Kita-Platz: Wer zahlt die 400 Franken pro Tag?

(Schaffhauser Nachrichten)

Das Inklusionsprojekt «Schiffli» bietet Kindern mit Beeinträchtigungen und besonderem Betreuungsaufwand Kita-Plätze in Schaffhausen an. Aber die Finanzierung gestaltet sich oft schwierig: Eltern können sich die Plätze häufig nicht leisten – und der Kanton zahlt auch nicht.


Katja Toth, sozialpädagogische Leiterin des I nklusionsprojekts «Schiffli», spielt mit Naod und Clod im Spielhuus Krebsbach Bild Roberta FELE

 

Elena Stojkova

Eine Mutter besucht die Kindertagesstätte Spielhuus Krebsbach. Sie ist ohne ihr Kind gekommen. Ihr gefällt die Umgebung, wie die Betreuerinnen mit den Kindern spielen – sie fühlt sich wohl. Gern hätte sie hier einen Platz für ihr Kind. Aber etwas hemmt sie. Erst am Schluss der Besichtigung sagt sie zu Betreuerin Katja Toth, dass es ein Problem gebe. Ihr Kind habe eine Behinderung. «Das ist kein Problem», sagt Toth zu ihr. Dann bricht die Mutter vor Erleichterung in Tränen aus.

Dies sei ein Schlüsselmoment gewesen, an den sich Toth immer wieder erinnert, wie sie sagt. Es ist einer dieser Momente, der ihr zeigt: Es muss sich etwas ändern. Toth ist die sozialpädagogische Leiterin des Pilotprojekts «Schiffli». Die Spielhuus-Tagesstätten Schaffhausen hatten das Projekt vor fast zwei Jahren gestartet (SN vom 14. September 2019). Die Idee: Plätze für Kinder mit besonderen Betreuungsbedürfnissen in die Kitas integrieren, eine Art Sonderschule für die Kleinsten schaffen. Es gibt sie also, die Plätze für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Das Problem liegt anderswo: bei der Finanzierung dieser Plätze.

Drei Standorte hat das Spielhuus, das seit 2002 besteht, in der Stadt Schaffhausen. Von Beginn an wurden einzelne Kinder mit besonderen Betreuungsbedürfnissen aufgenommen. Im Moment besuchen gesamthaft 25 «Schiffli»-Kinder die Spielhäuser, die meisten davon sind im Krebsbach-Spielhuus. Sie haben ganz unter-schiedliche Hintergründe: Einige weisen Störungen in der Entwicklung auf, andere haben Sprachdefizite oder sind Teil eines schwierigen Familiensystems, haben beispielsweise eine Mutter im Teenager-Alter oder Eltern, die flüchten mussten. Wieder andere haben mehr oder weniger ausgeprägte Verhaltensauffälligkeiten oder eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung

«Es ist schade, dass die Eltern, die so schon belastet sind, zusätzlich belastet werden.»
Katja Toth Sozialpädagogische Leiterin Projekt «Schiffli»

Die Räumlichkeiten sind in den letzten Jahren alle barrierefrei gestaltet worden. Das Räumliche ist aber nur das eine. Fachlich bilden sich die Betreuungspersonen immer wieder weiter, schulen sich für jede individuelle Beeinträchtigung, mit der sie zu tun haben. Verschiedene Fachstellen des Kantons unterstützen sie dabei.

Kosten bleiben an den Eltern hängen

Wie Toth sagt, hat das Spielhuus ein- bis zweimal im Monat eine Anfrage bezüglich eines Platzes für ein Kind mit besonderen Betreuungsbedürfnissen. In den letzten zwei Monaten habe es drei Fälle gegeben, für die das Spielhuus Offerten für einen Platz geschrieben hat. Bis es zu dieser Offerte kommt, braucht es viel Arbeit und Vertrauen: Die Eltern teilen die Diagnose ihres Kindes mit der Kita, Besuche sowie Gespräche mit verschiedenen Fachstellen finden statt, Betreuende und Kinder lernen sich kennen. So kann man abschätzen, was das Kind braucht. Manchmal ist dies eine Eins-zu-eins-Betreuung. Was dann folgt, ist nicht selten Enttäuschung, weil die Behörden den Finanzierungsantrag ablehnen. «Dann war die investierte Energie und Zeit umsonst», sagt Toth. Denn in solch einem Fall bleiben die Kosten an den Eltern hängen, und diese können sich die nötige Extrabetreuung, die ihr Kind braucht,ohne Unterstützung des Kantons oft nicht leisten. Um die Beiträge müsse man regelrecht kämpfen, sagt Toth. «Es ist schade, dass die Eltern, die so schon belastet sind, zusätzlich belastet werden.»

«Unerträglich wenig Mittel»

Es kommt auch vor, dass das Spielhuus selbst interessierten Eltern absagen muss, weil Ressourcen fehlen. Abzusagen falle schwer, sagt Toth. Viele Krippen würden gern Kinder mit erhöhtem Betreuungsbedarf aufnehmen. Manche tun es aus Good- will. Und merken dann, dass es zu viel ist. «Wenn niemand finanzieren will, müssen diese Kinder wohl oder übel wieder vor die Tür gesetzt werden – auch wenn die Kitas das auf keinen Fall wollen», sagt Toth. Die Situation sei unbefriedigend: für die Kinder, für die Eltern, für die Betreuerinnen und Betreuer. «Die Bereitschaft der Behörden, Gelder zu sprechen, ist noch nicht da. Die Kitas sind oft machtlos.» Fachstellen versuchen zwar oft, auszuhelfen, aber auch ihnen fehlen Ressourcen.

Manchmal gebe es zwar gute Lösungen, sagt Gabriela Wichmann, Präsidentin des Vereins Spielhuus-Tagesstätten. Die Sozialhilfe kann in Einzelfällen Familien, welche sie in Anspruch nehmen, aushelfen. Einen Teil der Kosten subventioniert als einzige Gemeinde im Kanton die Stadt Schaffhausen. Vom Kanton aber gebe es keine Standardlösung. «Für die Eltern sind diese Plätze zu teuer, für den Staat sind diese Plätze zu teuer. Und die Kitas haben gerade für solche Fälle unerträglich wenig Mittel.»

Was heisst das finanziell konkret? Ein Platz für ein Kind ohne besondere Bedürfnisse kostet im Spielhuus 122 Franken pro Tag. Hier rechnet man mit einer Fachkraft pro fünf Kinder. Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen braucht teilweise aber viel mehr als 20 Prozent der Aufmerksamkeit seiner Betreuerin. Schnell müssten füreinen Platz dann über 400 Franken verrechnet werden. «Bei Sonderschulen gibt es solche Budgets. Bei der frühen Förderung noch nicht.»

Gestraft seien diejenigen Eltern, die den vollen Preis selbst bezahlen sollten. «Manchmal reicht eine dreimonatige Eins-zu-eins-Betreuung», sagt Wichmann. Sie gibt ein Beispiel: «Es kann sein, dass ein Kind intensive Betreuung während der Scheidung seiner Eltern braucht.» Wenn es diese bekommt, lösen sich Verhaltensauffälligkeiten oft schnell auf, und das Kind kann Anschluss in der Gruppe finden. Wenn es diese nicht bekommt, könne es zwischen Stuhl und Bank fallen. «Alle wollen solche Angebote, aber niemand will dafür zahlen», sagt Wichmann.

