Mode kennt keine Barrieren

(Schweiz am Wochenende / Walliser Bote)

Für Menschen mit Behinderungen ist es schwierig, Kleidung zu finden, die passt und zeitgemäss ist. Ein Wiener Label hat das Problem erkannt.
Isabel Zwyssig


Jan Kampmann, querschnittgelähmter Journalist aus Hamburg, ist als Markenbotschafter für MOB Industries tätig. Bild: Denys Karlinskyy

 

Ihre Not machte Daniela Vasapolli erfinderisch. Als sie nicht mehr weiterwusste, griff sie zur Schwangerschaftshose. «Es ist für mich nahezu unmöglich, Kleidung zu finden, die praktisch zum Anziehen ist», erklärt die 44-Jährige. Sie legt Wert auf ihr Äusseres. Doch ihr Körperbild sprengt die Norm. Besonders jene, welche die Modeindustrie vorgibt.

Vasapolli hat eine angeborene Gelenksteife, die mit Muskelschwäche einhergeht. Die Zürcherin sitzt im Elektrorollstuhl, braucht rund um die Uhr Hilfe, auch beim An- und Auskleiden. Das tägliche Ritual ist mit Schmerzen verbunden – aber auch Frust. Denn Hosen der gängigen Modeketten sind Vasapolli im Gesässbereich oft zu eng oder rutschen in der sitzenden Position nach unten. Reissverschlüsse oder Taschen verursachen Druckstellen. «Die Schwangerschaftshose schafft bei solchen Problemen Abhilfe. Dafür habe ich um den Bauch herum viel zu viel Stoff, der beim Sitzen unschöne Wülste bildet», erklärt sie.

MOB Industries sagt modischen Hindernissen den Kampf an

Lösungswege für solche vestimentären Dilemmas aufzeigen – das wollen Josefine Thom und ihr Geschäftspartner Johann Gsöllpointner. 2019 haben die beiden das Unternehmen MOB Industries mit Sitz in Wien gegründet. MOB steht für «Mode ohne Barrieren». Gemeinsam mit österreichischen Designern und Models, die körperliche Einschränkungen haben, produzieren die gebürtige Deutsche und der Oberösterreicher Mode, die aktuellen Trends entspricht und gleichzeitig so funktional ist, dass sie den Bedürfnissen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gerecht wird: Die Passformen der Kleidungsstücke sind auf Rollstuhlnutzer zugeschnitten, eignen sich aber genauso für Fussgänger. Oberteile sind vorne kürzer und hinten länger geschnitten, sodass sie nicht an den Rollstuhlrändern schleifen. Hosen haben flache Nähte und keine Gesässtaschen oder andere Taschen, damit Druckstellen vermieden werden. Der Gesässbereich ist weiter geschnitten, was diskret Platz für Inkontinenzmaterialien bietet. Magnetverschlüsse erleichtern ein gesundheitsschonendes An- und Auskleiden – für die Träger selbst und für Assistenzpersonen.

Thom, 34 Jahre alt, Sozialpädagogin, wuchs mit einer mehrfach behinderten Schwester auf. Ästhetische Ansprüche punkto Kleidung blieben irgendwann auf der Strecke. «Das darf nicht sein», sagte sie sich und beschloss, zu handeln. Die MOB-Firmengründerin ist froh, dass sie heute mithilft, den Alltag von Betreuungspersonen und Menschen mit Behinderungen einfacher zu gestalten, und dabei modische Akzente zu setzen. Ihr ist es wichtig, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen. Entsprechend ist Kleidung von MOB Industries teurer als die handelsübliche. «Eine Jacke mit Magnetverschlüssen, bei der ein Reissverschluss im Ärmel eingenäht wurde, ist kein Wegwerfprodukt», betont Thom.

Die Krux mit der Winterjacke

Dagmar Venohr, Dozentin für Geschichte und Theorie der Mode an der Fachhochschule Nordwestschweiz, wünscht sich solches Umdenken in der Branche: weg vom ständigen Wachstum, von der Normierung hin zu einem Raum, der es erlaubt, die «Grenzen unserer Körper und die Möglichkeiten von Kleidung auszuloten.» Jan Kampmann, querschnittgelähmter Journalist aus Hamburg, istals Markenbotschafter sowie Model für MOB Industries tätig. Der 34-Jährige schätzt es, dass Thom die Rollstuhlfahrer direkt fragt, was sie sich von ihrer Mode wünschen. So kann er seine Anregungen in den Entstehungsprozess einbringen.

Von einem Gadget wie einem eingenähten Verschluss im Ärmel träumt Assistentin Angela Vescio, die Vasapolli seit drei Jahren begleitet. «Das An und Ausziehen der Winterjacke ist bei steifen Gelenken etwas vom Schlimmsten», so die 35-Jährige. In der kalten Jahreszeit kommen die beiden um die mühsame Prozedur nicht umhin.

Ähnlich sieht das Balz Spengler, 29 Jahre alt, der mit einer cerebralen Bewegungsstörung lebt. Mehr zu schaffen macht ihm jedoch ein anderes Kleidungsstück. Seine Jeans sind um die Knie herum rasch abgewetzt, weil sie stark belastet werden. Die Hose ist mit rotem Faden verstärkt. Spengler nimmt es gelassen: «Flicken ist besser als Wegwerfen.» Und: Wie wichtig Hosen wären, die Druckstellen vorbeugen, wurde ihm während eines viermonatigen Reha-Aufenthaltes bewusst, als er nach einer Operation wieder gehen lernte.

Versicherung zahlt – wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind

Bleibt die Frage nach den Kosten. Wie ist es aus Schweizer Sicht punkto adaptiver Mode um die sozialversicherungs- rechtlichen Aspekte bestellt? Die Invalidenversicherung richtet nur Beiträge aus für Hilfsmittel, die auf der Hilfsmittelliste aufgeführt sind. Massgefertigte Kleider gehören unter bestimmten Umständen dazu. Laut Daniel Schilliger, Rechtsanwalt bei Procap, ist es abhängig vom Einzelfall, ob eine versicherte Person Anspruch darauf hat oder nicht. Bisweilen ist vorgesehen, dass sie sich an den Kosten beteiligt. Es kann auch sein, dass die Finanzierung von Hilfsmitteln an Bedingungen geknüpft ist, etwa, dass dadurch eine Erwerbstätigkeit oder selbstständiges Fortbewegen möglich wird. «Die Hilflosenentschädigung oder Stiftungen sind andere Wege für finanzielle Unterstützung», so Schilliger.

Daniela Vasapolli trägt inzwischen stolz ihre neue Winterhose, die sie sich hat nähen lassen. Den Stoff hat sie selber ausgesucht. Nichts mehr rutscht, nichts mehr zwickt. Kleidung von einem inklusiven Label bestellen? Nichts für Vasapolli. Aber die Idee dahinter gefällt ihr. Zwar brauchte es Ge-duld,die Dienstleistungeneiner Schneiderin zu beanspruchen. Doch es hat sich gelohnt – dank dem Goodwill der Menschen aus ihrem Umfeld.


Daniela Vasapolli mit ihrer Assistentin,die sie seit drei Jahren begleitet.
Bild: Isabel Zwyssig