Im Rollstuhl die Treppen hochgetragen

(St. GallerTagblatt / St. Gallen-Gossau-Rorschach)

Die Ostschweiz ist im Bereich der inklusiven Kultur ein Entwicklungsland.Das soll sich baldändern,dank Vernetzung und einem Verein.


Führungen für Blinde und Sehbehinderte,wie hier im Kunstmuseum Basel,sind in der Ostschweiz noch Mangelware.Bild:Georgios Ketalas/Key

 

Christina Genova

Führungen für Seh-und Hörbehinderte,barrierefreier Zugang ins Museum, Audiodeskription für Theateraufführungenoder Websites in Leichter Sprache. Das ist in den Kulturhäusern der Ostschweiz noch keine Selbstverständlichkeit.«Die Ostschweiz ist noch ein Entwicklungsland im Bereich der inklusiven Kultur»,sagt Sara Stocker von der nationalen Fachstelle Kulturinklusiv von Pro Infirmis, der Dachorganisation von Menschen mit Behinderungen.Sie hat mit dem Projekt «Netzwerkaufbau inklusive Kultur Ostschweiz» Starthilfe geleistet. Seit Ende Februar hat Stocker drei Workshops durchgeführt mit Behindertenorganisationen, Kulturinstitutionen und Menschen mit Behinderungen.

Die Fachstelle engagiere sich speziell in der Ostschweiz,weil in der Kultur zwar noch wenig Inklusion vorhanden sei,man aber viel Potenzial sehe:«Wir sagten uns:Hier müssen wir investieren.» Zwar sei das Schlagwort Diversity in aller Munde: «Doch leider vergisst man dabei oft Menschen mit Behinderungen. Wir kämpfen dafür,dass man sie besser auf dem Radar hat.»Für Stocker ist nach einem Jahr Projektarbeitklar:«Es gibt in der Ostschweiz noch einen grossen Bedarf bezüglich Zugänglichkeit,Sensibilisierung und Vernetzung.»

«Unwürdig und richtig peinlich»

Mit Zugänglichkeit meint die Stocker sowohl Barrierefreiheit als auch Inhalte,die auch Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stehen.Auch die Vernetzung und Koordination sei wichtig,sagt Stocker,weil ein einzelner Kulturveranstalter nicht alles anbieten könne. Aber auch von Seiten der Menschen mit Behinderungen müsse man abklären,welche Bedürfnisse überhaupt bestünden.

Wie wichtig Letzteres ist, weiss Brigitt Näpflin,Kulturvermittlerin beim Kunstmuseum Thurgau und Ittinger Museum in Warth.Die Nachfrage nach inklusivenVermittlungsangeboten sei noch klein,die Knacknuss beim Thema Inklusion sei die Frage,wie man die Leute überhaupt erreichen könne:«Meine Vision wäre,dass man gegenseitig voneinander lernt und gemeinsam Vermittlungsangebote entwickelt.»

Mario Franchi ist Theaterpädagoge am Theater St.Gallen und hat an allen drei Workshops von Kulturinklusiv teilgenommen. Schon zuvor hat er sich intensiv mit dem Thema Inklusion auseinandergesetzt:«Als öffentlich subventionierter Kulturbetrieb ist es unsere Pflicht,in diese Richtung zu gehen.» Regelmässige inklusive Angebote gibt es am Theater St.Gallen jedoch noch keine:«Einzig die Rollstuhlplätze sind fest etabliert.» Für Franchi ist klar,dass nicht nur auf Seiten der Kulturanbietenden Hürden und Vorurteile bestünden,die man abbauen müsse:«Viele Institutionen für Menschen mit Behinderungen kommen gar nicht auf die Idee, ins Theater zu gehen.» Man müsse deshalb eine Willkommenskultur nach aussen tragen und auch leben.

Anna Beck-Wörner ist Kunstvermittlerin bei der Kunsthalle St.Gallen,dem Kunstmuseum Appenzell und der Kunsthalle Ziegelhütte.Auch sie hat alle drei Workshops besucht.Inklusion ist für Beck-Wörner vor allem eine Haltungsfrage.Es gehe darum,wie man mit Andersartigkeit um gehe.Sie ist der Ansicht,dass kulturelle Teilhabe sehr weit gefasst werden sollte.Jeder Mensch sei gleichwertig und sollte deshalb im Museum willkommen sein.«Bei Barrierefreiheit denken viele an eine Rollstuhlrampe,das ist aber nur ein Teil von Inklusion.»

Im Kunstmuseum St.Gallen ist schon die Gewährleistung des Zugangs für Menschen,die auf den Rollstuhl angewiesen sind,problematisch.Das Kirch hoferhaus neben dem Kunstmuseum,wo die Kunstvermittlung für Kinder stattfindet,ist nicht rollstuhlgängig.Gloria Weiss, die Kommunikationsverantwortliche des Museums,sagt: «Kürzlich musste dort ein Mädchen,das im Rollstuhl sass,die Treppen hochgetragen werden.» Wer ins Kunstmuseum gelangen will,ist auf den Warenlift beim Hintereingang angewiesen und muss dann das Lager durchqueren.Das sei«unwürdig und richtig peinlich»,sagt Weiss.Auch deshalb seien die Sanierung und der Umbau des Museums dringend notwendig.

Fachstelle für inklusive Kultur gewünscht

Sara Stocker von Kultur inklusiv wird in der Ostschweiz weiter aktiv bleiben und ihr Inklusions-projekt weiter begleiten,auch wenn es am Freitag in Form eines öffentlichen Netzwerktreffens in Rorschach seinen vorläufigen Abschluss findet.Denn der einhellige Wunsch der Teilnehmenden der drei Workshops für die Zukunft ist eine Fachstelle für inklusive Kultur in der Region. Wie deren Trägerschaft und Finanzierung aussehen könnte,ist noch offen.Als Zwischenschritt auf dem Wegdorthin wird die Gründung eines Vereins vorangetrieben:«Uns ist es ein Anliegen,dass das Projekt nachhaltig ist und dasThema nicht von der Agenda verschwindet»,sagt Stocker.Neun Workshopteilnehmende werden in den nächsten Wochen die Statuten erarbeiten,damit der Verein ab Herbst erste kleine Projekte aufgleisen kann.


Sara Stocker, Projektleiterin Fachstelle Kultur inklusiv. Bild:PD


Mario Franchi,Theaterpädagoge Theater St.Gallen.Bild:Mario Testa