«Jedem Krüppel seinen Knüppel»

(NZZ Neue Zürcher Zeitung)

Die Geschichte der Behinderung ist von Ausgrenzung geprägt. Die vergangenen hundert Jahre waren ein Kampf gegen Vorurteile und Bevormundung.
Reto U. Schneider

1920 Gründung der Schweizerischen Vereinigung für Anormale, der Vorläuferorganisation von Pro Infirmis.

1920 Das preussische Krüppelfürsorgegesetz regelt erstmals die Rehabilitation von Behinderten. Darin findet sich der Satz: «Jede körperliche Abweichung vom Normalen wirft auf das Bewusstsein des Verunstalteten einen Schatten …»

1920 Im Buch «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» plädieren zwei deutsche Professoren für die straffreie Tötung von «unheilbar Blödsinnigen».

1930 In Paris wird der weisse Blindenstock erfunden.

1932 Im Horrorfilm «Freaks» verhindern Kleinwüchsige und Menschen mit Fehlbildungen ein Verbrechen.Lange Zeit verboten, gilt der Film heute als Aufruf zur Toleranz gegenüber Andersartigen.

1933 Das nationalsozialistische Regime in Deutschland erlässt das «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses».

1933 Franklin D. Roosevelt wird zum Präsidenten der USA gewählt. Er versteckt zeitlebens, dass er an Kinderlähmung erkrankt ist und kaum gehen kann.

1939 In Deutschland werden Tausende von behinderten und psychisch kranken Personen systematisch umgebracht.

1954 Der 22jährige Ire Christy Brown veröffentlicht seine Autobiographie «My Left Foot». Brown ist zerebral gelähmt und hat einzig Kontrolle über seinen linken Fuss. Das Buch wird zu einer literarischen Sensation.

1960 In Rom finden die Paralympics statt, die ersten olympischen Spiele für Behinderte.

1960 Die Schweiz führt die Invalidenversicherung ein.

1967 Gründung des nationalen Theaters der Gehörlosen in den USA.

1972 In Berkeley, Kalifornien, wird das erste Zentrum für das selbstbestimmte Leben behinderter Menschen gegründet.

1975 Die Uno verabschiedet die Erklärung über die Rechte behinderter Menschen. Sie legt fest, dass Behinderte «die gleichen staatsbürgerlichen und politischen Rechte [haben] wie andere Menschen».

1977 In Deutschland gründen Behinderte die «Krüppelgruppe». Sie versteht sich als Protestbewegung gegen die Bevormundung durch Nichtbehinderte.

1977 Die Zürcherin Ursula Eggli veröffentlicht im Buch «Herz im Korsett» ihre Tagebuchnotizen. Eggli leidet an Muskelschwund und hat eine Wohngemeinschaft aufgebaut, in der Behinderte und Nichtbehinderte zusammenleben.

1980 Die Weltgesundheitsorganisation definiert Behinderungen nicht mehr nur als individuelle Schädigungen, sondern auch als Beeinträchtigungen, die durch die Umwelt entstehen: bauliche Barrieren oder die Einstellung anderer Menschen.

1981 An der Eröffnungsfeier des Uno-Jahrs der Behinderten in Dortmund besetzen behinderte Aktivisten die Bühne und fordern mehr Selbstbestimmung. Ihr Leitspruch: «Jedem Krüppel seinen Knüppel!»

1981 Der Brockhaus erwähnt erstmals den Begriff Behinderte.

1981 Das Schweizer Fernsehen sendet einmal im Monat die Sendung «Sehen statt Hören», für Gehörlose.

1987 Die 21jährige gehörlose Schauspielerin Marlee Matlin gewinnt für ihre Rolle in «Gottes vergessene Kinder» einen Oscar.

1988 Dustin Hoffman spielt in «Rain Man» einen Autisten. Der Film ist für die meisten Zuschauer die erste Begegnung mit Autismus.

1988 Die Studentenschaft der Gallaudet-University für Gehörlose in den USA streikt. Ihrer Forderung nach einem gehörlosen Schuldirektor wird nach kurzer Zeit nachgegeben.

1991 Marc Suter wird in den Nationalrat gewählt. Der FDP-Politiker ist der erste Paraplegiker im Schweizer Parlament.

1991 Der Philosoph Peter Singer wird an einem Vortrag in Zürich von Behindertenaktivisten tätlich angegriffen, weil er Sterbehilfe bei schwerstbehinderten Säuglingen für moralisch gerechtfertigt hält.

1992 Das Amtsgericht Flensburg spricht einem Ehepaar zehn Prozent Reisekostenrückerstattung zu, weil sich im Speisesaal ihres Hotels behinderte Urlauber aufhielten.

1993 In Zürich wird das Theater Hora gegründet, das geistig behinderten Schauspielerinnen und Schauspielern ein professionelles Theaterumfeld bieten will.

1993 Der schwer behinderte Physiker Stephen Hawking spielt in «Raumschiff Enterprise – das nächste Jahrhundert» sich selber.

1999 Der britische Designer Alexander McQueen engagiert für seine Modeshow mehrere behinderte Models.

1999 In Zürich wird die «Blinde Kuh» eröffnet, das erste Dunkelrestaurant der Welt. Es wird von Blinden und Sehbehinderten betrieben und bald überall nachgeahmt.

2000 Die neue Bundesverfassung enthält das ausdrückliche Verbot der Diskriminierung wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

2004 Das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen tritt in
Kraft. Es verlangt unter anderem die Integration behinderter Kinder in die Regelschule.

2006 Die Uno nimmt die Behindertenrechtskonvention an, ein Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen.

2008 Die Invalidenversicherung finanziert keine Sonderschulung mehr. Das ist nun Sache der Kantone.

2012 Die Revision der Invalidenversicherung ermöglicht es Behinderten erstmals, Hilfestellungen selber
einzukaufen, zum Beispiel Assistenten selber anzustellen. Allerdings sind Personen im unmittelbaren Umfeld davon ausgeschlossen.

2014 Acht Jahre nach der Annahme durch die Uno ratifiziert auch die Schweiz die Behindertenrechtskonvention – als 144. Staat.

2015 Jamie Brewer ist die erste Frau mit Down-Syndrom, die an der New York Fashion Week über den Laufsteg geht.

2017 Um Unfälle zu verhindern, verbietet Nepal Blinden und beidseitig Beinamputierten die Besteigung des Mount Everest. Bis dahin hatten 29 Menschen mit Behinderung eine Besteigung versucht, 15 erreichten den Gipfel, 2
starben.

2020 Im Kanton Genf bekommen Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung das Stimm- und Wahlrecht.

2022 Im Kanton Zürich können Behinderte Betreuungsgutscheine erhalten, die sie nicht nur bei institutionellen Anbietern einlösen dürfen, sondern auch bei Verwandten, Freunden oder Nachbarn. Diese Massnahme soll ihnen ermöglichen, selbstbestimmt zu leben.