Über Tabus rund um Sexualität und Behinderung

(Luzerner Zeitung)

Sexualität ist ein Grundrecht, doch für Behinderte oft schwer zugänglich. Das war Thema an einem Podium in Luzern.

Salome Erni

«Das Ausleben der Sexualität ist ein Grundrecht. Nur scheint das nicht angekommen zu sein, wenn es um Menschen mit Behinderungen geht», sagt die 26-jährige Studentin Linda Halter. Sie nahm gestern Abend an einem Podium der Organisation Procap Zentralschweiz unter dem bewusst provokanten Titel «Sexualität und Behinderung – doppeltes Tabu oder doppelt so gut» als Auftakt zu einer Themenreihe teil.

Jahn Graf, berühmt für seine Moderation der Paralympics im SRF, leitet die Diskussion mit (auch queeren) Betroffenen, mit Fachkräften und einem Elternteil. Unter den Podiumsgästen befindet sich der 31-jährige Louis Amport, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt und als Fachperson Mobilitätseinschränkung arbeitet. Er spricht auf der kleinen Bühne im Marianischen Saal in Luzern vor rund 50 Anwesenden und 20 virtuellen Gästen. Im Gespräch vorab sagt er: «Viele fragen sich: Wie funktioniert Sexualität mit einer Behinderung? Oder sogar: «Geht das überhaupt? Da fehlt viel Wissen.»

Übergriffiges Verhalten ein aktuelles Problem

Dass an der Podiumsdiskussion mit Tabus aufgeräumt werden soll, zeigt bereits ein Video in den ersten Minuten. Denn es ist nicht die explizite Sexszene zweier Menschen mit Handicap, die im Anschluss kontrovers diskutiert wird. Vielmehr ist es die Grenzüberschreitung des gefilmten Pflegers, denn wie Halter betont, sei sexuell übergriffiges Verhalten in Institutionen eine aktuelle Problematik. Dort wird das Thema der Sexualität aber immer wichtiger. In der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) ist beispielsweise seit 2019 ein «Erlebniszimmer» eingerichtet, das unter anderem mit einem Doppelbett möbliert ist. Im Gegensatz zum eigenen Zimmer ist dort auch eine bezahlte sexuelle Dienstleistung, beispielsweise durch eine Berührerin oder einen Berührer, möglich.

Die Podiumsrunde fordert, dass solche Konzepte öffentlich sein sollen, damit der Diskurs und die Möglichkeiten zur selbstbestimmten Sexualität weite Verbreitung finden. Im Finanziellen ist aber eine grosse Hürde versteckt, denn oft reicht das knappe Budget nicht aus. Um sich sexuelle Dienstleistungen leisten zu können, müssen Menschen mit einem Handicap vielfach auf anderes verzichten.

Elternschaft trotz Behinderung?

Zudem betont Amport: «Nur weil sich Personen sprachlich oder körperlich nicht ausdrücken können, heisst das nicht, dass sie keine Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung haben.» Für Angehörige sei es in solchen Fällen oft schwierig, die Anliegen zu kennen und dafür einzustehen. Teilweise würden Eltern sogar gegen sexuelle Kontakte argumentieren. Halter empfiehlt deshalb dringend, in solchen Situationen Drittpersonen beizuziehen. Denn das Ausleben der Sexualität solle nicht nur jenen vorbehalten bleiben, die ihr Recht selber durchsetzen können.

Auch Eltern- und Schwangerschaft wird angesprochen. Während Frauen ohne Kinderwunsch und ohne Beeinträchtigung immer noch meist Stirnrunzeln entgegenschlägt, häufensichbei Frauenmit Behinderungen oft Zweifel an der Fähigkeit, Mutter zu sein. Zwar müsse die gesundheitliche Situation berücksichtigt werden, doch heute gebe es viele Hilfestellungen für Eltern mit Beeinträchtigungen, so Halter

Die Teilnehmenden der Podiumsrunde versuchen, mit ihrem Engagement ein anderes Bild von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren Zugang zur Sexualität zu vermitteln. Dass das unverkrampft und auch mit Lachen beim Publikum im Saal geht, beweist der Anlass. Amport hält mit einem Augenzwinkern schliesslich fest: «Probieren geht über Studieren.»