte ich nur auf allen vieren herumkriechen. Das führte dazu, dass sich die Schnen in meinen Beinen verkürzten und ich mich nicht aufrichten konnte. Ich machte zwar Therapien seit dem Kindergarten, aber erst eine Reihe von Operationen ab meinem achten Lebensjahr führten zu einer Verbesserung.

Sie heissen zum Vomamen Islam.
Auch wieder so ein Wort, das aufschreckt: jemand mit Migrationshintergrund!

Zudem noch ein Muslim.
Meine Eltern gehoren dem Sufismus an, einer mystisch-spirituellen Strömung im Islam. In Kosovo, wo meine Famille herkommt, ist diese jedoch kaum verbreitet und wird eher im Verborgenen praktiziert. Musik und Tanze spielen eine grosse Rolle, auch die Bereitschaft zur Anpassung. Dadurch sind die Sufisten heute auf der ganzen Welt verstreut und überall gut integriert. Toleranz ist ein zentrales Thema – dass man andere Meinungen akzeptiert, sich zuhört. Das habe ich auch von meinen Eltern mit auf den Weg bekommen.

Würden Sie sich als religiös bezeichnen?
Ich bin gläubig, aber nicht religiös. Ich gehe nicht in die Moschee. aber ich glaube an Gott und rede viel mit ihm.

Gab es da auch schon Streit? Im Sinne von: Warum hast du mir das angetan?
Sicher. Die Frage, warum mir Gott diese Bürde auferlegl, habe ich ihm immer wieder geslellt. Was habe ich getan, dass du mich so bestrafst? Aber genau durch diesen Prozess realisierte ich, dass mich Selbstmitleid nicht weiterbringt, dass meine Behinderung eine Herausforderung ist, die ich annehmen muss. Auch im Sinne einer Chance. Das ist im ersten Moment ein Widerspruch. aber so bin ich nun mal als Mensch: Ich heisse Islam, bin aber nichi religiös. Ich habe einen behinderten Körper, bin aber fit im Kopf. Ich bin Politiker, kann aber nicht gut reden. Lauter Widersprüche. die mich anspornen.

Wir «Normalos» – ich hoffe, der Begriff ist okay für Sie – werden oft nervös. wenn wir Behinderten begegnen. Wir verhalten uns komisch, am liebsten würden wir wegschauen. Haben Sie sich schon mal überiegt, warum das so ist?
Ich bin zur Einsicht gekommen, dass wir Behinderte für euch Gesunde so was wie ein Spiegelbild sind. Ihr erkennt in uns eure eigenen Schwächen und Ängste.

Konnte es damit zu tun haben, dass wir uns nicht vorstellen können oder wollen, in einem Korper zu leben, der einem nicht gehorcht und der komisdie Bewegungen macht?
In einem gesunden Körper flühlt man sich wie ein Superheld. Dabei kann es schon reichen, blöd hinzufallen. und man zerbricht wie Glas. Diese Angst sleckt in jedem Menschen. Hinzu kommt die ganze Religionsgeschichte: Es heisst ja. Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild geschaiïen. Aber Behinderte sehen nicht aus wie von Gott geschaffen.

Die Behinderungals Beleidigungdes Gottesbilds.
Es gibt ja nicht umsonst das Wort «invalid». was so viel wie «ungültig» oder «unnütz» bedeutet. Christoph Kelier, mit dem ich ab und zu maile, regt sich darüber immer grausam auf. Und ich gebe ihm recht. Aber im Prinzip stebt dieses Wort nur dafür, wie ihr Nichtbehinderte uns Behinderte einschätzt.

Man muss leider sagen: Aus der Perspektive der ignoranten Gesellschaft ist das zwar brutal, aber wenigstens ehrlich.
Absolut. Denn für die Gesellschaft stellen wir ja keinen Wert dar. Wir sind ein Kostenfaktor.

Wer Ihnen beim Laufen zusieht, denkt vielleicht: «der arme Mann». Auch so ein typischcs Reaktionsmuster, das mit dem Bild des «Invaliden» zu tun hat. Wie arm sind Sie tatsächlich?
Ich entspreche nicht dem «Idealbild» des armen Behinderten. Weil ich kein hilfloses Geschöpf, sondern ein selbstbewusster, hartnäckiger und auch machtbewusster Mann geworden bin, der weiss, dass er Einfluss auf die Gesellschaft nehmen kann.

Aber haben Sie sich früher in der Opferrolle des «armen Behinderten» auch gesuhlt? Weil Sie so weniger Verantwortung übernehmen mussten?
Es gab und gibt solche Tage. Weil es angenehm ist, sich helfen zu lassen, sich auszuruhen. Es ist aber vor allem eine Frage des Charakters und weniger der Behinderung, ob man sich hinter einer Opferrolle versteckt oder nicht.

Es gibt Studien, laut denen Erwachsene mit CP häufiger als andere gegen Depressionen und Angstzustände kampfen. Haben Sie jemals eine Psychothérapie gemacht?
Das würde ich gerne einmal tun, einfach, weil es mich interessiert, was ein Psychiater üher mich zu sagen hätte. Aber ich habe es tatsächlich ganz alleine geschafft, mich aus meiner Opferrolle zu befreien. Stact mit einem Psychiater habe ich mit mir selbst gesprochen.

«Das Wort stcht nur dafür, wie ihr uns Behinderte einschatzt. Für die Gesellschaft stellen wir keinen Wertdar. Wir sind ein Kostenfaktor.»


