«Die Bevölkerung wird hinters Licht geführt»

(Surprise Strassenmagazin)

Sozialversicherungen Die IV berechnet Renten falsch und Bundesrat Alain Berset redet sich heraus. Rechtsprofessor Thomas Gächter ist entsetzt.
TEXT UND INTERVIEW ANDRES EBERHARD

Unlängst sorgten falsche IV-Gutachten für einen veritablen Skandal. Ärztinnen verdienten Millionen, indem sie Gefälligkeitsgutachten für die IV erstellten, in denen sie Kranke gesundschrieben. Diesen Vorwurf konnten Anwältinnen und andere Fachleute erhärten. Das Parlament beschloss vor knapp zwei Jahren einige Massnahmen, die das Problem mehr schlecht als recht lösten – etwa die Pflicht zu Tonaufzeichnungen bei den Gutachtergesprächen.

Nun folgt bereits der nächste Skandal: Mit einem Trick rechnet die IV die Renten klein. Massgebend für die Höhe der Renten ist der IV-Grad. Dieser drückt aus, zu wieviel Prozent jemand arbeitsunfähig ist. Der IV-Grad wiederum berechnet sich durch einen Vergleich: Das Einkommen, das die Person als Gesunder verdient hatte, wird dem Einkommen gegenübergestellt, das diese trotz Invalidität erreichen könnte. Letzteres muss in aller Regel geschätzt werden. Zu diesem Zweck greift die IV auf Lohntabellen des Bundesamtes für Statistik (BfS) zurück. Diese sind für die IV aber nicht geeignet.

Erstens spiegeln die Tabellen dieser Lohnstrukturerhebung (LSE) die Löhne von Gesunden wider, nicht von Invaliden. Gesunde verdienen 10 bis 20 Prozent mehr als Kranke, wie zwei unabhängig voneinander durchgeführte Studien von 2021 zeigten. Zweitens enthalten vermeintliche Tieflohnkategorien auch verhältnismässig gut bezahlte, körperlich anstrengende Jobs (z.B.Strassenarbeiten). Diese können IV-Bezügerkinnen nur sehr selten weiter ausüben. Und drittens weisen die Tabellen erhebliche Mängel auf. So sind Monatslöhne bis 13 000 Franken in der Kategorie der «Hilfsarbeiteeinnen» enthalten. Dazu kommt es, weil das BfS die Daten bei den Arbeitgebenden erfragt. Machen diese ungenaue Angaben -wie «Mitarbeiterkin» oder «Angestellter» -,landen auch Spitzenverdienerkinnen in der Tieflohnkategorie. Die Folge dieser systematischen Rechenfehler: Der IV-Grad sinkt, und damit die Rentenleistungen. Viele Teilrenten sind zu tief, zahlreiche Gesuche werden ganz abgelehnt. Denn erst ein IV-Grad von mindestens 40 Prozent berechtigt zu einer Teilrente. Anspruch auf eine Eingliederungsmassnahme oder Umschulung hat, wer zu mindestens 20 Prozent arbeitsunfähig ist.

Das Problem ist dem Bundesamt für Sozialversicherungen mindestens seit 2015 bekannt. Damals gab das Bundesgericht dem Amt zu verstehen, dass es eine präzisere Methode ausarbeiten solle. Passiert ist bis heute nichts.

Nun, da der Skandal an die Öffentlichkeit kommt, forderte Gesundheitsminister Alain Berset vom Ständerat: «Geben Sie uns jetzt etwas Zeit.» Man müsse, so Berset, erst die Folgen der neuen IV-Verordnung auf die Praxis abwarten. Diese ist seit Anfang Jahr in Kraft, zementiert aber die unfaire Berechnungsmethode. Dabei hatten in der Vernehmlassung sämtliche Parteien, zahlreiche Kantone, Organisationen sowie Wissenschaftlerinnen auf den Miss-stand aufmerksam gemacht.

Thomas Gächter, die IV-Renten sind systematisch zu tief, lautet das Fazit von zwei unabhängigen Untersuchungen. Sie schrieben dem Bundesrat daraufhin einen Protestbrief. Haben Sie eine Antwort erhalten?
Thomas Gächter: Ja, eine sehr freundliche sogar. Inhaltlich waren das allerdings eher Ausflüchte und Nebelpetarden. Bundesrat Berset schrieb uns beispielsweise, dass es künftig häufiger zur sogenannten Parallelisierung von Einkommen kommen soll. Das ist ein Instrument, mit dem die unpräzise Berechnung zumindest bei tiefen Einkommen teilweise korrigiert werden kann. An konkreten Hinweisen, dass dies in der Praxis tatsächlich häufiger gemacht werden soll, fehlt es allerdings. Die Berechnung mittels absurder hypothetischer Einkommensvergleiche hingegen wurde im Verordnungstext ausdrücklich verankert.