Am falsche Ort gespart

Die beiden Frauen wünschen sich, dass die Finanzierung ohne Diskriminierung funktioniert – dass alle Eltern gleicheChancen haben auf einen Betreuungsplatz, ganz egal, welche Art von Betreuung ihre Kinder brauchen und wie viel diese kostet. Mit anderen Worten: dass Inklusion selbstverständlich wird.

«Alle wollen solche Angebote, aber niemand will dafür zahlen.»
Gabriela Wichmann Präsidentin Verein Spielhuus-Tagesstätten

Geschätzt 20 Prozent der Kinder haben eine Art von Förderbedarf. Trotzdem seien Beeinträchtigungen und erhöhter Betreuungsaufwand nach wie vor Tabuthemen, sagt Toth. «Wir müssen noch viele Vorurteile abbauen.» Die Kinder seien dem Thema gegenüber viel offener als Erwachsene, würden Fragen stellen. In den Spielhuus-Kitas haben Kinder ganz unter-schiedlichen Alters miteinander zu tun. «Und sie anerkennen die Einzigartigkeit des jeweils anderen.» Loslassen müsse man die Schemata und Raster, in die man die Kinder einordnen will. «Das Kind muss in kein Raster passen. Wir müssen querdenken, uns an die Kinder anpassen.»

Bei der Betreuung von Kindern zu sparen, sei gravierend, sagt Toth. Integrationschancen würden verpasst. Das ziehe später Sozialkosten nach sich. Ausserdem können Eltern, die ein Kind mit Beeinträchtigung selbst betreuen, selten berufstätig sein. In eine diskriminierungsfreie Kinderbetreuung zu investieren lohne sich also auf allen Ebenen. «Es ist noch ein weiter Weg. Aber er wird sich auszahlen.»

Projekt «Schiffli»

Anfang 2020 hat das Spielhuus Schaffhausen ein Inklusionsprojekt gestartet – das «Schiffli». Finanziell unterstützt wird es von der Windler-Stiftung und Pro Infirmis. Der Pilotbetrieb war somit für zwei Jahre gesichert. Diese sind aber bald vorüber. Wie es mit der Finanzierung ab Januar weitergeht, ist unklar. Das Spielhuus versucht, weiterführende Lösungen anzubieten

Kanton prüft Unterstützung für Eltern und Kitas

Dass im Kanton Schaffhausen ein Bedarf an Kita-Plätzen für Kinder mit Beeinträchtigungen oder besonderem Betreuungsaufwand bestehe, sei dem Erziehungsdepartement bewusst, schreibt Erziehungsdirektor Patrick Strasser auf Anfrage der SN. Genaue Zahlen kenne man zwar nicht – man gehe aufgrund Rückmeldungen von der Heilpädagogischen Früherziehung sowie der Volksschule nach Eintritt in den Kindergarten aber von etwa 20 bis 25 Kindern pro Jahr aus, die einen entsprechenden Platz benötigen würden.

Aktuell bestehe keine spezifische Unterstützung durch den Kanton bei der Finanzierung der Kita-Plätze für Kinder mit erhöhtem Betreuungsbedarf. «Aus meiner Sicht ist der Hand-lungsbedarf ausgewiesen», schreibt Strasser weiter. Vor einiger Zeit sei eine Arbeitsgruppe daher beauftragt worden, sich diesem Thema anzunehmen und Lösungsvarianten zu prüfen. «Dabei ist die Definition eines zentral. Was gehört alles dazu, was nicht, wer stellt eine Diagnose?» Einfach zu klären sei dies nicht. Die Art der benötigten Unterstützung sei von Kind zu Kind verschieden und müsse breit angedacht werden. «Hier braucht es Zeit, eine mehrheitsfähige Lösung zu erarbeiten, die möglichst nachhaltig ist.»

Kurzfristige Hilfe nicht möglich

Die Entscheidung, ob und wie der Kanton die Eltern oder die Kitas, die Kinder mit besonderen Bedürfnissen betreuen, unterstützt, liege aufgrund der wiederkehrenden Kosten beim Kantonsrat oder eventuell, im Falle eines Referendums, gar beim Volk. Auf das Projekt «Schiffli»(siehe Artikel oben) angesprochen, meint Strasser: «Es macht sicherlich Sinn, bestehende Angebote in eine Lösung mit einzubeziehen und das Rad nicht neu zu erfinden.»

Eine der Lösungsvarianten, dienoch von der Arbeitsgruppe geprüft würden, sei der Einbezug des Projekts «Schiffli». «Da jede staatliche Ausgabe eine gesetzliche Grundlage braucht, dürfte eine kurzfristige Unterstützung über die ordentlichen Budgetmittel aber leider nicht
möglich sein.» (est)

Umfassende Neuregelungen der IV

(Appenzeller Volksfreund)

Betroffene gezielter unterstützen, Wiedereingliederung fördern


Ein Schwerpunkt der neuen IV-Regelung ist die berufliche Eingliederung.(Archivbild: mo)

 

Kinder, Jugendliche und Menschen mit psychischen Problemen werden ab dem 1. Januar 2022 versicherungstechnisch bessergestellt. Der Bundesrat hat am Mittwoch die Weiterentwicklung der IV auf diesen Zeitpunkt hin in Kraft gesetzt.

(sda) Von den neuen Regeln profitieren laut dem Bundesrat auch Teilerwerbstätige, Niedrigqualifizierte sowie Personen mit Geburts- und Frühinvalidität. Das Parlament hatte im Sommer 2020 die umfassende IV-Revision verabschiedet. Ihr übergeordnetes Ziel ist, Betroffene gezielter zu unterstützen, um ihr Eingliederungspotenzial zu stärken und die Vermittlungsfähigkeit weiter zu verbessern. Basis für die neuen Regeln ist das revidierte Gesetz über die Invalidenversicherung (IV). Dieses sieht für Rentnerinnen und Rentner mit einem Invaliditätsgrad zwischen 40 und 69 Prozent neu ein stufenloses Rentensystem vor. Dieses soll dazu führen, dass sich Arbeit für IV-Bezüger in jedem Fall lohnt. Mit dem heutigen System ist das wegen Schwelleneffekten nicht immer der Fall.

Eine Vollrente wird wie heute ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent zugesprochen. Neu kommt es für die Rentenhöhe auf jedes Prozent IV-Grad an.

Stärkere Patientenvertretung

Ein weiterer Fokus der Reform liegt auf Jugendlichen und Psychischkranken. Die Zahl der Neurenten in der IV ist nach den letzten Reformen gesunken. Bei Jugendlichen und Psychischkranken konnten die Ziele aber noch nicht erreicht werden. Daher soll nun früher eingegriffen werden, um die Betroffenen besser zu begleiten. Unter anderem intensiviert die IV die Zusammenarbeit insbesondere mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den Arbeitgebenden als beteiligten Akteuren. Die Beratung und Begleitung von jungen Versicherten wie auch von Fachpersonen aus Schule und Ausbildung wird ausgebaut und verstärkt.

