«Weil ich zur Gesellschaft dazugehöre»

(St. GallerTagblatt / St. Gallen-Gossau-Rorschach)

Der Ostschweizer Damian Bright möchte selbstständig wohnen.Doch dafür erhält der 31-Jährige mit Trisomie 21 zu wenig Unterstützung.

Eine Steintreppe führt zum Sitzplatz.Im Garten blühen Lavendel, Rosen, Mohnblumen.Schmetterlinge tanzen über die Wiese.Damian Bright stellt einen Teller mit Mandelbärchen auf den Tisch,an dem seine Mutter bereits Platz genommen hat.«Bringst du noch die Guetzli?»,sagt sie.Wer die Gastgeberin oder derGastgeber ist,erschliesst sich den Besuchern nicht gleich im ersten Moment. Wohl aber,wer hier die Chefin ist. Ursula Bolliger Bright,Damians 67-jährige Mutter.Das Holzhaus an der Freudenbergstrasse in Oberuzwil ist ihr Elternhaus. Als ihr Bruder vor drei Jahren an einem Herzinfarkt starb,lag die Lösung auf der Hand.Damian sollte allein hier einziehen.Endlich aus der gemeinsamen Wohnung mit der Mutter in Weesen ausziehen, selbstständig wohnen können für junge Erwachsene das Natürlichste auf der Welt.Und Bolliger,die Pensionärin,wollte sich endlich zurücklehnen,Verantwortung abgeben,noch einmal reisen gehen.«Ich bin alt und müde»,sagt sie.Der Plan ging nicht auf.Seit drei Jahren kämpft Bolliger für angemessene Unterstützungsbeiträge für ihren Sohn.

Der 31-Jährige hat das Downsyndrom.Er braucht Hilfe in administrativen Belangen. Unterstützung,damiter Arzttermine und das Staubsaugen nicht vergisst.Damiter morgens daran denkt,zu frühstücken statt um fünf Uhr in der Frühe auf einen Zug zu hetzen;damit er die Medikamente gegen die Basedow-Krankheit regelmässig einnimmt,nicht nur Re dBull, Coca-Cola und Schokolade einkauft und «sich nicht 200-mal den Film anschaut»,wie seine Mutter sagt.Und,damit«nichts Verkehrtes»auf dem Handy drauf ist-ein Abo auf nackte Frauen etwa. Vier Stunden täglich müsste jemand auf ihn schauen.Jemand,der nicht Ursula heisst und seine Mutter ist.Denn bis diese abgelöst wird,ist sie gezwungen,selber in Oberuzwil im oberen Stockwerk des Hauses zu leben-wieder gezwungen zu dieser WG,die sie beide nicht mehr sein wollen.«Er will nicht mehr mit der Mutter zusammenwohnen und ich nicht mehr mit ihm.»So einfach wäre das. Wenn Ursula Bolliger lacht, klingt es verzweifelt.Ihre Freundinnen hüten ihre Enkel.Vielleicht für ein paar Stunden.Sie kann nicht wählen.

Bright lacht verschmitzt. «Ich weiss von mir,was ich kann.Ich bin einfach zu langsam»,sagt er.Und dann leicht verärgert,zu seiner Mutter.«Ich schaue im Fernseher,was ich will und so oft ich will.»

Zu wenig Unterstützung zugesprochen

2019 meldete Bolliger ihren Sohn,der eine IV-Rente bezieht, für Assistenzbeiträge an-Stunden,in denen Beeinträchtigte unterstützt werden,um ein möglichst eigenständiges Leben ausserhalb einer Institution zu führen.Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St.Gallen wies die Forderung ab, unter anderem mit der Begründung,Brights Mutter wohne ja weiterhin in Weesen,er brauche gar keine Unterstützung.So gelangte die Familie ans Versicherungsgericht,worauf sie im Dezember 2020 Recht bekam.Eine zweite Assistenzabklärung ergab im Dezember 2021 schliesslich einen Zuspruch von gerade einmal 14 Stunden Assistenz monatlich.«Diese Einschätzung ist nicht nachvollziehbar»,sagt Bolliger.Sie schüttelt den Kopf,ihre Stimme zittert. «Mich regt das furchtbar auf.» Denn:Selbst wenn weitere 35 Stunden in Form von Hilflosenentschädigung vom Bund dazu kommen,seien das 70 Stunden zu wenig,um ein selbstständiges Leben führen zu können. Die Familie machte Einsprache, das Verfahren ist hängig.