Nach politischem Druck sagte Alain Berset im Parlament, eine alternative Berechnung der IV-Renten brauche Zeit. Seit Anfang Jahr gilt eine neue IV-Verordnung, jetzt müssten die Folgen abgewartet werden.
Das Problem ist der IV seit vielen Jahren bekannt. Zeit wäre mehr als genug vorhanden gewesen. Und von den Punkten, die wir kritisieren, ist in der neuen Verordnung kein einziger behoben worden. Das Problem wird sich eher verschärfen. Die Zahl jener, bei denen die Rechenfehler direkte Auswirkungen auf die IV Rente haben, wird steigen. Denn beim sogenannten stufenlosen Rentensystem wird neu weniger gerundet, es wird aufs Prozent genau gerechnet.


Weniger IV-Rentnerinnen
Die Wohnbevölkerung der Schweiz wuchs in den letzten 20 Jahren um 1,4 Millionen
Menschen. Die Anzahl der IV-Rentner*innen veränderte sich jedoch kaum.

 

Kürzlich hat das Bundesgericht die offensichtlich falsche Berechnungspraxis geschützt. Wie kann das sein?
Das Bundesgericht prüft nur Einzelfälle, und dort nur die rechtlichen Grundsätze. Die waren in diesem konkreten Fall offenbar
eingehalten worden. Die fraglichen Lohntabellen hat das Bundesgericht im Ausnahmefall stets gebilligt. Das Problem ist, dass
die Tabellen in der Praxis nicht die Ausnahme sind, sondern die Regel. Das Bundesgericht hätte aber schon Möglichkeiten gehabt,
zum Beispiel den Fall ans kantonale Gericht zurückzuweisen oder, eher ungewöhnlich, gleich selbst einzugreifen.

Die beiden SP-Richter versuchten, Verbesserungen zu erreichen. Sie wurden von den beiden SVP-Richterinnen und dem CVP- Mann überstimmt. War dies ein politischer Entscheid?
Ich denke nicht, dass die Parteien direkt Einfluss nehmen. Es geht um Werthaltungen. Die einen sagen: Zentrale Werte des sozialen Sicherungssystems werden nicht mehr eingehalten. Die anderen argumentieren: Das haben wir schon immer so gemacht.

Als Aussenstehender mutet es seltsam an, dass sich höchste Richtersinnen in einer Sachfrage derart uneinig sind.
Die RichteCinnen wussten, dass eine Praxisänderung bei der IV jährliche Mehrkosten von 300 bis 400 Millionen Franken zur Folge hätte. Da können sie zur eigenen Rechtfertigung mit der Gewaltenteilung argumentieren. Einen solchen Entscheid zu fällen,seinicht ihre, sondern die Aufgabe des Gesetzgebers.

Sehen Sie das auch so?
Das Bundesgericht hat letztlich die IV saniert. Und zwar in erster Linie mit der restriktiven «Schmerzrechtsprechung» vor etwa fünfzehn Jahren. Diese führte im Endeffekt zu einer Halbierung der Anzahl Neurentnerinnen. Das Bundesgericht hatte bislang wenig Hemmungen, die Praxis zu ändern, wenn es darum ging, Geld zu sparen. Nun aber, da die IV für eine sachgerechte Bemessungsmethode mehr Geld ausgeben müsste, wird Zurückhaltung erkennbar. Das ist ein Widerspruch.

Geht es nur ums Geld?
Offensichtlich. Auch wenn das Bundesamt für Sozialversicherungen das nicht so sagt. Mit dieser fehlenden Offenheit wird die Bevölkerung hinters Licht geführt. Wir zahlen Beiträge ein und gehen davon aus, dass wir anständig versichert sind. Aber viele sind es faktisch gar nicht. So wird jenen, die sich das leisten könnten und wollten, die Möglichkeit genommen, sich privat zu versichern. Denn am IV-Entscheid hängt nicht nur die erste, sondern auch die zweite Säule. Wer abgelehnt wird, hat in der Regel keinen Anspruch auf die entsprechenden BVG-Gelder. Das trifft viele Menschen existenziell.

Was schlagen Sie vor?
Es braucht mehr Redlichkeit. Ich bin froh, dass die Politik das Problem erkannt hat. Man muss sich aber bewusst sein, dass eine saubere Berechnung der IV-Renten mehr kostet. Niemand spricht derzeit von Beitragserhöhungen, obwohl die IV immer noch hoch verschuldet ist. Gut möglich, dass die Bevölkerung bereit ist, mehr zu zahlen, wenn sie weiss, warum. Vielleicht kommt die Politik auch zum Schluss, dass es die IV gar nicht braucht. Das wäre zumindest ehrlich. Jetzt erscheint das IV-System manchen Betroffenen als eine Versicherung, die nicht versichert.


Prof. Thomas Gächter

 

51,ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht sowie Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Er ist Mitautor eines Rechtsgutachtens, das auf die Mängel bei der IV- Berechnung hinweist. Anfang Januar verfasste er einen Protestbrief an den Bundesrat, den fünfzehn Schweizer Rechtswissenschaftler*innen mitunterzeichneten.