Bei den medizinischen Begutachtungen werden Massnahmen zur Qualitätssicherung und für mehr Transparenz eingeführt. Bei der Vergabe von Gutachten sollen sich Versicherung und versicherte Person einvernehmlich auf einen Auftragnehmer einigen.

Gegenüber der ursprünglichen Fassung nahm der Bundesrat nach der Vernehmlassung unter anderem in diesem Be-reich eine Änderung an der entsprechenden Verordnung vor. So erhalten Patienten- und Behindertenorganisationen eine stärkere Vertretung in der Kommission, welche die Qualität der Begutachtungen unter die Lupe nimmt. Das geht zulasten der Ärztinnen und Ärzte.

Neue Subventionsregeln aufgeschoben

Dachorganisationen der privaten Invalidenhilfe können Finanzhilfen der IV beanspruchen. Bisher war vorgesehen, dass der Bundesrat eine Prioritätenordnung festlegt, nach welcher die Subventionen im Rahmen des festgelegten Gesamtbetrags an die einzelnen Organisationen verteilt werden. Dies ist in der Vernehmlassung auf fundamentalen Widerstand gestossen.

Daher wird auf die Neuregelung vorerst verzichtet, wie der Bundesrat schreibt. Eine mögliche Anpassung soll unter Einbezug der Behindertenorganisationen im Hinblick auf die nächste Vertragsperiode

(2024- 2027) erarbeitet werden. Auf den 1. Januar 2022 setzt das Eidgenössische Departement des Innern schliesslich eine neue Verordnung über Pflegeleistungen in Kraft. Diese hält fest, welche ambulante Pflegeleistungen – beispielsweise Spitex-Pflege – für Kinder und Jugendliche von der IV bezahlt werden. Mit der Schaffung einer solchen Verordnung setzt der Bundesrat einen Auftrag der Weiterentwicklung der IV um.

Endspurt bei den Bushaltestellen in Kloten

(Zürcher Unterländer / Neues Bülacher Tagblatt)

ÖV-Zugang für HandicapierteBis in zwei Jahren müss(t)en alle Haltestellen hindernisfrei gestaltet sein. Kloten gibt Gas, kommt – wie viele andere Gemeinden – aber nicht rechtzeitig ans Ziel


Hier bei der Haltestelle Chanzler in Kloten soll es unter anderem dank breiterer Trottoirs und erhöhter Haltekante bald angenehmer für die ÖV-Passagiere werden.
Foto, Sibylle Meier

 
Christian Wüthrich

Mit der Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes hapert es. Dabei ist es schonvor 18 Jahren in Kraft getreten. Und es gilt auch für den öffentlichen Verkehr. Auf dem Stadtgebiet von Kloten gibt es 122 Haltekanten für Busse, Trams und Züge. Geht es um die Ausgestaltung der Haltestellen und deren Unterhalt, so ist die Stadt für 42 dieser Ein- und Ausstiegspunkte zuständig. Der Rest befindet sich im Verantwortungsbereich von Kanton und Bund. Das spielt eine wichtige Rolle bei der baulichen Anpassung, damit an sämtlichen Haltestellen dereinst allen Personen der hindernisfreie Zugang zum öffentlichen Verkehr möglich ist.

In Kloten ist man bemüht,die Anpassungen der Haltestellen unter anderem mit breite-ren Trottoirs und 22 Zentimeter hohen Ein- und Ausstiegskanten weiter voranzutreiben. Denn neue Niederflurbusse allein helfen ansonsten wenig. Zurzeitsind in der Flughafenstadt gleich zwei solche Projekte öffentlich ausgeschrieben. Dabei geht es um die Haltestellen Chanzler und Freienberg der Linien 732 sowie 734. Es sind die Busverbindungen zwischen dem Flughafen, dem Bahnhof Kloten, der Kaserne und dem Weiler Egetswil.

Nur 7 von 42 sind bislang umgebaut

Normalerweise könnten ÖV-Haltestellen auch ohne öffentliche Mitwirkung umgebaut werden. Doch hier geht es neben den höheren Haltekanten um grössere Veränderungen auf Quartier-strassen mit Anpassungen derFahrbahn, neuen und breiteren Trottoirs sowie Mittelinseln und Fussgängerstreifen. Details dazu findet man auf der städtischen Web site www.kloten.ch.

Die verpflichtende Rechts-grundlage steht seit Januar 2004 genau genommen im «Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Men-schen mit Behinderungen». Und dennoch liegt fast eine Generation später noch einiges im Argen. Nicht nur, aber auch in Kloten. Dennoch sagt Marc Osterwalder, Bereichsleiter Raum + Umwelt der Stadt: «Wir sind auf gutem Weg.»

Allerdings muss er einräu-men, dass noch längst nicht alle Haltestellen nach den nationalen Vorgaben umgebaut und benutzbar sind. Nur gerade de-ren sieben, für welche die Stadt selbst verantwortlich ist, sindbereits umgestaltet. Die Politik hatte in der Vergangenheit ganz offensichtlich andere Prioritäten gesetzt.

Kosten von über2 Millionen Franken

Oft habe man zugewartet, biseine Strasse sowieso saniert werden musste, bis man eine Haltestelle angepasst habe, erklärt Osterwalder. Da sei es auch darum gegangen, Synergien zu nutzen. Das ist sinnvoll und auch zulässig. Bei der gesetzlichen Umsetzungsfrist hatte man sich einst auf 20 Jahre geeinigt. Allerdings neigt sich diese nun bedrohlich ihrem Ende entgegen. Bis im Dezember 2023 müssten eigentlich alle ÖV-Haltestellen hindernisfrei ausgestaltet sein.

«Im Schnitt kostet der Umbau einer Bushaltestelle 49’500 Franken», beziffert Osterwalder von der Stadt Kloten den Aufwand. Wobei es da natürlich grösse-re Unterschiede je nach Standort gibt. Günstige und einfache Anpassungen seien für 37’000 Franken zu machen, aufwendigere und teurere – wie etwa im Graswinkel – erfordern schonmal 130’000 Franken Budget.Rechnet man das anhand der42 fraglichen Haltestellen hoch und lässt die Synergienutzung ausser Acht, dann kommt man für Kloten auf fast 2,1 Millionen Franken.

Wegen Glattalbahn noch zuwarten

Weil man aber auf Synergiensetzt, hat man die Anpassung von acht Haltekanten entlang derkünftigen Linie der verlängerten Glattalbahn bis zu deren Bau ab 2026 zurückgestellt. Da nochlänger zuzuwarten, wird als verhältnismässig betrachtet. Ebenfalls noch eine ganze Weile länger dauert es voraussichtlich, bis die Buskanten am Bahnhof Kloten für Rollstühle, Rollatorenund Kinderwagen problem los zu bewältigen sind. Dort steht ein grösserer Umbau des ganzen Bahnhofs an. Fristgerecht bisEnde 2023 umgebaut sein, sollen zehn weitere Kanten – und zwar im Rahmen von Strassensanierungen, was die Kosten für den höheren Randstein auf ein absolutes Minimum senkt.

Eine Analyse der Stadt zeigt den Verantwortlichen auf, dass sie zudem ausserhalb von solchen Sanierungsmassnahmen noch 18 Haltekanten anpassen müssen. Ärgerlich ist der Fakt, dass man teils schon früher auf höhere Randsteine (16 cm) gesetzt hatte, die nun doch nicht genügend hoch sind, um die geforderte Norm (22 cm) zu erfüllen.

