Und wenn die Suva die Schulden der IV übernähme?

(Neue Zürcher Zeitung)

von Markus KAUFMANN

Die Invalidenversicherung (IV) ist eine der grossen Errungenschaften der Schweiz: Seit sechzig Jahren gibt sie Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ihren Familien eine Perspektive. Die Betroffenen erhalten Unterstützung, damit sie am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Als eigentliche Volksversicherung wird sie von Arbeitnehmenden, Arbeitgebenden und dem Staat finanziert.

Mit der 4. und der 5. Revision wurde die IV umgebaut. Nach dem Motto «Eingliederung statt Rente» halbierte sich die Zahl der Neurenten. Gleichzeitig gab es dreimal mehr Eingliederungsmassnahmen. Die Neuausrichtung der IV hat aber auch ihre Schattenseiten. Tausende schaffen den Einstieg ins Erwerbsleben nicht mehr und beziehen heute Sozialhilfe statt einer IV-Rente. Problematisch ist zudem die Berechnung des hypothetischen Einkommens, das mit einer Behinderung erzielt werden kann.

Bei Menschen, die in Branchen mit tiefen Löhnen gearbeitet haben, ist dieses hypothetische Einkommen manchmal sogar höher als der vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung erzielte Lohn. Sie zahlen Prämien, haben aber aus rein rechnerischen Gründen keinen Anspruch auf IV-Leistungen, auch wenn die Invalidität unbestritten ist.

In den nächsten Jahren kommen grosse Herausforderungen auf die IV zu. Mit der Weiterentwicklung der IV werden Kinder, Jugendliche und psychisch erkrankte Versicherte bedürfnisgerechter unterstützt. Mit dem Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahr 2019 können sich auch Suchterkrankte bei der IV melden. Fachleute gehen davon aus, dass viele Long-Covid-Betroffene auf IV-Renten angewiesen sein werden. Die Digitalisierung wird dazu führen, dass mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen keinen Platz mehr auf dem Arbeitsmarkt finden werden. Wir brauchen deshalb im kommenden Jahrzehnt eine starke und gut finanzierte IV, die ihre Aufgabe kraftvoll wahrnehmen kann.

Die IV-Schulden von über 10 Milliarden Franken wirken in dieser Situation wie ein Klotz am Bein. Ein Abbau dieser Schulden ist nur mit einem massiven Leistungsabbau in den nächsten Jahren möglich. Dies würde unweigerlich zu einer starken Verlagerung in die Sozialhilfe führen: eine menschliche Katastrophe für die Betroffenen und eine finanzielle für Gemeinden und Kantone.

Die Zeit für das Finden einer Lösung drängt, denn die AHV, die der IV das Geld ausgeliehen hat, braucht die Milliarden bald selber. Eine mögliche Lösung wäre die Ausweitung der Solidarität unter den obligatorischen Sozialversicherungen. Die ältere Schwester der IV, die über 100-jährige Unfallversicherung, steht heute besser da denn je. Sie weist 2019 ein Kapital von rund 66 Milliarden Franken aus. Allein die Suva weist 2020 ein Vermögen von 56 Milliarden Franken aus. In den 2010er Jahren wuchs der Deckungsgrad der versicherungstechnischen Rückstellungen rasant von 109 auf 154 Prozent. Das Corona-Jahr 2020 war gleichzeitig, gemessen an der Bevölkerung, das unfallärmste seit Messbeginn.

Im Sinne der erweiterten Solidarität zwischen den Sozialversicherungen könnte die Suva die IV-Schulden in ihre Bilanz übernehmen und in den nächsten zehn Jahren einen Teil ihrer Anlagegewinne zur Tilgung der IV-Schuld einsetzen. Immer unter Wahrung eines minimalen Deckungsgrades von beispielsweise 125 Prozent. Die Leistungen der Suva wären weiterhin gesichert, und die IV könnte ihre Aufgabe wieder besser erfüllen. Ein solcher Vorschlag macht Änderungen von Gesetzen und allenfalls der Verfassung nötig. Es geht in der Regel nicht ohne Auseinandersetzung, wenn ein mittelloses Geschwister zu unterstützen ist. Doch langfristig profitiert die ganze Familie davon.

Markus Kaufmann ist Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos).