Bundesrat soll IV-Praxis rasch ändern

(Tages-Anzeiger)

Experten fordern Korrektur Ausgerechnet Geringverdiener haben oft schlechte Chancen auf eine Invalidenrente.

Markus Brotschi

Wer gesundheitlich stark angeschlagen ist, kann seine angestammte Arbeit häufig nicht mehr ausüben. Trotzdem bekommen viele der Betroffenen keine Invalidenrente, weil die Invalidenversicherung (IV) eine umstrittene Berechnungsmethode anwendet. Für die IV entscheidend ist nämlich der Invaliditätsgrad, der für eine Rente mindestens 40 Prozent und für eine Umschulung mindestens 20 Prozent betragen muss.

Viele Arbeitnehmende mit gesundheitlichen Einschränkungen fallen unter diese Grenzen, weil zur Berechnung des IV-Grades das frühere Einkommen mit einem fiktiven Invalideneinkommen verglichen wird, das die Betroffenen laut IV trotz Behinderung erzielen könnten. Für das tiefste Kompetenzniveau geht die IV bei Männern von 5417 Franken Monatslohn aus, bei Frauen von 4371 Franken. Damit fällt für Gering- und Normalverdiener die errechnete Lohneinbusse gegenüber dem früheren Job zu gering aus, als dass sie eine Rente erhielten. Stossend an der Sache ist, dass das fiktive Einkommen auf dem realen Arbeitsmarkt insbesondere für einfache Hilfsarbeiten kaum bezahlt wird.

Die Berechnung des IV-Grads wurde bereits in mehreren Gutachten als fragwürdig taxiert. Sokommt Thomas Gächter, Professor an de Universität Zürich, in einer im Februar 2021 präsentierten Studie zum Schluss, die IV stütze sich auf «beinahe fiktive Lohnniveaus». Dabei handelt es sich um statistische Medianlöhne, die unter anderem deshalb so hoch sind, weil die Löhne der Baubranche enthalten sind, die für körperlich schwere Hilfsarbeiten relativ gut zahlt. Der Bundesrat liess sich aber bisher trotz breiter Kritik nicht zu einer Praxisänderung bewegen. Auf Anfragen im Nationalrat machte Sozialminister Alain Berset im Dezember klar, dass sich die zuständigen Bundesämter Zeit lassen bei der Evaluation der Berechnungspraxis. Erste Resultate würden erst 2025 vorliegen. Das stösst bei führenden Sozialversicherungsexperten und -expertinnen auf Unverständnis.

«Nicht nachvollziehbar»

14 Gelehrte, darunter etwa Thomas Gächter, Michael E. Meier, Ueli Kieser, Kurt Pärli und Anne-Sylvie Dupont, fordern den Bundesrat in einem Brief auf, die Überprüfung «zeitnaher» anzugehen. Eine Änderung der IV- Praxis sei dringend, und Lösungsvorschläge lägen vor. Einer stammt von einer Arbeitsgruppe der emeritierten Professorin Gabriela Riemer-Kafka. Sie entwickelte ein Matching-Tool, mit dem die statistischen Löhne so korrigiert werden können, dass sie dem Potenzial von Menschen mit körperlichen Behinderungen entsprechen.

Die Publikation von Riemer-Kafka liegt dem zuständigen Bundesamt für Sozialversicherungen vor. Doch Sozialminister Berset liess den Nationalrat im Dezember wissen, dass der Lösungsvorschlag von Riemer-Kafka nicht breit anwendbar sei, unter anderem weil er sich nicht auf Menschen mit psychischen Erkrankungen beziehe. Diese Einwände halten die Expertinnen und Experten für «nicht nachvollziehbar», wie sie im Brief festhalten. Das Matching- Tool von Riemer-Kafka lasse sich problemlos auf Menschen mit kognitiven und psychischen Einschränkungen anpassen.

Auch die Sozialkommission des Nationalrates hat im August 2021 einstimmig eine Praxisänderung gefordert. Und selbst die SVP kritisierte im April 2021 in der Konsultation zur Verordnung der IV-Reform, dass die IV Löhne verwende, die bei gesundheitlichen Einschränkungen 10 bis 15 Prozent zu hoch seien. Das Bundesgericht hielt bereits 2015 in einem Urteil fest, dass die IV- Praxis nur in einer Übergangszeit anwendbar sei, bis eine präzisere Methode vorliege.