Ernüchternd für Behindertenorganisationen

Dass es Probleme gibt bei der Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes haben Direktbetroffene schon lange feststellen müssen. Der Dachverband der Behindertenorganisationen in der Schweiz – Inclusion Handicap – hält auf seiner Website zwar fest, dass das betreffende Gesetz im öffentlichen Verkehr bereits «eine beachtliche Wirkung» entfaltethabe. Dennoch könne man nicht wirklich zufrieden sein.

Trotz der langen Fristen sei aber schon jetzt klar, dass dievorgeschriebenen Anpassungen auf Bahnhöfen und an allerleiÖV-Haltestellen bis Ende 2023 nicht gelingen werde. «Insbesondere bei den Bushaltestellenherrscht grosser Handlungsbedarf», schreibt die Dachorganisation. Nach mehr als 15 Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes seien erst rund 10 Prozent aller Bushaltestellen umgebaut gewesen, schätzt Inclusion Handicap.

Bei den Bahnhöfen sehe es etwas besser aus. Allerdings gebe es auch da massive Verzögerungen bei der Umsetzung. DerDachverband geht davon aus, dass 323 Bahnhöfe erst nach2023 angepasst werden. Dahererstaunt es nicht, dass die Organisation zum Schluss kommt: «Transportunternehmen sowie die Behörden auf Gemeinde-,Kantons- und Bundesebene haben zu lange geschlafen.» Ein Problem sei, dass die Verkehrsunternehmen und die Kantone die Umsetzung der längst überfälligen Anpassungen zu wenig koordiniert in Angriff genommen hätten.

Über Inclusion Handicap

In der Schweiz leben gemäss Inclusion Handicap rund 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Als Dachverband der Behindertenorganisationen in der Schweiz engagiert sich Inclusion Handicap für eine inklusive Gesellschaft, die diesen Menschen eine vollumfängliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben garantiert. Als vereinte Stimme vertritt Inclusion Handicap die gemeinsamen Interessen von 22 Organisationen (Schweizer Paraplegiker-Vereinigung, Vereinigung Cerebral Schweiz, Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband, Pro Infirmis, Fragile Suisse usw.) und deren Mitgliedern gegenüber den Behörden, der Politik und der Wirtschaft. Als Dachverband koordiniert man die Zusammenarbeit mit zentralen Akteuren auf nationaler, interkantonaler und internationaler Ebene.(red)

Hier sind Beeinträchtigte voll dabei

(Luzerner Zeitung)

Trainerinnen und Trainer lernten an einem Kurs in Luzern, wie Menschen mit Handicap integriert und gefördert werden können.

Peter Birre


Fussball ist offen für alle Menschen: Auf der Luzerner Allmend fand der praktische Teil des Jugend+Sport-Kurses statt. Bild: Manuela Jans-Koch (29. Oktober 2021)

 

Die einen trainieren Torschüsse, andere feilen mit Geschicklichkeitsübungen an ihrer Technik, und in einer Hälfte des Kunstrasens läuft ein Mätschli. Reger Betrieb herrscht auf der Luzerner Allmend, die Fussballer, die bei prächtigem Herbstwetter trainieren, sind mit Eifer bei der Sache. Und mit Emotionen. Sie reissen die Arme hoch, wenn ein Treffer fällt; sie klatschen mit ihren Kollegen ab; sie strahlen, weil ihnen das abwechslungsreiche Programm Spass macht.

Jugendliche, die kicken, Trainer, die Anweisungen geben – ein gewohntes Bild, eigentlich. Und doch ist in diesem Fall etwas anders. Die Zusammensetzung der Gruppen ist nicht alltäglich. Junge Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung spielen zusammen
mit Leuten ohne Einschränkung. Das Zauberwort der Veranstaltung: Inklusion (Integration).

Ein Schwerpunkt im sportpolitischen Konzept

«Fussball funktioniert immer», sagt Markus Kälin am Spielfeldrand und stellt erfreut fest, dass vermeintliche Hürden nicht existieren. Und wenn es doch welche gibt, werden sie mit Leichtigkeit überwunden. Kälin, ehemaliger NLA-Goalie beim SC Kriens, ist seit 13 Jahren Leiter der Sportförderung des Kantons Luzern – und an diesem Freitag aufmerksamer Beobachter eines besonderen Kurses, der in Luzern durchgeführt wird. An zwei Tagen wird 25 Trainerinnen und Trainern vermittelt, was Inklusion im Teamsport heisst, was es auch für sie in leitender Funktion bedeutet, wie eine Einheit so gestaltet wird, dass sie auf die Fähigkeiten beeinträchtigter Menschen zugeschnitten ist. «Football is more», eine Stiftung aus Liechtenstein, wurde mit der Idee, einen Pilotkurs durchzuführen, bei Kälin vorstellig. Er nahm den Steilpass auf. « Inklusion hat für uns einen hohen Stellenwert», sagt er und verweist auf das sportpolitische Konzept, das 2017 verabschiedet worden ist: «Darin ist das Thema Inklusion ein Schwerpunkt.» Überzeugungsarbeit brauchte die Stiftung darum keine zu leisten: Die Verantwortlichen der Sportförderung waren auf Anhieb begeistert von der Initiative und engagierten sich bei der Organisation
des Events auf der Allmend.

Kälin ist es ein tiefes Bedürfnis, in einem ersten Schritt kantonal Strukturen zu schaffen, um Benachteiligten die Möglichkeit zu bieten, Teil des «normalen» Sportbetriebs zu sein. Der Anfang besteht darin, Trainerinnen und Trainer auszubilden, sie zu sensibilisieren, wie sie die Herausforderung meistern können. In einem nächsten Schritt folgt die praktische Umsetzung. Kälin stellt die Frage: «Warum soll nicht ein Zwölfjähriger mit Downsyndrom Teil einer Mannschaft werden, die am normalen Spielbetrieb teilnimmt?» Eines betont er: «Wir reden nur vom Breitensport, nicht vom Spitzenfussball bei den Juniorinnen und Junioren.» Er ist überzeugt, dass die anderen Kantone der Zentralschweiz nachziehen und sich mit Fragen rund um die Inklu-sion im Sport ebenfalls auseinandersetzen. Inklusion, glaubt Kälin, sei in vielen Vereinen ein Thema und die Bereitschaft vorhanden, Menschen aufzunehmen, die ein Handicap haben. Dem Leiter der Sportförderung ist es darum ein Bedürfnis, Hilfestellung zu leisten. Mit eben solchen Trainerausbildungen wie am Freitag und Samstag. Mit Informationsanlässen, um aufzuklären und darzulegen, dass in «gemischten Mannschaften» eben auch Menschen ohne Beeinträchtigung Dinge
lernen, die das Verständnis fördern und ihnen in ihrem Alltag behilflich sind.