Islam Alijaj ist nicht immer auf den Rollstuhl angewiesen. Aber es ist anstrengend für ihn,auf seinen Beinen zu stehen

 

Selbstgespräche?
In Gedanken oder auch laut vor dem Spiegel. Ich sah mich an und fragte mich: Aller, was willst du eigent- lich? Ich ging durch eine schwierige. aufwühlende Zeit. Da war eine emotionale Kälte in mir, und ich musste erst einmal herausfinden, wer ich bin, was ich mit mir und meinem Leben anfangen wollte. All diese Fragen und Ängste flossen in diese Selbstgespräche ein. Auch die Einsicht, dass ich meine Behinderung nie überwinden werde. Ich kann sie akzeptieren, aber liberwinden werde ich sie nie.

Wie lange muss man sich diesen Prozess vorstellen?
Zehn. zwölf Jahre, und er geht immer weiter, Er wird vermutlich nie abgeschossen sein.

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich als zunehmend inklusiv versteht. Man ist politisch korrekt, man ist «woke», sensibilisiert auf Geschlechterfragen und Hautfarben. Trotzdem scheint mir, dass Behinderte in dieser Gesellschaft noch immer keinen Platz haben. Wie sehen Sie das?
Das ist leider so. Wenn wir von Inklusion sprechen, sind Behinderte oft nicht mitgemeint. Und es stört mich ungemein, dass das noch immer so ist.

Warum ist das so?
Das ist die Frage! Vielleicht spielt da die Angst der Nichtbehinderten mit hinein, über die wir gesprochen haben. Zwar ist es allen ein Anliegen, dass wir Behinderte gut versorgt sind und es uns gutgeht. Aber am liebsten an einem Ort, wo man uns nicht sieht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Anders kann ich es mir nicht erklären.

Haben Sie Ihr Leben auch schon gehasst?
Als Jugendlicher ja, heute nicht mehr. Die Liebe ist mein Weg zum Erfolg.

Die Liebe?
Zum einen die Liebe, die ich geben kann, an meine Freunde, meine Familie und mein Umfeld. Zum andern aber auch die Liebe, die ich bekomme. Da- mit meine ich auch die korperliche Liebe. Als ich meine Frau kennengelernt habe, hat sich mein Leben total verandert. Und dann gleich noch einmal, als unsere Kinder zur Welt kamen. Auch die bedingungslose Liebe zwischen Vater und Kind hat mir viel Kraft gegeben.

Sie haben in einem Interview gesagt, das Thema «Sexualitat und Behinderung» sei nach wie vor ein Tabu. Reden wir darüber.
Okay.

Sie meinten wahrscheinlich, das Thema sei ein Tabu unter uns «Normalos»?
Ja.

Weil wir uns nicht vorstellen wollen, wie jemand mit einer Behinderung ein erfülltes Sexualleben haben kann?
Meine sexuellen Gefühle sind für mich ganz natürlich. Auch der Wunsch, sexuel aktiv zu sein. Wie genau, das ist jetzt eine andere Frage. Aber ich wehre mich gegen die Vorstellung, dass wir Behinderte als asexuelle Geschöpfe wahrgenommen werden. Es ist noch nicht sehr lange her, da wurden behinderte Menschen in der Schweiz zwangssterilisiert Auch heute ist das unter bestimmten Umständen noch möglich.

Sie sind verheiratet und Vater zweier Kinder. Gibt Ihnen die Familie eine gewisse Normalität?
Sie ist für mich ein Rückzugsort, an dem ich mich nicht behindert fühle. Wo ich meine Behinderung und die ganzen Problème drumherum komplett vergessen kann.

Die Familie als «behinderungsfreie Zone».
Ich mochte sie nicht in meinen Kampf hineinziehen. Dieser Kampf ist mein Kampf, und nicht der meiner Frau und meiner Kinder. Meine Frau ist mir eine grosse Stütze und Hilfe. Aber ich will nicht, dass sie mich betreuen muss. Dafür habe ich eine Assistenz, die mir bei den alltaglichen Dingen hilft, die ich meiner Frau nicht zumuten mochte. Es wäre nicht sexy für uns beide und schlecht für die Bezichung, wenn sie das tun müsste. Auch meine Kinder sollen mich als Vater und Vorbild erleben, nicht als hilfloses Geschöpf, das sich nicht alleine anzichen kann.

Ihre Kinder sind acht und vier Jahre alt. Wie gehen sie mit Ihrer Behinderung um?
Im Moment ist das noch kein grosses Thema. Aber man darf sich nichts vormachen: Die Beziehung zu meinen Kindern wird keine normale sein. So wie ich zu meinen Eltern keine normale Beziehung hatte. In einer gewöhnlichen Familie nimmt die Fürsorge, die man seinen Kindern entgegenbringt, mit dem Alter ab. Ich war von der Fürsorge meiner Eltern noch im Teenageralter abhängig. Es dauerte sehr lange, bis ich die Unabhängigkeit erreichte, die ich heute habe. Das war auch für meine Eltern wichtig. Sie sind heute viel ruhiger und zufriedener. Jetzt, wo ich selbst Vater bin, mochte ich verhindern, dass meine Kinder in eine Abhängigkeit geraten, weil sie denken, dass sie sich um mich kümmern müssen.

Irgendwann kommt in jeder Familie der Moment, in dem sich die Kinder für ihre Eltern fremdschämen. Haben Sie davor Angst?
Es gibt Väter ohnc Beeintrachtigung, die nichts aus ihrem Leben machen. Ich könnte ja den ganzen Tag zu Hause sitzen und Netflix schauen. Das ware bequemer als im Zürcher Gemeinderat zu sitzen. Aber das ist nicht mein Weg. Meine Kinder sollen an meinem Beispiel sehen, dass es möglich ist, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten.

Frank Heer ist Schriftstelle Kulturredaklor bei der «NZZ am Sonntag» und lebt in Zurich.
Dominik Meier ist Fotograf und lebl in Zürich.