Damian Bright hat sich ein paar Gedanken von der Mutter notieren lassen.Mich sollte es doch gar nicht geben,steht da. Schon als es Zeit war,in den Kindergarten zu gehen,sagte die Schulbehörde,du gehörst nicht ins Quartier,du gehörst auf den Hügel.Da sind alle so wie du.Zum Schulbeginn zeigte die Behörde wieder auf den Berg.Für Mongoloide braucht es keine Ausbildung, die können auch so in der Werkstatt arbeiten,meinte der Berufsberater.

Es ist der Kampf,teilzuhabenam Leben,dazuzugehören.Nicht nur beim selbstständigen Wohnen,auch bei der Arbeit. Bright hat den Kampf nie aufgegeben.Er hat ein Diplomals Assistenzlehrer für die Volksschule abgeschlossen,ein CAS von der Tessiner Theaterakademie Dimitri, wo er sich in Tanzperformance weiterbildete.Mit dem Theater Hora tourte er zusammen mit weiteren Menschen mit Beeinträchtigung zehn Jahre lang durch die Schweiz und auf fünf Kontinente,trat als Schauspieler und als Tänzer auf.Bright geht an Tagungen,übersetzt Texte in die leichte Sprache für die Organisation Pro Infirmis.

Im Heim ist er immer wieder abgehauen

Ihr Sohn könne ja in einem Heim wohnen.Dutzende Male habe sie diesen Satz in den letzten drei Jahren gehört,sagt Bolliger.Dass es nicht gehe,zeigte die Zeit auf dem besagten Hügel-im Johanneum.Im Heim in Neu St.Johann lebte Bright 2006 für knapp ein Jahr.Immer wieder sei er abgehauen. Ausserdem,sagt Bolliger,koste ein Aufenthalt in einem Heim im Kanton St.Gallenr und 10000 Franken-mindestens 3000 Franken mehr als das selbstständige Wohnen mit Assistenz,IV-und Ergänzungsleistungen.

Warum möchte er nicht in einem Heim leben?«Weil ich schon immer zur Bevölkerung dazugehört habe.Es wäre einfach falsch»,sagt Bright.Und fügt an:«Alleine leben heisst, man hat gewisse Aufgaben.»Er lächelt wieder verschmitzt und sagt:«Alleine leben heisst auch, ich kann meine Lautsprecher aufstellen und so laut Musikhören,wie ich will.»

Schweiz verletzt Rechte der Menschen mit Behinderung

Brights Wunsch ist nicht ein Hirngespinst,sondernmüsste gemäss UNO Behindertenrechtskonvention,welche die Schweiz 2014 unterschrieb, schon längst umgesetzt worden sein.Sostellt der neueste UNO-Bericht vom März dieses Jahres der Schweiz ein schlechtes Zeugnis aus.Neben einer fehlenden Strategie für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems und fehlenden Unterstützungsangeboten auf dem Arbeitsmarkt oder angepassten Stellen würden auch im Wohnbereich die Rechte der Menschen mit Behinderung verletzt.«Die Schweizfokussiert noch zu stark auf institutionelle Wohnformen und bietet nur unzureichende Unterstützungsleistungen für selbstständiges Wohnen an», hält der Bericht fest.Der Beirat fordert die Schweiz denn auch zur Deinstitutionalisierung beeinträchtigter Menschen auf.