Bekannte Gesichter als Trainingsbeobachter

Kälin unterlässt es, von einem Projekt zu sprechen. Lieberspricht er von einem «Auftrag», dem keine zeitlichen Limite gesetzt sind. Um das, was in Luzern nun erstmals stattgefunden hat, fortzuführen und auszubauen, werden mehr Mittel benötigt. Vereine unterstützen, Trainerinnen und Trainer schulen, personelle Ressourcen der Sportförderung zur Verfügung stellen – all das kostet. «Und es ist nicht etwas, das wir einfach aus einer Laune heraus lancieren, sondern weil der Bedarf da ist», sagt er. Zurück auf der Allmend, zurück im praktischen Teil des Jugend+Sport-Kurses, dem bekannte Gesichter beiwohnen. Laurent Prince schaut zu, als Direktor der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung begleitet ihn das Thema Inklusion in seinem beruflichen Alltag. Urs Dickerhof ist da, der Präsident des Innerschweizerischen Fussballverbandes, Patrick Bruggmann ebenfalls, der Technische Direktor des Schweizerischen Fussballverbandes und Nachfolger von Prince. Und auch FCL-Präsident Stefan Wolf lässt es sich nicht nehmen, sich selber einen Eindruck zu verschaffen. «Der
FC Luzern ist offen für alle Menschen», sagt er, «mit der Thematik Inklusion werden wir uns ganz bestimmt beschäftigen.»

«Es ist nicht etwas, das wir einfach aus einer Laune heraus lancieren, sondern weil der Bedarf da ist.»


Markus Kälin Leiter Sportförderung des Kantons Luzer

 

Spitalschulen: Kantone knausern

(NZZ amSonntag)

Eine neue Regelung verletze Recht auf Bildung, kritisieren Vertreter behinderter Kinder

Rene Donze

«Wo ist meine Lehrerin?» Der neun jährige Marc* ist tags zuvor sechs Stunden am Schädel operiert worden und liegt noch auf der Intensivstation. Seine Augen sind zu, seine Hände dick bandagiert. Dennoch will er unbedingt seine Mathematiklektion haben. Zeigen, wie gut er schon im Zahlenraum bis 1000 rechnen kann. So erzählt es sein Vater. Marckennt den Spitalbetrieb von klein auf. Wegen seiner Behinderung muss er sich immer wieder Operationen unterziehen oder zur Überwachung für ein paar Tage einrücken. Die Spitalschule gehört zu seinem Leben.

Rund 30 Spitalschulen gibt es in der Schweiz. Sie sollen sicherstellen, dass junge Patientinnen und Patienten trotz Unfall, Krankheit oder Operation den Anschluss in der Schule nicht verlieren. Die Sache hat aber einen Haken: Sie hat ihren Preis -zumal es sehr oft Einzelunterricht ist, der speziell auf das Kind abgestimmt werden muss. Ein Spitalschultag am Kinderspital Zürich etwa kostet 300 Franken.

Die Verrechnung dieser Leistungen führt immer wieder zuKonflikten – vor allem wenn essich um Kinder handelt, die ausserhalb des Kantons Zürich wohnen. Bezahlen sollte eigentlich deren Wohngemeinde oder -kanton. «Ich bin ständig am Verhandeln mit Behörden», sagt Barbara Trechslin, die Leiterin der Kinderspital-Schule. Eine anderePerson, die sich im Dossier gut auskennt, spricht von einemDschungel der Zuständigkeiten und Bestimmungen.

Das soll sich ändern. Jüngsthaben die Kantone unter Federführung der Erziehungsdirek-torenkonferenz eine Vereinbarung erarbeitet, welche die Abgeltung untereinander regelt. Sie befindet sich derzeit in der Vernehmlassung. Und sie wird nunheftig kritisiert: «Damit wird das Recht der Kinder auf Bildung verletzt», sagt Alex Fischer, Leiter Sozialpolitik beim Behindertenverband Procap Schweiz.

Rückstände befürchtet

Der Kern der Kritik: Der Unterricht der Kinder im Spital soll erst ab dem achten Tag finanziertwerden. Damit würden Kindermit chronischen Krankheitenoder Behinderungen benachteiligt, die regelmässig für kürzere Zeit ins Spital müssen, sagtFischer. Es gebe keinen Grund, die Spitalschule nicht ab demersten Tag zu bezahlen.

Marc zum Beispiel muss in den nächsten 14 Monaten mehrereOperationen und Überwachungen erdulden – keine davon dauert viel länger als sieben Tage. Insgesamt würde er rund einen Monat Schule verpassen.

Auch Schulleiterin Barbara Trechslin stört sich an der Karenzfrist von sieben Tagen:«Ob und wann eine Beschulung sinnvoll ist, müssen medizinische und pädagogische Fachleute beurteilen», sagt sie. Das dürfe nicht von der Finanzierung abhängig sein. Bei gewissen Verletzungen sei es sogar essenziell, möglichst schnell wieder mit Unterrichten zu beginnen, damit keine kognitiven Rückstände entstünden.

Wie wichtig dies auch für die spätere berufliche Entwicklung chronisch kranker Kinder ist, betont Christine Walser, Schweizer Vertreterin der europäischen Vereinigung der Spitallehrpersonen: Oft können siespäter keine schweren körperlichen Arbeiten ausüben, umso wichtiger sind die intellektuellen Fähigkeiten. «Erhalten diese Kinder keine ziel-führende schulische Unterstüt-zung, ist denkbar, dass sie später schneller IV-Rente und Sozialleistungen beziehen müssen.»

Die Karenzfrist ist nur ein Kritikpunkt. Für Ärger sorgt auch die Bestimmung, dass der Unterricht während der Ferienzeit am Standort des Spitals nicht finanziertwird. Dies, obwohl viele Spitalschulen durchgehend geführtwerden. So könnte etwa ein Berner Kind, das in Zürich operiertwird, wegen versetzter Feriensehr lange schulfrei haben.

Keine Zahlen vorhanden

Die Erziehungsdirektorenkonferenz will sich zu dieser Kritikwegen der laufenden Anhörung nicht äussern. Sie verweist jedoch darauf, dass die Vereinbarungnicht das Angebot regle – dafürseien die Kantone zuständig -sondern dessen Finanzierung bei ausserkantonalen Spitalaufent-halten. Grundsätzlich könntendie Kinder schon vor Ablauf der Karenzfrist beschult werden, nur würden dann die interkantonalen Beiträge nicht fliessen. Und die Karenzfrist entfalle, wenn derAufenthalt voraussichtlich mehr als 14 Tage daure.

Wie viele Kinder und Jugendliche von der Vereinbarung überhaupt betroffen wären, ist nichtbekannt. Entsprechende Erhe-bungen hat die Konferenz nicht durchgeführt. Das KinderspitalZürich, das wohl eine der grössten Spitalschulen führt, zählt pro Jahr rund 700 Schülerinnen und Schüler mit insgesamt rund 3800 Betreuungstagen. Davon entfalen rund 850 Tage auf schul-pflichtige Kinder aus anderenKantonen. Es ist also rund eineViertelmillion Franken pro Jahr, die das Kinderspital diesen verrechnen dürfte.

Sollte die Vereinbarung zu-stande kommen, wird allerdings noch lange nicht alles automa-tisch vergütet. Jeder Kanton kann wählen, ob er dem Konkordat beitreten will und mit welchen Spitälern er die Vereinbarung ein gehen will. Auch das führe zu Ungerechtigkeiten, kritisiert Procap. Wenn die Kantone an dieser Â-la- carte-Lösung festhielten und an der Karenzfrist von sieben Tagen, müsste der Bund eingreifen, sagt Fischer. «Oder es wird im Einzelfall zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen.»

