Gebärdensprache in der Versfassung Verankern

(Tessiner Zeitung)

Der Grosse Rat setzt sich einstimmig für die Inklusion von Hörbehinderten ein. Wenn das Volk zustimmt, folgt das Tessin den Kantonen Genf und Zürich und macht Gebärdensprache amtlich


Nicht einfach Zeichen, sondern eine echte Sprache mit eigener kultureller und linguistischer Identität

 

von Antje Bargmann

Unter Applaus ist am Montag im Grossen Rat ein historischer Schritt im Tessin zur Inklusion von Menschen mit Behinderung vollzogen worden.

Einstimmig fiel der Beschluss, dass die italienische Gebärdensprache in der Verfassung anerkannt und verankert wird (Artikel 13a). Ein Paradigmawechsel, wie Sozial- und Gesundheitsdirektor Raffalele De Rosa betonte: Es liegt in Zukunft nicht mehr in der Verantworung des Gehörlosen, mit dem Staat einen Kommunikationsweg zu finden und mit Informationen versorgt zu werden. Sondern es wird nun Aufgabe der Kantons- und Gemeindeverwaltung sein, alle Voraussetzungen zu treffen, um sich auch in italienischer Gebärdensprache mitteilen zu können. Da es sich um eine Verfassungsänderung handelt, müssen allerdings noch die Stimmbürger ihr Einverständnis geben.

Die Entscheidung des Parlaments basiert auf einer Motion von Raoul Ghisletta (SP), der auch schon andere Initiativen vorweggingen. Diese gründet auf der Forderung des Schweizer Gehörlosenbundes, die Gebärdensprache als offizielle Sprache anzuerkennen, so wie es in Neuseeland seit 2006 der Fall ist. 10’000 Gehörlose leben ‚in der Schweiz, davon rund 500 geschätzt im Tessin. Insgesamt wird die Zahl der Hörbehinderten in der Schweiz auf eine Million geschätzt. Betroffene gelten in vielen Bereichen des Lebens – wirtschaftlich, sozial, kulturell und gesundheitlich – aufgrund der Kommunikationsprobleme als benachteiligt. Die Kantone Genf und Zürich haben den Anfang gemacht und die Gebärdensprachen (die französische bzw. Deutschschweizer Version) inzwischen in ihren Verfassungen formal anerkannt. Auch in Vaud und Bern ist der Prozess in Form von Initiativen politisch angelaufen. Neuchätel hat die Gebärden- sprache zwar nicht in der Verfassung, aber gesetzlich verankert. „Es geht nicht einfach um eine Zeichensprache“, betonte Raoul Ghisletta in seinem Redebeitrag vor dem Parlament am Montag, „sondern um eine vollständige Sprache mit ihren eigenen komplexen Regeln“. Roberta Passardi von der FDP ergänzte, dass die Gebärdensprache eine eigene kulturelle und linguistische Identität hat, ihre Nutzung also kein Defizit bedeutet. Und Danilo Forini, SP (und Direktor der kantonalen Pro Infirmis) betonte, dass eine gehörlose Person, die im Alltag vollständig und überall die Gebärdensprache nutzen könnte, quasi gar keine Einschränkungen mehr hätte. Die Behinderung ergebe sich also ausschliesslich aus dem Umfeld.

Welche grundlegende Bedeutung die Gebärdensprache für Bildung, geistige Entwicklung und gesellschaftliche Integration hat, ist im Kommissionsbericht, der auf Gesprächen mit Experten vom Gehörlosenbund und der Pro Infirmis basiert, genauer erläutert. Demnach müssen gehörlose Kinder unbedingt als Grundlage über eine Muttersprache verfügen (die in dem Fall die Gebärdensprache ist), um eine Zweitsprache, wie im Tessin das Italienisch, erlernen zu können. Andernfalls, ohne eine Muttersprache, könnten sich die Bereiche im Gehirn, die für Sprache zuständig sind, nicht richtig entwickeln. Damit beispielsweise ein gehörloser Erwachsener einen normalen Text lesen könne, bräuchte er immer eine eigene Bezugssprache, um diesen zu verstehen. Es würde nicht ausreichen, den Text zu sehen. Viele Erwachsene mit Hörbehinderung würden daher im Alltag oft vor Problemen stehen, da sie geschriebene Texte nicht immer in ihrer ganzen Bedeutung erfassen könnten. Hier würde es beispielsweise helfen, wenn Textinformationen von Videos in Gebärdensprache begleitet würden, heisst es in dem Bericht.

Doch wie könnte die Praxis im Tessin aussehen? Die Umsetzung wird voraussichtlich Zeit brauchen (siehe Artikel unten). Der neue Verfassungsartikel 13a zur „Inklusion von Menschen mit Behinderung und Anerkennung der Gebärdensprache“ beinhaltet unter anderem: (1) Der Kanton und die Gemeinden berücksichtigen die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und deren Familien. (2) Sie treffen die erforderlichen Massnahmen, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und ihre soziale, erzieherische, berufliche, politische, sportliche und kulturelle Entwicklung zu fördern. (…) (4) Menschen mit Hörbehinderungen, Taubblindheit oder Sprachbehinderungen haben das Recht, im Verkehr mit den Verwaltungen und Dienststellen des Kantons, der Gemeinden und anderer öffentlicrechtlicher Institutionen die Gebärdensprache zu verwenden. Im Parlament wurde betont, dass es seitens des Kantons auch schon heute Bemühungen gibt, allen Menschen Zugang zu wichtigen Informationen zu ermöglichen. So würden die Pressekonferenzen auf dem Youtube-Kanal mit Untertiteln übertragen.