«Der Zeitplandes Kantons ist nicht gerade ehrgeizig»

«Während in den Kantonen Bern und Basel Beeinträchtigte bereits vermehrt selbstständig wohnen und auch Zürich und Luzern diesbezüglich weit fortgeschritten sind,hat im Kanton St.Gallen nicht die Politik,sondern die Verwaltung gemerkt, dass das neunjährige Gesetz überarbeitet werden müsste», sagt Hansueli Salzmann,Geschäftsleiter der Behindertenorganisation Procap St.Gallen Appenzell. Die Gesetzesrevision,die im Januar angestossen wurde,sieht Verbesserungen in drei Bereichen vor:Einerseits soll die familienergänzende Betreuung für kleine Kinder mit Behinderung verbessert,die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung verankert und drittens das Finanzierungssystem geändert werden.Statt Heime sollen Betroffene direkt Entschädigungen erhalten.«Die Überlegung der Subjektfinanzierung,die in Appenzell Ausserrhoden und im Thurgau bereits eingeführt wurde,geht in die richtige Richtung»,sagt Salzmann.Das selbstbestimmte Leben umfasse aber auch die Arbeit und den Freizeitbereich. Salzmann spricht von noch immer inakzeptabel hohen Hürden,Assistenzleistungen zu erhalten und Fehlanreizen,Beeinträchtige in einem Heim zu versorgen,statt sie im selbstständigen Wohnen zu unterstützen.So gebe es in der Ostschweiz kaum Angebote, dass Menschen mit Behinderung einen eigenen Mietvertrag bekommen können. Und schliesslich kritisiert er:«Der Zeitplan des Kantons,die Vorgaben bis 2027 umzusetzen,ist nicht gerade ehrgeizig.»

Laura Bucher gelobt Besserung

Regierungsrätin Laura Bucher bestätigt auf Anfrage:«Die heutige Finanzierung der Bedürfnisse von Personen mit einer Behinderung ist zu einem grossen Teil mit dem Aufenthalt in einer Institution verbunden.»Es sei ihr Ziel,in den nächsten Jahren die Finanzierungslogik anzupassen und damit auch andere Wohn-und Lebensformen zu erleichtern.Der zeit würden die Grundlagearbeiten zur Gesetzesrevision und die Vorbereitungen für den Einbezug der Anspruchsgruppen laufen.Zum konkreten Fall nimmt die Vorsteherin des Departements des Innern keine Stellung. Sie schreibt,die Leistungen beim betreuten Wohnen seien im Rahmen des IX.Nachtrags zum Ergänzungsleistungsgesetz verbessert worden.«Der Kanton St.Gallen zahlt heute auch beim begleiteten Wohnen die fehlenden Zuschüsse,da der Bund dies leider nicht ausfinanziert.»Weitere Verbesserungen,die mit der Systemumstellung ein hergingen,bräuchten Zeit und «wir wollen die Erfahrungen aus anderen Kantonen berücksichtigen», schreibt sie weiter. Ausserdem habe man ambulante Leistungen ausgebaut.

Für Bolliger und Bright sind das keine befriedigenden Antworten.Muss es tatsächlich noch Jahre dauern,bis der Sohn zu seinem Recht kommt,die Mutter zu ihrem Ruhestand?

Es gibt einen Bereich,in dem Damian Bright nicht achtmal langsamer ist als «neurotypische» Menschen,wie die Mutter sagt. Bright lächelt wieder verschmitzt,holt seinen Lautsprecher in den Garten,dreht die Musik auf.Uigurische Musik, ein selbst einstudiertes Stück.15 Minuten lang tanzt er über die Wiese,leicht wie ein Schmetterling. Nicht einmal gerät er ins Stocken oder ins Stolpern.

Janina Gehrig

«Es gibt zu viele Fehlanreize Beeinträchtigte in einem Heim zu versorgen.»
Hansueli Salzmann
Procap St.Gallen-Appenzell


Alleine leben heisst,man hat gewisse Aufgaben»,sagt Damian Bright, Bild:Benjamin Manser