Marc übrigens erhielt noch am gleichen Tag Besuch von der Spitallehrerin. Und er war stolz auf die vielen richtigen Resultate.Auch wenn er sie nur aufsagen und noch nicht schreiben konnte.
Marc muss viele Operationen erdulden – erwürde einen Monat Schule verpassen.


Kinderspital Zürich: Hier werden jährlich rund 700 Schüler unterrichtet. (21. Januar 2019)

 

«Meine Hände sind meine zehn Augen»

(Berner Zeitung / Ausgabe Burgdorf+Emmental)

Gesetz für Menschen mit BehinderungenDamit Urs Schwarz seinen Alltag meistern kann, wird er von Assistenten unterstützt.Dafür erhält der blinde Korbflechter aus Aeschau direkt vom Kanton Geld. Er ist einer von noch wenigen.


Urs Schwarz entscheidet selbst, wann er mit der Arbeit beginnt. In der Werkstatt unterstützt ihn sein Assistent Ernst Lehmann (r.). Foto Adrian Moser

 

Nina-Lou Frey

Gemeinsam mit einem seiner Assistenten überprüft Urs Schwarz einen Korb, den ein Kundefür Reparaturen vorbeibrachte. «Wenn mir jemand seinen Gegenstand übergibt, habe ich keine Ahnung, welche Farbe dessen Weiden haben», so der gelernte Korbflechter EFZ aus Aeschau.«Meine Hände sind meinezehn Augen.» Aber es gebe gewisse Dinge, die er damit nicht sehen könne. Dann unterstützt ihn der ehemalige LandwirtErnst Lehmann, der seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Nun istLehmann als Assistent beimKorbflechter tätig. «Die Arbeit mit dem Leim und dem Heissluftföhn überlasse ich ihm», so Schwarz. Er wolle sich nicht die Finger verbrennen.

Will nicht in Heim wohnen

Schwarz, 54 Jahre alt, erblindete als Kind. Zudem hat er seit Geburt eine schwere Gehbehinderung. Trotzdem bestimmt Schwarzselbst, wann er mit der Arbeit in der Werkstatt beginnt und wann er Mittagspause macht. «Für mich wäre es nichts, in einem Heim zu wohnen.» Dort werden die Tages-strukturen vorgegeben. Vor über 30 Jahren machtesich Schwarz als Korbflechter selbstständig. «Ich möchte entscheiden, wie ich lebe.» Dies ist dank eines Unterstützungsmodells möglich. Seitdem Schwarz am Pilotprojekt Berner Modell teilnimmt, habe sich seine Situation stark verändert.

Die Rolle des Bittstellers

Neun Assistenzpersonen konnte Urs Schwarz im Stundenlohn anstellen. Der Stundenlohn variiert je nach Qualifikation zwischen 25 und 34 Franken. Die Angestellten fahren ihn beispielsweise zu Märkten, an denen er seine Produkte verkauft. Vorher habe er Bekannte und Familien-angehörige immer darum bitten müssen. Jegliche Unterstützung, die er im Alltag erhalten habe, sei auf freiwilliger Basis gewesen.

«Es war schwierig und unangenehm, schon für kleine Aufgaben die Rolle des Bittstellers einnehmen zu müssen.» Er kenne viele Menschen mit einer Beeinträchtigung, die diese Rolle nicht mehr innehaben wollen. Doch im Pilotprojekt werden keine weiteren Leute aufgenommen.

Er erhalte, sagt Schwarz, etwas über 1100 Franken von der Invalidenversicherung als sogenannten Assistenzbeitrag. Dazu kommen 1000 Franken, die dank des Berner Modells auf sein Konto überwiesen werden. «Ohne den zusätzlichen Batzen könnte ich nicht genügend Assistenten und Assistentinnen anstellen.»

Was für Urs Schwarz dankdes Pilotprojekts bereits heute Alltag ist, soll im Gesetz verankert werden. Dieses stellt einen Systemwechsel dar – wenn das Gesetz dann in Kraft tritt. Vor einigen Jahren wurde dieEinführung per 2018 angekündigt. Nun soll es ab 1. Januar 2024 gelten.

Keine Person mit Behinderung bestimmt über das neue Gesetz mit. Im Berner Grossrat sitzt niemand mit Beeinträchtigung. Daran stört sich der Korbflechter Schwarz. Er rechnet vor: Ungefähr jede fünfte Person lebt mit einer Beeinträchtigung. Auch das Bundesamt für Statistik (BFS) gibt diese Zahl der Behinderten in der Schweiz mit etwa 1,8 Millionen an, also gut einem Fünftel der Bevölkerung.

Nicht angemessen vertreten

Gemäss dem Gleichstellungs – gesetz bezeichnet das BFS Personen als Menschen mit Behin-derungen, die «ein langwieriges Gesundheitsproblem haben und bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens (stark oder teilweise) eingeschränkt sind».

«Ohne den zusätzlichen Batzen könnte ich nicht genügend Assistenten und Assistentinnen anstellen.»
Urs Schwarz Korbflechte

Schwarz sagt: «Von 160 Mitgliedern des Grossen Rats müssten 32 behindert sein, damit wir angemessen vertreten wären.»Im Nationalrat ist Christian Lohr aus dem Thurgau der einzige Politiker mit einer Behinderung. Kann sich Schwarz vorstellen, im Berner Rathaus zu sitzen? «Ja,mit der nötigen Assistenz.»

Das Berner Modell

Seit fünf Jahren zahlt der Kanton Unterstützungsbeiträge an die Teilnehmenden des Pilotprojekts «Berner Modell» – auch an ungefähr jene 200 Personen, die zu Hause wohnen. Die weiteren 400 Projektteilnehmenden leben in Institutionen. Sie können selbst bestimmen, ob sie in den eigenen vier Wänden mithilfe von Angehörigen oder Assistenzpersonen leben wollen. Wer nicht am Pilotprojekt teilnimmt und zu Hause lebt, erhält keine zusätzliche Unterstützung des Kantons. Die Care-Arbeit aus dem Familienkreis wird durch den Kanton nicht entschädigt. Das «Berner Modell» ist das Pilotprojekt für das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen. (lou)

Gesetz weiter hinausgeschoben Menschen mit einer Behinderung sollen im Kanton Bern künftig die Wahl haben, in welchem Setting sie betreut werden wollen. Seit über zehn Jahren versuchen die Behörden diesen Systemwechsel rechtlich zu verankern, und zwar im neuen Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG).

Neu soll der Kanton nicht mehr die Institutionen finanzieren, sondern – wie im Pilotmodell – direkt die Menschen mit Behinderung vergüten, und zwar je nach persönlichem Betreuungs- und Pflegebedarf. Dies hat insbesondere für Menschen, die zu Hause wohnen und häufig von Familien- angehörigen oder Partnerinnen oder Partnern betreut werden, eine grosse Änderung zur Folge. Sie konnten bisher keinen Anspruch auf den sogenannten Assistenzbeitrag erheben.

Die zuständige Berner Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion teilte im Herbst mit, dass die Einführung des Gesetzes erneut, um ein weiteres Jahr, aufgeschoben wird. Begründet wird der Entscheid mit den Grossratswahlen, die 2022 stattfinden. Infolge der Wahlen könne es zu Neubesetzungen in der zuständigen Kommission kommen, was die Beratung des neuen Gesetzes erschweren würde, heisst es in der Mitteilung.

«Wir sind sehr enttäuscht, dass es noch einmal länger dauert», sagt Rolf Birchler, Geschäftsführer des Heimverbands Socialbern. Leidtragende seien die Menschen mit Behinderungen. Dass nächsten Frühling Wahlen stattfinden, wisse man schon lange. Die Begründung seitens der Behörden zeige, dass die Projektplanung nicht vorausschauend erfolgt sei. Birchler räumt aber ein, dass etliche Kernelemente, wie die Bedarfsermittlung, die Leistungsfinanzierung oder die Steuerung, nach wie vor ungenügend geklät seien und es dafür Zeit brauche. Unklar sei beispielsweise, wie viel Geld letztlich aus der Bedarfsermittlung für die Betroffenen gesprochen werden. «Es ist wichtig, dass die Unterstützungsleistungen auch in angemessener Qualität erbracht werden können.» Fachlich qualifizierte Arbeiten müssten durch entsprechend qualifiziertes Fachpersonal geleistet werden können.

Auch die Kantonale Behindertenkonferenz (KBK) kritisiert, dass die Einführung der Subjektfinanzierung weiter hinausgeschoben wird. Die KBK ist die Dachorganisation von rund 40 Organisationen aus dem Behindertenbereich. Laut der Geschäftsleiterin Yvonne Brütsch sei unter anderem die Frage nach einer Obergrenze der Leistungen nicht geklärt. «Wenn eine absolute Obergrenze festgelegt würde, hätten insbesondere Menschen mit einem hohen Betreuungsbedarf vielleicht doch nicht die Wahlfreiheit, zu Hause zu leben», bedenkt Brütsch. (lou)

Tag der betreuenden Angehörigen: Noch sind nicht alle Fragen geklärt

(aargauerzeitung.ch)

Ein klar definierter juristischer Status soll Menschen, die kranke oder pflegebedürftige Angehörige betreuen, rechtlich absichern. Noch immer drohen ihnen Nachteile, etwa bei den Sozialversicherungen.


Wer seine kranken Eltern pflegt, gefährdet damit unter Umständen die eigene Altersvorsorge. (Symbolbild)Keystone

 

Fast 900’000 Arbeitnehmende unterstützen in der Schweiz in ihrer Freizeit unentgeltlich Angehörige, die krank oder pflegebedürftig sind. Dies seien 16,8 Prozent der Erwerbstätigen, schreibt die Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung (Igab) in einer Mitteilung zum interkantonalen Tag der pflegenden Angehörigen vom Samstag. Ihre Situation müsse verbessert werden. Denn: «Nur ein Drittel erhält vom Arbeitgeber Unterstützung.»

Der IGAB gehören der Gewerkschaftsverband Travail Suisse, das Schweizerische Rote Kreuz, Pro Infirmis, Pro Senectute und die Krebsliga an. Letztere weist in einer eigenen Mitteilung auf Fragen hin, die auch mit dem mittlerweile in Kraft getretenen Gesetz zur Verbesserung von Erwerbsarbeit und Angehörigenbetreuung nicht gelöst worden seien.

So gebe es nach wie vor keinen Anspruch auf Langzeiturlaub für Personen, die Erwachsene betreuen. Ausserdem werde die unentgeltliche Pflegearbeit von den Sozialversicherungen nicht anerkannt. Wer viel Zeit aufwendet, um Angehörige zu betreuen, tut dies unter Umständen auf Kosten der eigenen Altersvorsorge.
Wer Angehörige pflegt, soll Anspruch auf Sozialleistungen erhalten

Die IGAB fordert einen klar definierten juristischen Status für betreuende Angehörige. Dieser soll Anspruch auf Entlastungsangebote und Sozialleistungen geben. Eine entsprechende Resolution zuhanden des Bundesrates hatte die IGAB im Sommer verabschiedet.

Sucht Schweiz macht zum Tag auf Unterstützungsangebote für Angehörige von Suchtkranken aufmerksam. Auf der Website www.nahestende-und-sucht.ch gibt es anleitende Videos. Weiter wird auf Suchtberatungsstellen, Selbsthilfegruppen für Nahestehende und eine telefonische Kurzberatung für Betroffene aufmerksam gemacht. (wap)

20 Millionen Franken für eine hindernisfreie Fahrt im Bus

(Tessiner Zeitung)

Der Kanton will 18 Milion Franken investieren und die Ermächtigung zu einer Ausgabe von 20 Millionen Franken für behindertengerechte öV-Haltestellen gemäss dem Bundesgesetz über die Beseitigung vo Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen erteilen. Die beiden unterschiedlichen Zahlen rühren daher, dass 2 Millionen Franken zulasen der Gemeinden fallen. Mit diesem zusätzlichen Kredit sollen bis2024 weitere 108 Haltestellen saniert werden, damit wären dann also 400 Haltestellen im Tessin behindertengerecht umgebaut.

Die Bushaltestellen müssen laut Bundesgesetz bis zum 1. Januar 2024 Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen Rechnung tragen. DieLösung besteht in der Regel im Bau von 22 Zentimeter hohen Plattformen, die in Verbindung mit der seitlichen Neigung der Fahrzeuge einen ebenen Zugang ermöglichen. Die Sanierungsarbeiten werden wo möglich im Rahmen von Strassenbauprojekten, die bereits geplant waren, ausgeführt. Begonnen wurde mit den Anpassungen bereits im Jahr 2017. Da es im Tessin mehr als 1’500 Bushaltestellen gibt, wird es nicht möglich sein, alle Haltestellen zu renovieren, da dies mit Blick auf die Kosten und das Engagement nicht tragbar wäre, schreibt der Kanton in einer Medienmitteilung. Aus diesem Grund wurde eine Bewertung der Verhältnismässigkeit der Modernisierungsarbeiten, die auf nationalerEbene von Behindertenorganisationen anerkannt wird, durchgeführt. Dabei wurden ebendiese 108 vorrangig zu sanierende Haltestellen ermittelt. mk


22cm machen den Unterschied

 

Weniger Covid-Fälle bei der IV als befürchtet

(SonntagsZeitung)

Bis jetzt meldeten sich 1364 Menschen wegen Long Covid bei der Invalidenversicherung. Die monatlichen Neuanmeldungen sind bereits wieder rückläufig.


Zehntausende Menschen leiden in der Schweiz an Lona Covid -eine IV-Rente beantragt haben aber bisher aber nur wend Foto:Alessandro Crinari / Keystone

 

«Für Familien ist die Situation unhaltbar»

(St. GallerTagblatt / St. Gallen-Gossau-Rorschach)

Weder in den beiden Kantonen Appenzell noch im Thurgau finden Kinder mit Beeinträchtigungen spezielle Betreuungsangebote.

Janina Gehrig und Hans Suter

6750 Kinder im Alter von 0 bis 4 Jahren leben in der Schweiz mit einer leichten Behinderung, 2250 mit einer schweren. Für diese einen Kitaplatz zu finden, gestaltet sich alles andere als leicht. In vielen Kantonen fehlen entsprechende Angebote, was dazu führt, dass die Eltern die Kinder häufig selber betreuen müssen. Sie sind oft von Langzeitarbeitsloskigkeit und Altersarmut betroffen (Tagblatt vom 21. Oktober).

In der Ostschweiz gestaltet sich die Situation sehr uneinheitlich. Während in beiden Kantonen Appenzell keine offiziellen Angebote bestehen, gibt es im Kanton St. Gallen – wie etwa auch in Luzern, Uri, Nidwalden – das Kitaplus-Projekt, das die Betreuung von Kindern mit leichten Behinderungen in regulären Kindertagesstätten ermöglichen soll. Derzeit werden in St. Gallen rund 40 Kinder in einer Kitaplus-Tagesstätte betreut. Das Projekt wurde von den kantonalen Behörden, Pro InfirmisSt. Gallen-Appenzell und den entsprechenden Fachstellen lanciert.

Das Problem: «Es ist ein Flickenteppich. Die Gemeinden sind zuständig, und je nachdem, wo man wohnt, trifft man bezüglich Finanzierung der behinderungsbedingten Mehrkosten eine andere Situation an», sagt Alex Fischer, Leiter Sozialpolitik von Procap Schweiz, dem Verband für Menschen mit Behinderung. Ein weiteres Problem: Es besteht kein einheitliches Finanzierungssystem für die behinderungsbedingten Mehrkosten. Und das Kitaplus-System funktioniert nicht für jene 25 Prozent der Kinder, die von schwereren Behinderungen betroffen sind.

Schweizweit würden rund 80 spezialisierte Kitas benötigt werden, wo jene zusammen mit gesunden Kindern betreut werden. Nur eine davon gibt es im Kanton St.Gallen, nämlich die Kindertagesstätte Peter Pan von der Stiftung Kronbühl in Wittenbach.

Doppelt so teuer wieein regulärer Kitaplatz

Rund 30 Kinder werden dort betreut, die Hälfte von ihnen hat Beeinträchtigungen, etwa körperlich schwerere Einschränkungen, braucht Medikamente oder leidet unter Autismusspektrumstörungen und würde vom Verhalten her in regulären Kitas den Rahmen sprengen, sagt Marcel Koch, Gesamtleiter der Stiftung Kronbühl. Da die Kinder teils eins zu eins von Betreuungs- und auch von Pflegefachpersonen betreut werden müssen, kostet ein Kitaplatz doppelt so viel wie ein regulärer. Die Mehrkosten sollen jedoch nicht auf die Eltern abgewälzt werden. Auch wenn der Kanton eins bis zwei weitere Angebote dieser Art gebrauchen könne, sagtKoch: «Das Hauptproblem ist nicht die Warteliste, sondern die Frage der Finanzierung. Bisher hat der Kanton nicht genug getan.» So belaufen sich die Kosten für die Kinderbetreuung auf rund 400 000 Franken jährlich. Die 20 000 Franken, die der Kanton bezahle, seien ein Tropfen auf den heissen Stein. Das Defizit von 100 000 Franken müsse von der Stiftung Kronbühl und weiteren privatenSpenden getragen werden.

Auch Alex Fischer sagt: «Peter Pan deckt nicht den kantonsweiten Bedarf, und auch für schwerer beeinträchtigte Kinder fehlt ein kantonal einheitliches Finanzierungssystem.»

Weitere Kita in Rapperswil geplant

Beim Kanton ist das Problem erkannt worden. «Es ist stossend, dass es zu wenig Plätze gibt für Kinder mit Behinderungen. Für Familien, die berufstätig sein wollen, ist die Situation unhaltbar», sagt Sozialdirektorin Laura Bucher.

Man habe Vorabklärungen getroffen um das «Gesetz über die soziale Sicherung und Integration von Menschen mit Behinderung» zu ändern. Angedacht sei, in einem Teilprojekt die Finanzierung von behinderungsbedingten Mehraufwänden in der Kinderbetreuung von 0 bis 4 Jahren anzuschauen und Optimierungspotenzial zu eruieren.

Auch laut Fischer ist Besserung in Sicht. So hat die Stiftung Balm in Rapperswil das strategische Ziel, eine weitere Kita für Kinder mit schwereren Behinderungen auf die Beine zu stellen. Es stellten sich jedoch noch viele Fragen zur Umsetzung, insbesondere sei die Finanzierungsfrage noch nicht geklärt.

Keine spezifischen Angebote im Thurgau

Weit weniger weit ist man im Kanton Thurgau. Dort gibt es laut Procap keine spezifischen Betreuungsangebote für Kinder mit leichten oder schwereren Behinderungen im Vorschulalter. Zudem existiert kein einheitliches kantonales Konzept, wie solche Kinder in familienexterne Betreuungsangebote integriert werden könnten. Ebenso wenig gibt es ein einheitliches System zur Übernahme der behinderungsbedingten Mehrkosten.

Christian Schuppisser, Leiter der Pflegekinder- und Heimaufsicht des Kantons Thurgau, bestätigt diesen Sachverhalt, wenngleich es einige Angebote privater Anbieter wie der Pro Infirmis Schaffhausen-Thurgau gebe. Fragt sich, warum das so ist. Im Thurgau ist die Antwort so simpel wie komplex. «Für die Bedarfserhebung und Förderung der Kinder im Vorschulalter sind die Gemeinden zuständig», sagt Schuppisser. Die Kitas im Thurgau sind daher meistens privat organisiert.

Zudem besteht für die 80 Thurgauer Gemeinden keine gesetzliche Verpflichtung, finanzielle Beiträge an die Kitas zu leisten, sie sind autonom. Bei Kindern mit schwereren Behinderungen ist laut Procap überdies davon auszugehen, dass die Voraussetzungen in einer regulären Kindertagesstätte und/ oder Tagesfamilie oft nicht gegeben sind, um eine sichere Betreuung zu gewährleisten. Wie viele Kitas Kinder mit Beeinträchtigung betreuen, ist unklar. Laut Christian Schuppisser werden die Kitas im Thurgau derzeit
dazu befragt.

Kinderspitex Ostschweiz würde Hand bieten

Wie aktuell ist diese Problem-stellung bei den Gemeindepräsidenten? «Im Verband Thurgauer Gemeinden ist das zurzeit kein Thema», bestätigt VTG- Präsident Kurt Baumann auf Anfrage.

Ein grosses Thema ist es hingegen für Thomas Engeli aus Horn. Als Vater eines behinderten Sohnes hat er vor mehr als 20 Jahren den Verein Kinderspitex Ostschweiz gegründet, um betroffenen Eltern mangels öffentlicher Angebote eine Entlastung an Abenden, Wochenenden oder für Ferien zu bieten. Er hält fest: «Der Bedarf ist da, die Betreuung aber anspruchsvoll. Anderseits fehlt der Impuls, dass jemand die Initiative ergreift, um die Situation für Eltern von Vorschulkindern mit Beeinträchtigung zu verbessern.» Thomas Engeli würde bei einem Vorstoss jederzeit Hand bieten: «Wir haben die Kernkompetenz, das Fachpersonal und den Willen.»


Kinder mit Beeinträchtigungen brauchen mehr Betreuung und Pflege – nur wenige Institutionen bieten das. Bild: Getty